17 Oktober 2023

Wieland: Aristipp

 

Antipater an Aristipp: Über Athen 

"[...] Ich habe Bürger aus beinahe allen Griechischen Städten kennen gelernt, und keinen gefunden, der ihr die seinige ohne Schamröthe oder aus einem andern Grunde vorzuziehen vermocht hätte, als dem Zauber, der uns an den Ort fesselt, wo wir das goldne Alter des Menschenlebens zugebracht haben. Was muß Athen für den seyn, der das Glück hatte, in ihrem Schooß aufzublühen? Wie natürlich kommen mir alle jene weltgepriesenen Thaten vor, die jemals für eine solche Stadt von ihren Söhnen gethan wurden? – und wenn ich bedenke, was sie erst seyn könnte, wenn sie den Gesetzen und der Verfassung ihres eben so klugen als weisen Solons treu geblieben wäre! – Was sie jetzt noch werden könnte, wenn sie anstatt ihrer stürmischen Volksherrschaft sich eine wohlgeordnete Aristokratie gefallen lassen, und statt der gefährlichen Eitelkeit, auf ihre eigenen und der ganzen Hellas Kosten nach einer Obergewalt, die ihr nie gutwillig zugestanden wird, zu streben, sich an dem hohen Vorzug begnügen wollte, das zu seyn wozu ihr Name selbst sie bestimmt, der Hauptsitz aller Künste des Friedens und der Musen, das Muster der schönsten Ausbildung, die Besitzerin der weisesten[361] Gesetze, der mildesten Regierung, der menschlichsten Sitten, des feinsten Sinnes für alles Schöne und Große, der vollkommensten und zierlichsten Sprache, und der angenehmsten Art des Daseyns zu genießen, kurz, durch Vereinigung alles dessen, was des Menschen Leben veredelt und verschönert, die erste Stadt der Welt zu seyn: wer würde dann nicht das Glück in Athen zu leben allem andern vorziehen, und die Nothwendigkeit, sie zu verlassen, für das größte aller Uebel halten? – Platon und Isokrates haben wahrlich keine Schuld, wenn Athen nicht dieses Urbild einer vollkommenen und glücklichen Republik ist – Aber die Sterblichen scheinen weder aufgelegt noch geneigt zu seyn, den Idealen ihrer Weisen Wirklichkeit zu geben, und unter allen Erdebewohnern die Athener vielleicht am wenigsten. Indessen, wie sie sind, habe ich ihnen und ihrer Stadt viel zu danken; und dieses Gefühl war es auch, was alle übrigen verdrängte und verschlang, als ich von einer Anhöhe auf dem Wege nach Eleusis den letzten Blick auf den hellbesonnten Tempel der Athene Polias heftete. [...]"

Wieland: Aristipp, 2. Band, 51. Brief

Keine Kommentare: