24 Oktober 2023

Marie Hesse in Selbstzeugnissen

 Jetzt habe ich das Buch in der Hand, von dem ich vor gut drei Jahren schrieb, dass die Verfasserin und Hauptperson im Titel ganz merkwürdig versteckt wird:

"Marie Hesse. Die Mutter von Hermann Hesse. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern von Adele Gundert"

Ein Buch voll des Überschwangs. Ständig verliebt sie sich: in eine 16-Jährige, in einen Mann. Mit beiden darf sie nicht verkehren.* Sie wird hierhin und dorthin geschickt, lebt sieben Jahre von ihren Eltern und Brüdern getrennt, dann von ihren Pflegeeltern. Immer wieder ist sie bereit, dennoch die liebevolle Behandlung durch die neuen Pflegepersonen zu würdigen. Schließlich wird ihr mitgeteilt, sie werde als Braut von einem zukünftigen Missionar gewünscht, doch es werde noch vier Jahre dauern, bis sie heiraten könnten. Als ihre Mutter meint, sie würde niemals einen Mann nehmen, der sie vier Jahre warten lasse, notiert sie in ihr Tagebuch:

"O Mama!! Mein Wunsch ist's freilich nicht, aber wenn es sein / muss, werde ich mich drein finden, so sehr es gegen meine Natur geht. Aber vier Jahre Braut sein ist Seligkeit gegen den Gedanken, nicht Braut zu sein. Nein, ich will alles tun und dulden, wenn's sein soll, nur um seinetwillen, aber es wird kein Dulden sein, wenn ich's für ihn tue und er mich liebt. Ich, kann Mama nicht verstehen, die spricht vom Heiraten, als sei das das Große. Lieben will ich, lieben, das ist mir wichtiger als heiraten. Freilich wäre mir's lieb wenn wir bald zusammenkämen. Aber das scheint mir von Mama ein herzloser Gedanke: Nein sagen wegen vier Jährlein Brautzeit. O nein, Mama, du kennst dein Kind noch nicht." (S.70/71)

*In diesem 'Tagebuch des Backfischleins' steht auch jene bittersüße Liebesgeschichte, die wie in billigen Romanen mit einer Liebe auf den ersten Blick einsetzt. Nur ein paar Tage lang konnten sich Marie Gundert und John Barns aneinander erfreuen, zumeist nur durch Briefe und Gedichte, die sie sich heimlich zusteckten, dann legte das Schiff in Bombay an – und die beiden wurden getrennt. Das Mädchen wartete vergebens auf einen Brief des Geliebten und die Wiedersehensfreude mit den Eltern wurde durch das unerklärliche Schweigen getrübt. Erst Wochen später erfuhr Marie, wer ihren Freund mit harten Worten von ihr getrennt und versucht hatte, die eben aufgeflammte Liebe zu ersticken: ihr eigener Vater. Barns hatte / ihm geschrieben, um Maries Hand angehalten und einen Brief an sie beigelegt. Doch der Vater hatte ihm 'als einem impulsiven Mann, einem Weltmann' jegliche Verbindung mit seiner Tochter verboten und den Brief an sie zurückbehalten. 

'Ich hörte es', heißt es in der Selbstbiografie, 'und das Herz wollte mir stille stehen, ja ich wünschte mir, es möchte in diesem Nu plötzlich erkalten und sterben, wie meine Hoffnungen und Träume'. Das Mädchen haderte mit Gott und den Menschen, und dass es gerade der sonst so verständnisvolle, der überaus verehrte und geliebte Vater war, trieb Marie in eine schreckliche Einsamkeit. Gedicht um Gedicht entstand, in denen sie ihre Enttäuschung im Gedenken an den Geliebten zu bewältigen versuchte. Einige Monate später, es war der 24. Februar 1858, besuchte Marie den Missionar Samuel Hebich, einen Mitarbeiter des Vaters. [...] Dass er jedoch in der liebeskranken Marie Gundert eine andere Einstellung zu ihren Mitmenschen wecken könnte, das hätte diesem schrulligen Hagestolz niemand zugetraut. Der Besuchstag bei Hebich war für Marie der Tag ihrer 'Bekehrung', sie 'opferte ihre Liebe und versöhnte sich mit den Eltern in der gemeinsamen Hingabe an den Missionsgedanken'.

Marie wurde Schülerin, Reisebegleiterin und Sekretärin ihres Vaters. Einen besseren Lehrer hätte sie in keiner Schule finden können. [...] In kleineren und größeren Reisen fuhren und ritten Vater und Tochter kreuz und quer durch das Land, um Schulen zu besuchen. Außerdem trat Marie als Gehilfin neben die Mutter, die schon zwei Mädchenmissionsschulen eingerichtet und mit gutem Erfolg geleitet hatte und nun im Begriff war, die dritte Mädchenschule in Kalikut aufzubauen. Hier konnte die fünzehneinhalbjährige Tochter ihre ersten Unterrichtserfahrungen machen, sie lehrte Englisch und Handarbeit, bald auch Geographie, und vertrat die Mutter als Schulleiterin, wenn diese einmal verreist war. Voraussetzung für diese Lehrtätigkeit war natürlich, dass sie die Landessprache, dass Malayalam, einigermaßen beherrschte." (Siegfried Greiner: Nachwort, S.239/241)

Aus der Zeit der Krankheit ihres Mannes Charles Isenberg, der mit 30J. starb:

"Ja, mitten im Leiden, an des Todes Tür, waren wir reich und selig in unserer Liebe." (S.123)

1883 an Karl (ohne Datum)

"Erst wenn das Herz in Gott Ruhe und volle Genüge gefunden, kann es ohne jeden Schaden mit kindlicher Freude und reinem Genuss auch in Natur, Kunst, Wissenschaft und Erdenliebe entgegennehmen, was Gottes Güte beut, mit dankbar frohem Herzen. Solange diese Güter aber dem armen Menschen Herzen als Brunnen zum Durstlöschen dienen mit Umgehung der einzigen wahren Lebensquelle, solange mischt sich Überdruss, Verschmachten, Unbefriedigtsein und Sünde auch in den besten Genuss. Doch ich muss schließen. Gott behüte und segne dich, mein liebes Kind, und lasse dich trinken von dem Lebenswasser, das auf ewig das Dürsten der Seele stillt. Mit Kuss deine dich innig liebende Mama"

Angesichts des schweren Lebens, das Marie führt, ist solche Ergebung in Gott wohl eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben:

Die Menschen, die sie liebt, werden von ihr getrennt. Als sie sich entschieden hat, einen künftigen Missionar, für den die Missionsgesellschaft sie als Frau ausgesucht hat, auf den ersten Blick zu lieben und dann geduldig vier Jahre zu warten, bis sie heiraten kann, sie bekommt neun Kinder, von denen mehrere im ersten Lebensjahr sterben. Als sie sich in Basel eingelebt haben, ruft ihr Vater ihren Mann - und damit die Familie - zur Unterstützung seiner Arbeit zurück nach Calw, wo sie dann in ungesunden Wohnverhältnissen wohnen müssen.

Angenommen, diese Ergebung in Gottes Willen wäre bei Frauen allgemein zutiefst erlebt worden, wäre Emanzipation der Frau fragwürdig. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sie allgemein vorhanden war. Die heilige Elisabeth hat sich vielleicht trotz der unwürdigen Behandlung, die sie durch Konrad erfuhr*, als auf dem einzig richtigen Weg empfunden. 

Die Mehrzahl der Frauen wird sehr gelitten haben,  freilich vor Augen gehabt haben, dass es anderen noch schlechter ging.

*"Konrad von Marburg zwang Elisabeth zur Lossagung von ihren Kindern, zur Trennung von ihren Vertrauten Guda und Isentrud von Hörselgau und strafte sie mehrfach hart, um ihren Willen zu brechen. Die Quellen berichten unter anderem davon, dass er sie einmal so sehr von seinen Dienern schlagen ließ, dass sie die Spuren der Bestrafung über Wochen trug.[57] Im Urteil des zeitgenössischen Cäsarius von Heisterbach trug Konrad mit seiner Strenge und Härte gegenüber Elisabeth erheblich zu ihren Verdiensten und damit auch zu ihrer Heiligsprechung bei. Nach der Überlieferung des Libellus reagierte sie auf die Bestrafung mit den häufig zitierten Worten:

„Es steht uns wohl an, dass wir dergleichen gern aushalten, weil wir wie das Schilfrohr im Fluss sind. Steigt der Fluss an, dann wird das Rohr gebeugt und zusammengedrückt und das überflutende Wasser durchdringt es, ohne es zu verletzen. Wenn dann die Überschwemmung nachlässt, richtet sich das Rohr wieder auf und wächst mit voller Kraft heiter und vergnügt. So ziemt es uns auch immer, dass wir gebeugt und gedemütigt werden und nachher wieder heiter und vergnügt dastehen.“[58]


Weiter zu Marie Hesse (Ich hätte es mir denken sollen, aber ich hatte nicht damit gerechnet):
"Das Tagebuch vermerkt: "Denke ich an Basler Wohnung, Freiheit und Umgang, an unser ungeniertes Familienleben zurück, so will mich's hier beengen. Aber für das innere Wachstum ist's besser so, das glaube ich." Das Letztere sollte sich als Irrtum erweisen. Das Haus, dessen vordere schöne Zimmer natürlich Großvaters Wohnung waren, war nach hinten gegen den Berg feucht und ungesund und erschien Johannes oft wie ein Gefängnis, wo er nie mehr gesund werden könne."

Tagebuch 1887:
"Was die inneren Erfahrungen dieses Jahres betrifft, so kann ich nur mit tiefster Beschämung zurückblicken auf Niederlage um Niederlage, und auf Zeiten der tiefsten Verzagtheit und Entmutigung. Oft fürchtete ich, gemütsleidend zu werden, so schwer ging’s durch. Die Verhältnisse sind schwierig und beengt, aber wenn das Gottes Weg ist, so müssen wir ihn gehen und stille und dankbar sein. In großer Seelennot ward mir Trost und viel Ermunterung zuteil durch eine Rede von Schrenk über "die Verherrlichung Gottes unser einziger Lebenszweck. Ach ja, das muss ich im Auge behalten. Wir vergessen oft in der täglichen Misere des Erdenlebens, was doch klar und deutlich Jesus uns vorausgesagt hat Matth.. 16. Ihm nachfolgen, heißt Kreuz auf sich nehmen, sich verleugnen, sein Leben verlieren – nicht gute Tage und Ruhe auf Erden. Ach, noch merke ich nichts von Seinem Gepräge an mir. So viel Hass und Zorn und Ärger und Eigenliebe kommt tagtäglich zum Vorschein, dass ich erschrecke." (S.198)

Tagebuch 1888
"Wir blicken zurück auf 1888 als auf ein Jahr, dass mehr Kampf als Sieg, mehr Last als Lust, mehr Kümmernisse als Freuden brachte… Immer wieder sträubt sich der eigene Sinn gegen alle die Verhältnisse, in die wir hier eingeengt sind, und die Frage: "Dürfte und könnte und sollte nicht doch allerlei geändert und gebessert werden?" steigt oft auf. Im Geschäft ist mein lieber Mann unbefriedigt, ihm und mir fehlt überall die Freiheit. Um der Liebe willen sie dran geben, ist recht und schön, ob aber Papa und uns damit wirklich gedient, irgendjemand genutzt wird? Auf mir liegt es wie ein Alp, ich hatte in diesem Jahre gegen Schwermut anzukämpfen wie noch nie. Auch Johannes geht gedrückt einher, es kommt zu keinem freien fröhlichen Aufschwung. Doch was klage ich? Drückt der Mangel noch so sehr, "Du füllst des Lebens Mangel aus mit dem, was ewig steht."

Tagebuch 1889
"in diesem Jahr steigertes sich das Schwierige der Verhältnisse bis zur Unerträglichkeit. Johannes wurde immer nervöser und elender, schlaflos, durch Kopfschmerzen fast arbeitsunfähig. Ich war halb gemütsleidend… Wiederholt hatte mir Johannes erklärt, er könne nicht gesund werden in dem Calwer Verlagsvereinshaus und all den verzwickten Verhältnissen und Aufgaben dort. Papa hat es offenbar geschmerzt; aber er ahnte nicht, wie viel es uns gekostet, wie schwere Opfer wir ihm in diesen dreieinviertel Jahren gebracht haben. Trennung ist um umgänglich notwendig…
Am 16. September 1889 zogen wir in die neue Wohnung (in der Ledergasse), die sonnig und behaglich ist. Gott sei Dank, nun haben wir wieder ein Heim!
… Johannes "kneipt" mit Erfolg, trinkt vor Schlafengehen Baldriantee und spürt nach und nach Besserung…" (S.199)

Nach dem Tod ihres Vaters "im Jahre 1893, befiel auch die Tochter eine schwere Krankheit. Es war eine Knochenerweichung (Osteomalazie), die trotz verschiedener Kuren nicht aufgehalten werden konnte und sich schließlich derart verschlimmerte, dass die Kranke die Füße nicht mehr zu heben vermochte und fast zwei Jahre lang liegen musste. Als die Kunst der Ärzte versagte, holte man den 'Evangelisten' Elias Schrenk, der Marie durch Gebet und Handauflegung geheilt haben soll. Sie schreibt über dieses 'Gnadenwunder': 'Ja, ich konnte die Füße / wieder lüpfen! Ich hatte sie vorher nur vorwärts schieben können, wenn man mich stüzte. Oh diese Wonne!… Als ich wieder an meine Kästen und Schubladen kam, war mir's, wie wenn alles mir neu geschenkt wäre, denn ich hatte ja mit allem abgeschlossen gehabt und dachte, es gehöre mir nimmer… Am 18. Januar [1896] richtete ich mich mir wieder meinen Schreibtisch und mein Arbeitstischchen zum Gebrauch ein… [...] 

Die fünf darauffolgenden Jahre einer leidlichem Gesundheit, die Marie Hesse nach ihrer schweren Krankheit noch verblieben, hat sie als göttliches Geschenk angesehen. [...]" (Siegfried Greiner: Nachwort, S.251/252)

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