Vorwort (S.9-14)
"Zu Weihnachten 1988 bekam ich ein Geschenk von meinen Großeltern, die Bücher meiner Großmutter, ihr Werk, elf Bände lagen unter dem Weihnachtsbaum im Berliner Amalienpark. Heiligabend verbrachte die Familie immer bei ihnen, die Tanne reichte bis zur Decke, und mein Großvater kochte für die ganze Familie Reh oder Kaninchen. Auf die ersten Buchseiten hat meine Großmutter jeweils mit schwarzem Kugelschreiber kleine Texte an mich geschrieben – was sie in jener Zeit bewegt, was sie gedacht und was sie gefühlt hatte. Ich war damals 16 und von dem Geschenk nicht gerade begeistert. Eine Madonna-Platte hätte mir besser gefallen.
Zu Hause wuchtete ich die elf Bände in mein Regal, und dort blieben sie. Ab und an zog ich eines der Bücher heraus, wog es mit meiner Hand, und manchmal las ich es auch. Am meisten berührten mich diese kleinen Texte. Ich empfand sie als Angebot meiner Großeltern, mir etwas über sich zu erzählen, auch wenn ich das zu jener Zeit noch nicht zu schätzen wusste. (S.9)
Auf den ersten Seiten von Der geteilte Himmel schrieb sie: 'Ich war zwischen 30 und 34 Jahre alt, in vielen naiver, als selbst ihr Sechzehnjährigen es heute seid ...' Dieser Satz wird sich wie ein Motiv in verschiedenen Variationen durch unsere Gespräche ziehen, die wir viele Jahre später führen.
Ein Jahrzehnt nach jenem Weihnachten, 1998 fing ich an, mich mit meinen Großeltern zu treffen, um mich mit ihnen über ihr Leben zu unterhalten. Die DDR existierte nicht mehr. [...]
In jener Zeit telefonierte ich oft mit meinen Großeltern, meist mit meiner Großmutter, da mein Großvater eine Abneigung gegen längere Telefongespräche hält. Wir hielten uns auf dem Laufenden, über das Gegenwärtige. Was meine Großeltern tatsächlich bewegte, was ihr Leben ausmachte, über ihre Kämpfe der Vergangenheit, erfuhr ich wenig. Damals, dachte ich, wenn ich einmal Kinder hätte, wüsste ich gern mehr über meine Herkunft, über unsere Familie, über die Konflikte. Über zehn Jahre hinweg trafen wir uns immer wieder, und unterbrochen von langen Pausen. Als 2008 meine Tochter Nora geboren wurde, brachen die Gespräche ab. Im Juli 2012 redete ich noch einmal mit meinem Großvater allein. /
Zu Beginn dachte ich nicht an eine Veröffentlichung, diese Idee entstand erst im Laufe der Jahre. Es war als Familienprojekt geplant. [...] Meine Fragen sind nicht objektiv und können es nicht sein. Ich frage als Enkelin, nicht als Journalistin. [...] Beim Verfassen der Anmerkungen für dieses Buch bemerkte ich, wie viele Bekannte, Freunde oder Kollegen meiner Großeltern unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, entweder im KZ, im Exil oder im Widerstand gewesen waren und wie viele von ihnen danach in der DDR wieder in große Konflikte gerieten." (S. 10-11)
Gespräch Berlin-Pankow, 22.8.1998
Gerhard Wolf: "Damals, als ich ein Junge war, hatte Bad Frankenhausen 8000 Einwohner, ein Sole-Schwimmbad, ein Heim für Asthmakranke, das nach dem Krieg ein Kinderheim war und von Christas, Vater, Opa Ihlenfeld, geleitet wurde. Bei Frankenhausen gibt es den berühmten Schlachtberg, wo 1525 die aufständischen Bauern besiegt wurden. Mein Vater war in der Partei gewesen und Buchhalter beim Reichskiegerbund. [...]
Jana Simon: Wie war das für dich, dein Vater war NSDAP-Mitglied und du warst nicht in der Hitlerjugend, oder?
GW: Doch. Im Gegensatz zu Christa war ich aber kein begeisterter Hitler-Anhänger. Ich passte nicht in die Hitlerjugend. Damit verknüpfe ich eher traumatische Erinnerungen: Einmal führte uns der Fähnleinführer ins Schwimmbad und warf alle Nichtschwimmer einfach ins Wasser, wo sie absoffen. Die Fähnleinführer, das waren große, kräftige Kerle, und ich war ein kleiner, dünner, blonder / Junge. Manche lernten dann mit Eifer schwimmen, aber ich weigerte mich, hatte so eine Abwehrhaltung, die sich noch verstärkte, als mein Vater im Krieg wieder heiratete. Meine Mutter war 1938 an Brustkrebs gestorben, da war ich zehn. Und mein Vater hatte seine neue Frau Felicitas, genannt, Feechen, durch einen Feldpostbrief kennengelernt. Das war eine richtige Nazi-Frau, sie trug das goldene Sportabzeichen und wollte mich auch gleich wieder zum Schwimmen schleppen. Aber ich machte nicht mit. [...]
GW: Mein Vater gehörte wie Opa Ihlenfeld zu den Jahrgängen, die noch im ersten Weltkrieg gekämpft hatten. [...] Übrigens wollte er einmal Journalist werden, der Einzige in der Familie. Die anderen waren alle Handwerker, mehrere Generationen Büchsenmacher in Suhl. Die waren nie im Krieg, sondern haben Gewehre gebaut. [...] (S.16/17)
GW über seine Stiefmutter.
"Wir haben neulich übrigens einen untertänigen Brief von mir an sie gefunden. Das muss ich gemacht haben , damit ich einen guten Stand bei ihr hatte.
JS Du mochtest diese neue Frau nicht besonders?
GS Nein, aber mein Bruder Dieter hat eben diesen Brief gefunden, in dem ich die neue Mutti begrüße. Indem ich schreibe: 'Gut, dass wir wieder eine Familie sind.' Ziemlich brav und unterwürfig.
Christa Wolf: Ganz gefühltriefend. /
GW: Was mich selbst erstaunte, weil es ja nicht der Wahrheit entsprach. [...] Mit 15 Jahren wurde ich als Luftwaffenhelfer eingezogen. Wie jung wir da waren! [...]" (S.18/19)
"Dort passierte nicht viel. Bis Januar 1945. Dann wurden wir alle an die Front, an die Oder geschmissen. Hier standen viele Flakbatterien großen Kalibers, die hatten aber kaum Munition [...] Und dann geriet ich in Gefangenschaft. Oben in Mecklenburg, noch auf östlicher Seite der Elbe. Alle strömten dorthin. Es hieß: Weg von Russen, hin zu den Amerikanern. Es ging über Eberswalde bis hoch nach Mecklenburg, immer parallel zu den Flüchtlingstrecks. Wir saßen auf einem alten Feuerwehrwagen. Gewehr und Stahlhelm war ich weg. Als die Amerikaner uns gefangen nahmen hatte ich schon nichts mehr. [...] (S.19/20)
"JS: Warst du erleichtert, dass der Krieg vorbei war?
GW: Ja, man wollte nach Hause. Viele, die früh nach Hause kamen, wurden von den Russen noch einmal geschnappt und gerieten erneut in Gefangenschaft. Es herrschte großes Durcheinander. [...] Ich war Telefonist, richtig gekämpft habe ich also nicht. Das ist hochinteressant, einige Jahre später arbeitete ich, als Dramaturg an dem Film Ich war neunzehn von Konrad Wolf mit. Seine Familie hatte in Russland in Exil gelebt, und er kämpfte auf Seiten der Russen. Im Krieg lagen wir beide uns 1945 an der Oder gegenüber, und ich hörte deren Agitation über Funk, die spielten deutsche Schlager und forderten uns auf, die Waffen niederzulegen. Diese Parolen trafen bei uns auf völlig taube Ohren. Sollten wir über die Oder schwimmen oder was? [...] JS: Das heißt, du hast damals an den Nationalsozialismus geglaubt?" (S.21)
GW: Du, das ist eine komische Frage! Was heißt geglaubt? Wir haben uns an der Front darüber unterhalten, dass die Amerikaner schon in Eisenach standen, fragten uns: Was soll das eigentlich alles noch? Wie kommen wir nach Hause? Was ist los? Das waren die Fragen, die uns bewegten
JS: Hattest du Angst um dein Leben?
GW: So eine richtige Urangst hatte ich eigentlich nie. [...] An eine Begebenheit kann ich mich erinnern, aber nicht mehr an den Ort, an dem das geschah. Da haben wir uns eingegraben und Geschütze aufgestellt. Mich stellten sie sogar an ein Maschinengewehr, womit ich mich überhaupt nicht auskannte , dann kamen die Russen, liefen in Reihen auf uns zu, und die Kugeln surrten. Gott sei Dank gab es den Befehl, dass wir Fernsprecher wegrücken sollten. Ich war froh, wir rannten, und die Kugeln pfiffen um uns herum. Unsere Batterie passierte aber nicht viel, die gaben ein paar Schüsse ab, sprengten die Kanonen und setzten sich ab. Ich saß in einem Funkwagen, neben mir verblutete, ein Mann, er war ganz bleich im Gesicht, und das Blut sickerte aus seinem Arm. Dann erschien ein Ritterkreuzträger und wollte uns aufhalten. Er schoss in die Luft, schrie wir sollten uns verteidigen. Es war ein völliges Durcheinander. Die Flucht war sehr abenteuerlich.[...]" (S.22)
JS; Wusstest du in dieser zu dieser Zeit, dass es Konzentrationslager gab? Hattest du irgendwas mitbekommen?
GW (überlegt) Das ist schwer zu beantworten.
CW: Ich wusste es.
GW: Da müsste ich sehr genau überlegen. Gesprochen wurde darüber sicher kaum.
CW: Bei uns hießen die KZs, wenn die Erwachsenen darüber sprachen – Konzertlager.
JS: Wieso Konzertlager?
CW: [...] Es muss 1935 oder 1936 gewesen sein, dass ich das erste Mal dieses Wort hörte. Mein Vater sagte es selbst: Ein Kunde, der Mann von Soundso, der sei jetzt aus dem Konzertlager gekommen, Aber die dürften ja nichts erzählen. Das merkte ich mir, weil es von einem Geheimnis umgeben war und von etwa sehr Ungutem. Man spürte es daran, wie leise die Erwachsenen darüber sprachen, sie flüsterten. Dass KZs gab, das wusste man. /
JS: Konntet ihr euch etwas Konkretes darunter vorstellen?
CW: Nein, überhaupt nicht.
GEW: Das ist ganz schwer genau nachzuvollziehen. Ich weiß noch, dass wir gleich nach dem Krieg mit Freunden in Bad Frankenhausen in das Stück des Schriftstellers Günther Weisenborn Die Illegalen gingen. Darin verarbeitete er seine Zeit im Widerstand gegen die Nazis, darüber lachten wir nur." (S. 23/24)
"JS: Alles andere habt ihr erst nach dem Krieg erfahren? Wie haben diese furchtbaren Enthüllungen auf euch gewirkt? Das muss doch ein Schock gewesen sein!
CW: Es war vernichtend. Na, pass mal auf, was ich zum Beispiel vorher wusste oder ahnte, ist, dass die Juden verfolgt wurden. Meine Tante Grete, hatte nach damaliger Einschätzung einen jüdischen Touch – dunkle Haare, gebogene Nase. Sie war eine aparte Frau und hatte einen Mann, den sie wahnsinnig lebte. Aber der hatte eine Geliebte. Deshalb trennte sich Tante Grete von ihm. Eines Tages kam sie zu uns und sagte: 'Stellt euch vor, diese Geliebte verbreitet, dass ich Jüdin bin!' Das war in den dreißiger Jahren eine Katastrophe. Ich war noch klein, vielleicht sieben Jahre alt, und bekam ein furchtbaren Schreck. Ich ging in die Küche, setzte mich auf den Kohlenkasten. Meine Mutter fragte: 'Was ist denn?' Ich sagte: 'Ich will keine Jüdin sein.' Da sagte meine Mutter: 'Um Gottes willen, woher weiß das Kind, was eine Jüdin ist.' Ich will damit nur andeuten, es lag etwas in der Luft. Aber ich könnte heute nicht sagen, woher ich mit sieben Jahren wusste, dass es gefährlich ist, Jüdin zu sein." (S.25)
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