Jetzt habe ich das Buch in der Hand, von dem ich vor gut drei Jahren schrieb, dass die Verfasserin und Hauptperson im Titel ganz merkwürdig versteckt wird:
"Marie Hesse. Die Mutter von Hermann Hesse. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern von Adele Gundert"
Ein Buch voll des Überschwangs. Ständig verliebt sie sich: in eine 16-Jährige, in einen Mann. Mit beiden darf sie nicht verkehren.* Sie wird hierhin und dorthin geschickt, lebt sieben Jahre von ihren Eltern und Brüdern getrennt, dann von ihren Pflegeeltern. Immer wieder ist sie bereit, dennoch die liebevolle Behandlung durch die neuen Pflegepersonen zu würdigen. Schließlich wird ihr mitgeteilt, sie werde als Braut von einem zukünftigen Missionar gewünscht, doch es werde noch vier Jahre dauern, bis sie heiraten könnten. Als ihre Mutter meint, sie würde niemals einen Mann nehmen, der sie vier Jahre warten lasse, notiert sie in ihr Tagebuch:
"O Mama!! Mein Wunsch ist's freilich nicht, aber wenn es sein / muss, werde ich mich drein finden, so sehr es gegen meine Natur geht. Aber vier Jahre Braut sein ist Seligkeit gegen den Gedanken, nicht Braut zu sein. Nein, ich will alles tun und dulden, wenn's sein soll, nur um seinetwillen, aber es wird kein Dulden sein, wenn ich's für ihn tue und er mich liebt. Ich, kann Mama nicht verstehen, die spricht vom Heiraten, als sei das das Große. Lieben will ich, lieben, das ist mir wichtiger als heiraten. Freilich wäre mir's lieb wenn wir bald zusammenkämen. Aber das scheint mir von Mama ein herzloser Gedanke: Nein sagen wegen vier Jährlein Brautzeit. O nein, Mama, du kennst dein Kind noch nicht." (S.70/71)
*In diesem 'Tagebuch des Backfischleins' steht auch jene bittersüße Liebesgeschichte, die wie in billigen Romanen mit einer Liebe auf den ersten Blick einsetzt. Nur ein paar Tage lang konnten sich Marie Gundert und John Barns aneinander erfreuen, zumeist nur durch Briefe und Gedichte, die sie sich heimlich zusteckten, dann legte das Schiff in Bombay an – und die beiden wurden getrennt. Das Mädchen wartete vergebens auf einen Brief des Geliebten und die Wiedersehensfreude mit den Eltern wurde durch das unerklärliche Schweigen getrübt. Erst Wochen später erfuhr Marie, wer ihren Freund mit harten Worten von ihr getrennt und versucht hatte, die eben aufgeflammte Liebe zu ersticken: ihr eigener Vater. Barns hatte / ihm geschrieben, um Maries Hand angehalten und einen Brief an sie beigelegt. Doch der Vater hatte ihm 'als einem impulsiven Mann, einem Weltmann' jegliche Verbindung mit seiner Tochter verboten und den Brief an sie zurückbehalten.
'Ich hörte es', heißt es in der Selbstbiografie, 'und das Herz wollte mir stille stehen, ja ich wünschte mir, es möchte in diesem Nu plötzlich erkalten und sterben, wie meine Hoffnungen und Träume'. Das Mädchen haderte mit Gott und den Menschen, und dass es gerade der sonst so verständnisvolle, der überaus verehrte und geliebte Vater war, trieb Marie in eine schreckliche Einsamkeit. Gedicht um Gedicht entstand, in denen sie ihre Enttäuschung im Gedenken an den Geliebten zu bewältigen versuchte. Einige Monate später, es war der 24. Februar 1858, besuchte Marie den Missionar Samuel Hebich, einen Mitarbeiter des Vaters. [...] Dass er jedoch in der liebeskranken Marie Gundert eine andere Einstellung zu ihren Mitmenschen wecken könnte, das hätte diesem schrulligen Hagestolz niemand zugetraut. Der Besuchstag bei Hebich war für Marie der Tag ihrer 'Bekehrung', sie 'opferte ihre Liebe und versöhnte sich mit den Eltern in der gemeinsamen Hingabe an den Missionsgedanken'.
Aus der Zeit der Krankheit ihres Mannes Charles Isenberg, der mit 30J. starb:
"Ja, mitten im Leiden, an des Todes Tür, waren wir reich und selig in unserer Liebe." (S.123)
1883 an Karl (ohne Datum)
"Erst wenn das Herz in Gott Ruhe und volle Genüge gefunden, kann es ohne jeden Schaden mit kindlicher Freude und reinem Genuss auch in Natur, Kunst, Wissenschaft und Erdenliebe entgegennehmen, was Gottes Güte beut, mit dankbar frohem Herzen. Solange diese Güter aber dem armen Menschen Herzen als Brunnen zum Durstlöschen dienen mit Umgehung der einzigen wahren Lebensquelle, solange mischt sich Überdruss, Verschmachten, Unbefriedigtsein und Sünde auch in den besten Genuss. Doch ich muss schließen. Gott behüte und segne dich, mein liebes Kind, und lasse dich trinken von dem Lebenswasser, das auf ewig das Dürsten der Seele stillt. Mit Kuss deine dich innig liebende Mama"
Angesichts des schweren Lebens, das Marie führt, ist solche Ergebung in Gott wohl eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben:
Die Menschen, die sie liebt, werden von ihr getrennt. Als sie sich entschieden hat, einen künftigen Missionar, für den die Missionsgesellschaft sie als Frau ausgesucht hat, auf den ersten Blick zu lieben und dann geduldig vier Jahre zu warten, bis sie heiraten kann, sie bekommt neun Kinder, von denen mehrere im ersten Lebensjahr sterben. Als sie sich in Basel eingelebt haben, ruft ihr Vater ihren Mann - und damit die Familie - zur Unterstützung seiner Arbeit zurück nach Calw, wo sie dann in ungesunden Wohnverhältnissen wohnen müssen.
Angenommen, diese Ergebung in Gottes Willen wäre bei Frauen allgemein zutiefst erlebt worden, wäre Emanzipation der Frau fragwürdig. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sie allgemein vorhanden war. Die heilige Elisabeth hat sich vielleicht trotz der unwürdigen Behandlung, die sie durch Konrad erfuhr*, als auf dem einzig richtigen Weg empfunden.
Die Mehrzahl der Frauen wird sehr gelitten haben, freilich vor Augen gehabt haben, dass es anderen noch schlechter ging.
*"Konrad von Marburg zwang Elisabeth zur Lossagung von ihren Kindern, zur Trennung von ihren Vertrauten Guda und Isentrud von Hörselgau und strafte sie mehrfach hart, um ihren Willen zu brechen. Die Quellen berichten unter anderem davon, dass er sie einmal so sehr von seinen Dienern schlagen ließ, dass sie die Spuren der Bestrafung über Wochen trug.[57] Im Urteil des zeitgenössischen Cäsarius von Heisterbach trug Konrad mit seiner Strenge und Härte gegenüber Elisabeth erheblich zu ihren Verdiensten und damit auch zu ihrer Heiligsprechung bei. Nach der Überlieferung des Libellus reagierte sie auf die Bestrafung mit den häufig zitierten Worten:
„Es steht uns wohl an, dass wir dergleichen gern aushalten, weil wir wie das Schilfrohr im Fluss sind. Steigt der Fluss an, dann wird das Rohr gebeugt und zusammengedrückt und das überflutende Wasser durchdringt es, ohne es zu verletzen. Wenn dann die Überschwemmung nachlässt, richtet sich das Rohr wieder auf und wächst mit voller Kraft heiter und vergnügt. So ziemt es uns auch immer, dass wir gebeugt und gedemütigt werden und nachher wieder heiter und vergnügt dastehen.“[58]
Nach dem Tod ihres Vaters "im Jahre 1893, befiel auch die Tochter eine schwere Krankheit. Es war eine Knochenerweichung (Osteomalazie), die trotz verschiedener Kuren nicht aufgehalten werden konnte und sich schließlich derart verschlimmerte, dass die Kranke die Füße nicht mehr zu heben vermochte und fast zwei Jahre lang liegen musste. Als die Kunst der Ärzte versagte, holte man den 'Evangelisten' Elias Schrenk, der Marie durch Gebet und Handauflegung geheilt haben soll. Sie schreibt über dieses 'Gnadenwunder': 'Ja, ich konnte die Füße / wieder lüpfen! Ich hatte sie vorher nur vorwärts schieben können, wenn man mich stüzte. Oh diese Wonne!… Als ich wieder an meine Kästen und Schubladen kam, war mir's, wie wenn alles mir neu geschenkt wäre, denn ich hatte ja mit allem abgeschlossen gehabt und dachte, es gehöre mir nimmer… Am 18. Januar [1896] richtete ich mich mir wieder meinen Schreibtisch und mein Arbeitstischchen zum Gebrauch ein… [...]
Die fünf darauffolgenden Jahre einer leidlichem Gesundheit, die Marie Hesse nach ihrer schweren Krankheit noch verblieben, hat sie als göttliches Geschenk angesehen. [...]" (Siegfried Greiner: Nachwort, S.251/252)
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