27 Juni 2023

Nora Okja Keller: Trostfrau

Nora Okja Keller: Trostfrau 1997

Zu Inhalt und Aussage des Romans (pdf)

Anstoß und Anregung zum Werk

"The genesis of Comfort Woman dated to a 1993 human rights symposium at the University of Hawaii where Keller heard a presentation by Keum Ja Hwang, who had been a comfort woman.[4][5] "Her experience was so extraordinary," Keller has said, "I thought someone should write about it."[7] Keller’s novels explore her own complex ethnic identity in the context of Hawaii’s multi-ethnic society and her relationship with her mother (upon whom "some details"[7] of characters in her fiction are based)." (Nora Okja Keller - engl. Wikipedia)

Vor dem Roman schrieb Keller die Kurzgeschichte Mother-Tongue, die als 2. Kapitel in den Roman einging.

Im Roman wechseln sich als Erzählerin Akiko, die diesen Namen als Trostfrau bekam (und damit als Individuum 'starb'), und ihre Tochter (Re)Beccah ab. Von beiden wird immer wieder Induk genannt, die Frau, die mit ständigem lautstarken Protest sich dagegen wehrte Trostfrau zu werden, und die deshalb von den Japanern grausam ermordet wurde. Wegen dieser Leistung, sich gegen die Erniedrigung und den seelischen Tod zu wehren, wird sie von beiden als eine Urmutter und Göttin verehrt. 

In den Berichten von beiden spielen koreanische Vorstellungen über die Rolle von Geistern eine große Rolle. Akiko ist es möglich, im Trance Verbindung zu ihnen aufzunehmen, und Beccah fürchtet, dass sie ihre Mutter an die Geister verliert und betet zu Induk darum, das zu verhindern.

Akiko ist nach ihrer Befreiung von einem amerikanischen Missionar geheiratet und in die USA mitgenommen worden. Akiko und ihr Mann haben sich dann aber getrennt und Beccah ist in Hawai groß geworden. Das ermöglicht Nora Keller, ihre Erfahrungen aus der Sozialisation in Hawai mit einzubringen.

Zitate:

2. Kapitel: Akiko (Dieses Kapitel wurde zuerst als selbständige Kurzgeschichte - Mother-Tongue - veröffentlicht, bis man Keller dazu riet, zu dem Stoff einen Roman zu schreiben.)
"Das Baby, dass ich behalten konnte, kam, als ich schon tot war.
Ich war zwölf, als ich ermordet wurde, vierzehn, als ich in dem Yalu-Fluss schaute und 
– da ich kein Gesicht entdecken konnte, das zurückschaute – wusste, dass ich tot war. 
Ich wollte, dass der Yalu meinen Körper dorthin trug, wo er vielleicht meinen Geist wieder finden konnte, aber die japanischen Soldaten trieben mich über die Brücke, bevor ich springen konnte.

Ich ließ sie nicht zu nah an mich herankommen. Ich wusste, sie würden den Namen und die Nummer auf meiner Jacke sehen und mich zurück ins Lager schicken, wo man sich nichts dabei dachte, den Körper eines toten Mädchens zu benutzen. Sobald die Wachen einen Schritt auf mich zu taten, war ich so schlau, ihnen durch ein Winken zu signalisieren, dass sie auf ihrem Posten bleiben und nach anderen Koreanerinnen mit diesem 'gewissen Blick' in den Augen Ausschau halten konnten. Ehe die japanische Regierung die Soldaten – 'zum Wohl der Koreaner' – hier postiert hatte, war die Brücke über den Yalu eine beliebte Selbstmordstelle gewesen.
Mein Körper marschierte weiter.
Deshalb konnte mein Körper, zwanzig Jahre, nachdem er meinen Geist in dem Vergnügungslager zurückgelassen hatte, dieses Kind zur Welt bringen. Selbst die Ärzte hier sagen, dass es fast ein Wunder war. Der Lagerarzt sagte, ich würde nie ein lebendes Kind / gebären können, nachdem er mein erstes aus mir herausgeholt hatte. Mein Inneres sei viel zu zerschunden und kaputt, um je wieder richtig zu verheilen.
Daher ist diese Kleine eine Überraschung. Dieses halb weiße und halb koreanische Kind. In meinem Geburtsort würde man es Tweggi nennen, aber hier wird es eine Amerikanerin sein.
[...]" (S.25/26)
"Meine Mutter starb kurz nach meinem Vater. [...] Sie war immer eine gute Ehefrau; sie folgte ihm rasch in den Tod, so wie sie im Leben immer prompt für ihn da gewesen war. Eines Abends, nachdem wir die Wäsche heimgetragen hatten, sagte sie die ganze Zeit, sie sei so müde, so schrecklich müde. Komm, Mutter, sagte ich, leg dich hin. Ich fragte immer wieder: Was kann ich tun? Möchtest du Suppe? Soll ich dich massieren? Bis sie mir schließlich die Hand auf den Mundt legte und meine Finger an ihre Stirn führte. Ich streichelte sie sanft, löste ihren Haarknoten, massierte ihr die Schläfen, spürte die Hitze und das Pumpen ihres Herzens. Als das sprunghaft–wilde Pochen langsamer wurde und dann schließlich ganz aufhörte, streichelte ich sie immer noch weiter. Sie sollte wissen, dass ich sie liebte.
Jetzt berühre ich mein Kind auf dieselbe Weise; das ist die Sprache, die die Kleine versteht: das sanfte, kühle Streicheln meiner Finger auf ihren Augenlidern, ihrem glatten Bauch, ihren knubbeligen Zehen. [...]
[Da die Mädchen jetzt Waisen waren, versuchte die Älteste zu heiraten.]
Die Nachbarn hatten nicht viel Geld, aber sie hatten mehr als wir und wollten sie nicht ohne Mitgift nehmen. Wie sollten sie ohne Kapital Vieh kaufen, argumentierten sie.
Ich war ihre Mitgift, wurde verkauft wie eine Kuh. Du folgst einfach zweiter und dritter Schwester, erklärte sie mir. Die Japaner sagen, in der Stadt gibt es genug Arbeit für alle. Selbst Mädchen können lernen, in der Fabrik zu arbeiten oder in einem Restaurant zu servieren. Du wirst eine Menge Geld verdienen.
Trotzdem weinte ich. Sie umarmte mich, zwickte mich dann. Du musst jetzt erwachsen werden, sagte sie. Keine Mutter, kein Vater. Wir müssen alle unseren Lebensunterhalt verdienen. Sie sah mir nicht ins Gesicht, als die Soldaten kamen, schaute nicht hier, als sie mich auf ihren Lastwagen verfrachteten. Ich hörte, wie die Soldaten sie fragten, ob sie nicht auch mitkommen wollte. Deine Schwester ist noch so klein, kaum zu gebrauchen, sagten sie. Aber du. Du bist groß und hübsch. Du könntest es zu etwas bringen.
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, meine Schwester hat gelacht. Ich hoffe, sie hatte wenigstens ein Moment lang Angst, sie würden sie auch mitnehmen.
Ich bin schon verheiratet, sagte sie.
Ich denke mir, dass sie dabei die Achseln zuckte, als wollte sie sagen: was soll ich machen? Dann setzte sie hinzu: Meine Schwester wird mal noch hübscher als ich. Sie fragte nicht, wofür das am Fließband wichtig war.
Ich wusste, ich würde die Stadt nicht sehen. Wir hatten die Gerüchte gehört: dass Mädchen aus Dörfern in der Nähe der Stadt gekauft oder geraubt und in japanische Vergnügungseinrichtungen gebracht wurden. Aber wir wussten nicht, was in diesen Vergnügungseinrichtungen los war. schlimmstenfalls dachte ich, musste ich tun, was ich mein Leben lang getan hatte: putzen, kochen, Wäsche waschen, schwer arbeiten. Was konnte ich mir anderes vorstellen?
Und zuerst tat ich das auch. Weil ich noch so jung war, musste ich den Frauen in den Lagern dienen." (S.28-30)
"Ich sorgte gern für die Frauen. Als ihr Dienstmädchen konnte ich mich von Verschlag zu Verschlag und im Bedarfsfall sogar von einem Teil des Lagers zum anderen bewegen. Und wegen dieses Privilegs benutzten mich die Frauen, um Botschaften zu übermitteln. Ich sang, wenn ich Ihnen die Haare flocht und an ihren Vorschlägen vorbeiging, um nach den nach Töpfen zu sehen. Wenn ich bestimmte Liedpassagen summte, wussten sie diese ungesungenen Worte als Botschaft zu deuten. Auf diese Weise konnten wir uns auf dem laufenden halten, herausfinden, wer krank war, wer neu war, wer in der letzten Nacht die meisten Männer gehabt hatte und wer im Begriff war, verrückt zu werden.
Ich glaube bis heute nicht, dass Induk – die Frau, die vor mir die Akiko war – verrückt geworden ist. Die meisten anderen Frauen glaubten es, weil sie nicht mehr aufhörte zu reden. Eines Nachts redete sie los, laut und ununterbrochen. Auf Koreanisch und Japanisch beschimpfte sie die Soldaten, protestierte schreiend gegen die Invasion ihres Landes und ihres Körpers. Noch während sie sie bestiegen, schrie sie: Ich bin Korea, ich bin eine Frau, ich bin lebendig. Ich bin siebzehn, ich hatte eine Familie, genau wie ihr, ich bin eine Tochter, eine Schwester.
Die Männer verließen schleunigst ihren Vorschlag, manche weinten, andere stellten sich wütend in die Schlange nebenan. Sie redete die ganze Nacht, forderte ihren koreanischen Namen zurück, sagte ihren Familienstammbaum her, leierte sogar die Rezepte herunter, die ihre Mutter an sie weitergegeben hatte. Kurz vor Tagesanbruch schleppen Sie sie aus ihrem Verschlag in den Wald, wo wir sie nicht mehr hören konnten. sie brachten sie zurück, durch Scheide und Mund auf einen Fall gespießt wie ein Spanferkel. Eine Lektion, erklären Sie uns, damit wir den Mund hielten.
In jener Nacht war es, als ob tausend Frösche das Lager umringten. Sie öffneten ihre Kehlen für uns, schlucken unsere Tränen, klagten für uns. Die ganze Nacht, so schien es, riefen sie Induk, Induk, Induk, damit wir sie nie vergaßen.
Aber vielleicht habe ich mir das mit den Fröschen nur eingebildet. Das war meine erste Nacht als die neue Akiko. ich bekam ihre Kleider, die mir zu groß waren, und die Soldaten lachten. Die neue P wird sie sowieso so nicht viel tragen, hörten sie. Frisches Poji. Obwohl ich noch nicht einmal meine erste Blutung gehabt hatte, wurde ich meistbietend versteigert. Danach war es ein Gratisvergnügen für alle, und ich dachte, ich würde nie wieder aufhören zu bluten.
Deshalb weiß ich, dass Induk nicht verrückt geworden ist. Im Gegenteil, sie fand ihren klaren Verstand wieder. Sie plante ihre Flucht. Der Leichnam, den die Soldaten aus dem Wald zurückbrachten, war nicht Induk.
Das war Akiko; das war ich. [...]" (S.31-33)


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