16 März 2024

Marquez: Leben, um davon zu erzählen

 MarquezLeben, um davon zu erzählen2002 (Perlentaucher)


"[...] Sie war morgens in B. eingetroffen, kam aus dem fernen Städtchen, in dem die Familie wohnte, und hatte keine Ahnung, wie sie mich finden sollte. Sie fragte hier und dort bei Bekannten nach, und man gab ihr den Hinweis, in der Buchhandlung Mundo oder in den Cafés der Umgebung zu suchen, wo ich mich zweimal täglich mit meinen Schriftstellerfreunden zu treffen pflegte. [...] Mit ihrem leichtfüßigen Schritt bahnte sie sich den Weg durch die Büchertische, stand vor mir, schaute mir mit dem schalthaften Lächeln ihrer besten Tage in die Augen und sagte, noch bevor ich reagieren konnte: "Ich bin deine Mutter." (S.9)
"Natürlich konnten weder meine Mutter noch ich damals ahnen, wie bestimmend dieser harmlose zweitägige Ausflug für mich sein sollte, so dass auch das längste und arbeitsamste Leben nicht ausreichen würde, erschöpfend davon zu erzählen." (S.11)
"Es begann an einem besonders schlimmen Sonnabend, als ein rechtschaffener Ortsansässiger, dessen Name nicht überliefert ist, mit einem Kind an der Hand in eine Bar trat und um ein Glas Wasser für den Kleinen bat. Ein Fremder, der allein am Tresen stand, wollte den Jungen zwingen, statt des Wassers einen Schluck Rum zu trinken. Der Vater versuchte das zu verhindern, der Fremde bestand jedoch darauf, bis der verängstigte Junge aus Versehen mit einem Handschlag den Rum verschüttet. Woraufhin der Fremde ihn ohne viel Federlesens mit einem Schuss niederstreckte.
Das war ein weiteres Gespenst meiner Kindheit. Papalelo  erwähnte die Geschichte des Öfteren, wenn wir zusammen in einer Bar eine Erfrischung trinken wollten, aber es klang so unwirklich, dass nicht einmal er daran zu glauben schien. [...] Vom Täter war nur bekannt, dass er im gezierten Tonfall der Andenbevölkerung sprach, also richteten sich die Repressalien gegen jeden der vielen verhassten Fremden, der genauso sprach. Trupps von Einheimischen, bewaffnet mit Zuckerrohrmacheten, fielen in die finsteren Straßen ein, packten sich jede unkenntliche Gestalt, auf die sie in der Dunkelheit stießen und befahlen:
'Sprechen!'
Nur aufgrund der Aussprache hieben sie mit der Machete auf ihr Opfer ein, ohne zu bedenken, dass es bei so vielen verschiedenen Akzenten unmöglich war, gerecht zu verfahren." (S. 56/57)
"Meine Mutter wuchs in diesem verlorenen Nest zur Frau heran, und alle Liebe konzentrierte sich auf sie, nachdem der Typhus Margarita Maria Miniata dahingerafft hatte. Auch sie war kränklich. Das Wechselfieber hatte ihr eine ungewisse Kindheit beschert, als sie aber vom letzten Anfall genas, tat sie dies so gründlich und ein für alle Mal und war fort an so gesund, dass sie ihren 97. Geburtstag mit ihren elf Kindern und vier weiteren ihres Ehemannes, mit 65 Enkeln, 88 Urenkeln und 14 Urenkeln feiern konnte. Nicht gezählt die, von denen man nie erfahren hat." (S.59)
Sie war eine erfolgreiche Schülerin, nur nicht in der Klavierstunde, die ihr von der Mutter auferlegt worden war, weil diese sich keine anständige junge Dame vorstellen konnte, die nicht zugleich eine virtuoser Klavierspielerin war. Gehorsam mühte sich Luisa Santiaga drei Jahre lang und gab dann eines Tages auf, weil sie der täglichen Fingerübungen in der drückenden Siestazeit überdrüssig war. Ihre Charakterstärke war die einzige Tugend, die ihr in der Blüte ihrer 20 Jahre wirklich nutzte, als die Familie entdeckte, dass sie zu dem jungen und stolzen Telegrafisten von Aracataca in Liebe entbrannt war. In meiner Jugend war die Geschichte dieser angefeindeten Liebe für mich eine Quelle des Staunens." (S.60)

Ganz offenbar hat Marquez auch seine Autobiographie im Stil des magischen Realismus geschrieben. Ich hebe mir die Lektüre seiner Werke auf, bis ich mich mit diesem Stil mehr angefreundet habe. Immerhin habe ich die Aeneis von Vergil erst, nachdem sie 40 Jahre in meinen Bücheregalen gestanden hat, ernsthaft zur Lektüre vorgenommen. Sehr gut denkbar, dass es in diesem Fall weit schneller geht.

"In eben der Zeit kam es zu einem Zwischenfall, mit dem meine Eltern meine Gefühle dermaßen erschüttert haben, dass davon eine nur schwer zu vergessende Narbe zurückblieb. Es war an einem Tag, an dem sich meine Mutter von plötzlicher Sehnsucht erfasst ans Klavier setzte und Cuando el baile se acabò zu klimpern begann, den historischen Walzer ihrer heimlichen Liebe, und mein Vater in romantischer Verspieltheit seine Geige entstaubte, um meine Mutter darauf zu begleiten, obwohl eine Saite fehlte. Sie fiel mühelos in seinen Stil der romantische Nächte ein, spielte besser denn je und sah ihn schließlich beglückt über die Schulter an, wobei sie merkte, dass seine Augen feucht von Tränen waren. 'An wen denkst du?' fragte meine Mutter in wilder Einfalt. "An das erste Mal, als wir ihn zusammen gespielt haben,' erwiderte er vom Walzer inspiriert. Woraufhin meine Mutte wütend mit beiden Fäusten auf die Tasten schlug.
'Das war nicht ich, du Jesuit!', schrie sie laut. 'Du weißt sehr wohl, mit wem du den Walzer gespielt hast, und du weinst um sie.'
Sie nannte keinen Namen, damals nicht und auch später nie, doch der Schrei ließ uns Kinder an verschiedenen Stellen des Hauses vor Entsetzen erstarren. Louis Enrique und ich, die wir immer geheime Gründe hatten, etwas zu fürchten, versteckten uns unter den Betten. Aida floh ins Nachbarhaus, und Margot verfiel in ein plötzliches Fieberdelirium, das drei Tage dauerte Dabei waren selbst die kleineren Geschwister an die Eifersuchtsexplosionen meiner Mutter gewohnt, ihre Augen standen dann in Flammen, und ihre römische Nase wurde scharf wie ein Messer. Wir hatten erlebt, wie sie mit seltener Ruhe die Bilder im Salon abgehängt und eins nach dem anderen im klirrenden Glashagel auf dem Boden schmetterte. Wir hatten sie dabei ertappt, wie sie Stück für Stück die Kleidung meines Vaters beschnüffelte, bevor sie In den Wäschekorb kam. Nach der Nacht des tragischen Duetts geschah erst einmal nichts, doch dann transportierte der florentinische Klavierstimmer das Klavier ab, um es zu verkaufen, und die Geige vermoderte endgültig neben dem Revolver im Schrank.
Barranquilla war damals ein Vorbild für zivilen Fortschritt, für einen gemäßigten Liberalismus und eine friedliche politische Koexistenz." (S.157)

Ich halte es für möglich, dass das, was E. Falcke in der ZEIT  als "nicht völlig gebändigt" bezeichnet, in meinen Augen das Interessantere ist. In Kunstwerken will der Künstler Wahrheit bieten. Wenn er das in seiner Autobiographie tut, nimmt er mir die Möglichkeit, andere Aspekte seines Lebens zu sehen als die, die er mir zeigen will. - Bei Fontane und Thomas Mann, die ich um ihres Stils und ihrer Weltdarstellung willen liebe, ist mir das wichtiger als ihre Tagebücher, bei Christa Wolf, die ich wegen einiger ihrer Werke und ihrer literarisch-politischen Lebensleistung willen schätze, bin ich ihr dankbar für ihr einzigartiges Tagebuch "Ein Tag im Jahr", bei Frisch liebe ich die Tagebücher als Vorbereitung von Werken und Vorstellung von Werken, die er als Einzelwerke wohl nicht hatte veröffentlichen wollen, insbesondere für die Fragebögen im Tagebuch 1966 - 1971, die für mich eindeutig einen Höhepunkt seines Werks darstellen.

Inzwischen habe ich mich durch rechtzeitiges Überschlagen von Seiten eingelesen und merke, dass ich zwar nicht Realität, aber das Lebensgefühl des Autors kennenlerne und dass er - was ich an einem Autor besonders schätze - seine Figuren liebt. Außerdem tauchen nach Enrique Olaya Herrera jetzt auch weitere Namen auf, die ich auf Realität beziehen kann. Das Buch ist mir interessant geworden. León de GreiffGuillermo Valencia, Eduardo Carranza. (S.314/315)

"[...] ein Ort, der in botanische Maßlosigkeit zur wichtigsten Straßenecke der Welt erklärt worden war. Wenn die Uhr am Turm von San Francisco zwölf Uhr Mittags schlug, blieben die Männer auf der Straße stehen oder unterbrachen ihre Gespräche im Café, um die Uhr nach der offiziellen Zeit der Kirche zu stellen. Und um diese Straßenkreuzung und in den anschließenden Straßen lagen die beliebtesten Treffpunkte, wo sich zweimal am Tag die Kaufleute, die Politiker und die Journalisten – und die Dichter natürlich – zusammenfanden, alle von Kopf bis Fuß in Schwarz, wie König Philipp der Vierte.
In meiner Studentenzeit konnte man dort noch eine Zeitung lesen, die wohl nur wenige Vorläufer auf der Welt gehabt hat. Es handelte sich, wie in der Schule, um eine schwarze Tafel, die um zwölf Uhr mittags sowie um fünf Uhr abends auf dem Balkon von El Espectador ausgestellt wurde und auf die man die letzten Nachrichten in Kreide schrieb. Um diese Zeit war ein Durchkommen mit der Straßenbahn schwer bis / unmöglich, weil dort eine Menschenmenge ungeduldig auf die Neuigkeiten wartete. Die Straßenleser halten zudem die Möglichkeit, die ihrer Ansicht nach guten Nachrichten mit Ovationen zu begrüßen und jene, die ihnen missfielen, auszupfeifen oder mit Steinwürfen auf die Tafel zu quittieren. Das war eine unmittelbare Form der demokratischen Willensäußerung und für den Espectador das beste Thermometer, um das Fieber der öffentlichen Meinung zu messen.
Es gab noch kein Fernsehen, dafür ausführliche Rundfunknachrichten, aber nur zu festgelegten Zeiten, so dass man, bevor man mittags oder abends zum Essen ging, noch auf die Tafel wartete, um mit einem vollständigeren Überblick über die Welt heimzukommen." (S.320/21)

Jorge Eliécer Gaitán, seine Ermordung am 9.4. 1948, Bogotazo und der Beginn der Violencia. (S.348-372) [Einordnung in die Geschichte Kolumbiens (Wikipedia)]



Der Bericht des schiffbrüchigen Luis Alejandro Velasco, der als einziger von acht über Bord eines Kriegsschiffes Geschleuderten überlebt hatte. (S.584-598)

Als Sonderberichtserstatter nach Genf, statt 4 Tage über zwei Jahre (S.600-603)

Ein erster förmlicher Brief na Mercedes: "Wenn ich in einem Monat keine Antwort auf diesen Brief erhalten habe, bleibe ich für immer in Europa." (S.604)


Anfang u. Schluss von 100 Jahre Einsamkeit:
"Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendia sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen. Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambus am Dorf eines Flusses mit kristallklare Wasser, das dahineilte durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier." (S. 7)

"Doch bevor er zum letzten Vers kam, hatte er schon begriffen, dass er nie aus diesem Zimmer gelangen würde, da es bereits fest stand, dass die Stadt der Spiegel (oder der Spiegelungen) vom Wind vernichtet und aus dem Gedächtnis der Menschen in dem Augenblick getilgt sein würde, in dem Aureliano Babilonia die Pergamente endgültig entziffert hätte, und daß alles in ihnen Geschriebene seit immer und für immer unwiederholbar war, weil die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilten Sippen keine zweite Chance auf Erden bekamen." (S.314)

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