05 Juni 2023

Michel Houllebecq: Elementarteilchen

 Michel Houllebecq: Elementarteilchen (Wikipedia)

Vorstellung und Besprechung im Literarischen Quartett Teil eins Teil zwei, ausnahmsweise hält Reich-Ranicki hier über große Strecken mehr zu Siegfried Löfflers Position als zu der von Hellmuth Karasek

Trailer zum Film

Vorstellung des Buchs durch den Verlag Dumont


Leseprobe:


























[...] Die meisten ihrer Veröffentlichungen beschäftigten sich mit ihm Gen DAF3 der Drosophila; sie war unverheiratet.
Er stand vor seinem Toyota und reichte der Forscherin mit einem Lächeln die Hand (seit mehreren Sekunden hatte er sich vorgenommen, diese Geste, begleitet von einem Lächeln, auszuführen, und sich innerlich darauf vorbereitet). Die Handflächen verschränkten sich und schüttelten sich leicht. Ein wenig zu spät sagte er sich, daß es diesem Händedruck an Wärme gefehlt habe; angesichts der Umstände hätten sie sich umarmen können, wie es Minister oder manche Schlagersänger taten.
Nachdem die Verabschiedung vollzogen war, blieb er noch fünf Minuten, die ihm lang vorkarmen, im Wagen sitzen. Warum fuhr die Frau nicht los? Onanierte sie, während sie Brahms hörte? Oder dachte sie etwa an ihre Karriere, an ihre neue Verantwortung, und falls ja, freute sie sich darüber? Schließlich verließ der Golf der Genetikerin den Parkplatz,; er war wieder allein. [...]" (S.14)

Inhalt:

"[...] Die beiden am Ende der 50er Jahre geborenen Halbbrüder Michel Djerzinski und Bruno Clément sind beide Söhne von Janine [Jane], die ihr Leben mit Sexabenteuern und Selbstfindungssuchen verbringt, jedoch unfähig ist, eine emotionale Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Beide werden getrennt von Großmüttern aufgezogen. Bruno, der Lehrer wird, entwickelt eine lebenslange Sexbesessenheit, hat aber beim anderen Geschlecht kaum Glück. Der depressiv wirkende Michel, der ein bekannter Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie wird, zeigt dagegen zeitlebens eher wenig Interesse an Sex und Frauen. Die Zeit, die von dem Roman abgedeckt wird, verbringt Michel mit einer Auszeit von der Forschung, was ihm Kopfschütteln seiner Kollegen einbringt. Die grundverschiedenen Halbbrüder verbindet nur das Schicksal, die einsamen und ungeliebten Söhne einer egoistischen Mutter zu sein. Das Schicksal scheint eine Wendung zu nehmen, als beide mit 40 die Liebe zum ersten Mal kennenlernen. Jedoch ist das Glück für beide nur von kurzer Dauer und endet tragisch. Bruno lernt die ebenso sexbesessene Christiane kennen, die sich in ihn verliebt. Sie besuchen auch das Village Naturiste Cap d’Agde, einen FKK und Swingerurlaubsort. Als sie durch eine Steißbeinnekrose gelähmt wird, geht sie in den Suizid. Bruno verliert darüber den Verstand und verbringt den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Klinik. Michel trifft seine Jugendfreundin Annabelle wieder. Das Glück kommt auch hier zu seinem raschen Ende, als Annabelle an Gebärmutterkrebs erkrankt und sich ebenfalls das Leben nimmt. Michel verliert jede emotionale Bindung an das Leben und widmet sich nun ganz der Forschung.[...]"

Zitate:

"Das Wasser folgt dem Weg des geringsten Widerstands. Das menschliche Verhalten, dass sie in seinem Prinzip und fast allen seinen Handlungen determiniert ist, lässt nur wenige Gabellungen zu, und diese Gabe Lungen selbst werden kaum genutzt. 1950 bekam Francesco E-Mail Lola einen Sohn von einer italienischen Schauspielerin, einer zweitrangigen Schauspielerin, die nie über die Rolle ägyptischer Sklavin in hinaus kam und es schaffte, das war der Höhepunkt ihrer Laufbahn –, in QuoVadis? Zweimal das Stichwort zu geben. Sie nannten ihren Sohn David. Im Alter von 15 träumte David davon, ein Rockstar zu werden. Er war nicht der einzige. Obwohl sie viel reicher als ein General Direktor oder ein Bankiers waren, behielten die Rockstars dennoch das Image eines Rebellen. Jung, schön, berühmt, von allen Frauen begehrt, von allen Männern beneidet, bildeten die Rockstar ist die absolute Spitze der sozialen Rangordnung. Seit der Anbetung der Pharaonen im alten Ägypten hat es in der Geschichte der Menschheit nichts gegeben, das  sich mit der kultischen Verehrung vergleichen ließ, die die europäische und amerikanische Jugend den Rockstars entgegenbrachte." (S. 94)

"Als David Annabelle begegnete, hatte er schon über fünfhundert Frauen gehabt; dennoch konnte er sich nicht entsinnen, je eine solche plastische Vollkommenheit gesehen zu haben. Annabelle ihrerseits fühlte sich von ihm angezogen wie alle anderen vor ihr. Sie widerstand ihm mehrere Tage, gab erst eine Woche nach ihrer Ankunft nach. Es waren etwa dreißig, die sich hinter dem Haus versammelt hatten, um zu tanzen, die Nacht war sternenklar und sanft. Annabell trug einen weißen Rock und ein kurzes T-Shirt mit einer Sonne darauf." (S. 95)

"Gegen Ende August stellte Annabelle fest, dass ihre Regel ausblieb. Sie sagte sich, dass es so besser sei. Es gab keine Schwierigkeiten: Davids Vater kannte einen Arzt, der beim Planning familial aktiv war und in Marseille operierte. Ein Typ mit einem mit kleinen rotblonden Schnurrbart, um die dreißig, voller Begeisterung, der Laurent hieß. Er bestand darauf, dass sie ihn beim Vornamen nannte: Laurent. Er zeigte ihr die verschiedenen Instrumente, erklärte ihr, wie das Absaugen und das Ausschaben vor sich ging. Er legte Wert darauf, mit seinen Patientinnen, die er fast wie Freundinnen behandelte, einen demokratischen Dialog herzustellen." (S. 97)

"Am selben Abend schildert schilderte Laurent bei einem Essen mit Freunden begeistert den Fall Annabelle. Für Mädchen wie sie  hatten sie gekämpft, erklärte er; um zu vermeiden, dass das Leben eines knapp siebzehnjährigen Mädchens ('das noch dazu sehr hübsch war' hätte er fast hinzugefügt) durch ein Ferienabenteuer verpfuscht wurde." (S. 98)

"Diese Frau hatte eine furchtbare Kindheit erlebt, schon mit sieben Jahren musste sie umgeben von trunksüchtigen, halb verrohten Männern auf dem Bauernhof mitarbeiten. Ihre Jugend war so kurz gewesen, dass sie sich kaum daran erinnern konnte. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie in der Fabrik gearbeitet und dabei gleichzeitig ihre vier Kinder aufgezogen; mitten im Winter musste sie nach draußen gehen um Wasser zu holen, damit ihre Kinder sich waschen konnten. Mit über 60 Jahren, kurz nachdem sie in Rente gegangen war, hatte sie sich bereit gefunden, sich noch einmal um ein kleines Kind zu kümmern – den Sohn ihres Sohnes. Ihm hatte es auch an nichts gefehlt – weder an sauberer Kleidung, noch an gutem Essen am Sonntagmittag, noch an Zuneigung. All das hatte sie in ihrem Leben getan. Eine auch nur annähernd vollständige Studie der Menschheit muss zwangsläufig diese Art von Phänomenen berücksichtigen. Solche Menschen hat es in der Geschichte gegeben. Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet, hart gearbeitet haben, und das nur aus Hingabe und Liebe; Menschen, die ihr Leben aus Hingabe und Liebe den anderen buchstäblich geschenkt haben; und die dennoch keineswegs den Eindruck hatten, sich aufzuopfern; und die sich in Wirklichkeit keine andere Lebensweise vorstellen konnten, als ihr Leben aus Hingabe und Liebe den anderen zu schenken. In der Praxis waren diese Menschen im allgemeinen Frauen." (S. 101/102)

"Annabelle hatte die Abfahrt des Krankenwagens und die Rückkehr des Renault 16 beobachtet. Gegen ein Uhr nachts stand sie auf und zog sich an, ihre Eltern schliefen bereits; sie ging bis zur Gittertür vor Michels Haus. Alles war hell erleuchtet, sie waren wahrscheinlich im Wohnzimmer; aber es war unmöglich, durch die Vorhänge hindurch irgendetwas zu erkennen. Es regnete leicht. Zehn Minuten vergingen. Annabelle wusste, dass sie an der Tür klingeln und Michel sehen konnte; aber sie konnte es auch lassen. Sie war sich nicht recht bewusst, dass sie in diesem Augenblick die konkrete Erfahrung der Freiheit machte; auf jeden Fall war es ganz furchtbar, und nach diesen zehn Minuten sollte sie nie mehr ganz dieselbe sein. Viele Jahre später sollte Michel eine kurze Theorie der menschlichen Freiheit vorstellen, die auf der Analogie mit dem Verhalten des supraflüssigen Heliums beruhte. Das diskrete atomare Phänomen Des Elektronenaustauschs zwischen den Neuronen und den Synapsen im Inneren des Gehirns ist im Prinzip der Quantenunscharfe unterworfen; die große Anzahl der Neuronen bewirkt jedoch durch die statistisch bedingte Aufhebung der elementaren Unterschiede, dass das menschliche Verhalten – sowohl in seiner groben Zügen wie auch in den Einzelheiten – ebenso streng determiniert ist wie das jedes anderen natürlichen Systems. Doch unter manchen, äußerst seltenen Umständen – die Christen nannten es das Wirken der Gnade – entsteht eine neue Kohärenzwelle und breitet sich im Inneren des Gehirns aus; dadurch lässt sich – vorübergehend oder endgültig – ein neues Verhalten beobachten, das durch ein völlig anderes System harmonischer Oszillatoren bestimmt wird; es handelt sich um etwas, dass man gemeinhin eine freie Handlung nennt.
Doch nichts dergleichen ereignete sich in jener Nacht, und Annabelle kehrte ins Haus ihres Vaters zurück. Sie fühlte sich spürbar gealtert. Es sollten fast fünfundzwanzig Jahre vergehen, ehe sie Michel wiedersehen würde." (S. 102/103)

"Dadurch, daß wir das verwandtschaftliche Band, das uns an die Menschheit fesselt, zerrissen haben, leben wir. Dem Urteil der Menschen zufolge leben wir glücklich; allerdings haben wir es auch verstanden, die für sie unüberwindbaren Kräfte des Egoismus, der Grausamkeit und der Wut zu bezwingen; wir führen ohnehin ein anderes Leben. Die Wissenschaft und die Kunst sind weiterhin Bestandteil unserer Gesellschaft; aber die Suche nach dem Wahren und dem Schönen besitzt, da sie nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen Eitelkeit angespannt wird, einen weniger dringlichen Charakter. Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im übrigen vor, dass wir uns selbst – wenn auch mit einer Spur von Humor – mit dem Namen 'Götter' bezeichnen, der so viele Träume bei ihnen ausgelöst hat.
Die Geschichte existiert; sie zwingt sich auf, beherrscht die Welt, ihr Reich ist unausweichlich. Aber über die strengen historische Intention hinaus besteht das eigentliche Bestreben dieses Buchs darin, jene leidgeprüfte, mutige Spezies, die uns geschaffen hat, zu ehren. Jener schmerzbeladene, nichtswürdige Spezies, die sich kaum vom Affen unterschied und dennoch so viele edle Ziele angestrebt hat. Jene gequälte, widersprüchliche, individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosen Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und an die Liebe zu glauben. Und auch jene Spezies, die es zum ersten Mal in der Geschichte der Welt verstanden hat, die Möglichkeit ihres eigenen Überwindens zu erwägen; und die es einige Jahre später verstanden hat, dieses Überwinden in die Tat umzusetzen. Zu einem Zeitpunkt, da die letzten Vertreter dieser Spezies im Aussterben begriffen sind, halten wir es für legitim, der Menschheit diese letzte Huldigung dazu bringen – eine Huldigung, die ihrerseits allmählich verblassen und sich im Treibsand der Zeit verlieren wird; dennoch ist es nötig, daß diese Huldigung wenigstens einmal erfolgt. Dieses Buch ist den Menschen gewidmet." (S. 356/357)

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