18 Juli 2024

Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler

 Ich habe die "Geschichte eines Deutschen" über die Zeit vor 1933 sehr geschätzt und mich gefragt, weshalb ich die "Anmerkungen zu Hitler" nicht hatte. Vermutlich, weil das Buch 1978 herauskam und wir 1979 nach England gegangen sind.

Und in diesem Buch war mir vor allem der Abschnitt "Leistungen" interessant. Er hebt hervor, das "Wirtschaftswunder" (S. 35), wobei er betont, dass der Ausdruck besser auf Hitlers Leistung als auf Ehrhard passe. Dann nennt er die Aufrüstung und die Entscheidung für die Panzerwaffe. Alles unter den positiven Leistungen, nachdem er zuvor die Beseitigung der Opposition durch KZ, als "psychologische Meisterleistung" (S. 35) bezeichnet hat und in diesem Zusammenhang die Ausschaltung der Parteien und die Gleichschaltung nicht erwähnt hat, sondern erst später zur Sprache bringt (als "Beseitigung des Staates", die ein Chaos hinterließ, was nur er bändigen konnte.)

So gelingt es Haffner, das abgedroschene Hitler-Lob, "aber die Autobahnen" wie neu erscheinen zu lassen und dadurch den Leser fast in die Rolle des Zeitgenossen zu versetzen, der den Terror über dem Staunen über das Erreichte, verdrängte. 

Das hat mir an Haffners Darstellung der Inflation (in "Geschichte eines Deutschen") so imponiert, wo er am Beispiel seines Vaters, eines hohen Regierungsbeamten, vorführt, wie hilflos, der dem Geschehen ausgesetzt war, während die Jugend, die sich auf Spekulation einzustellen vermochte, schlagartig den Lebenserfolg der älteren Generation übertrumpfen und als wertlos erscheinen lassen konnte. 


Haffner erläutert allgemein gesehen dazu:
Nach Hitlers Verständnis ist Geschichte der Lebenskampf von Völkern und jedes Volk hat die Absicht, so viel Lebensraum zu erwerben, dass es sich möglichst weit entwickeln kann. Das Endziel ist dabei, die Weltherrschaft über alle Völker zu gewinnen.
Daneben steht aber die Auffassung, dass ein Volk (oder eine Rasse?) eine andere Absicht verfolge. Das seien die Juden. Denn die Juden kämpften nicht um Lebensraum, sondern darum, die Lebensmöglichkeit aller anderen Völker der Welt zu zerstören. Deshalb müssten  alle anderen Völker Gegner der Juden sein. Haffner verweist darauf, dass der Widerspruch darin liegt, dass einerseits alle Völker gegeneinander kämpfen müssten, um für sich selbst den Sieg zu erringen, dass aber andererseits alle Völker die Juden als gemeinsame Gegner haben müssten.
Das Problem des Gedankengebäudes ist demnach, dass  der Lebenskampf um Lebensraum der Völker und der Kampf gegen die Juden im Widerspruch stehen.
Um das Verhalten der Juden zu erklären, führt Hitler ein, dass die Juden für alles sind, was international ist und was über den Bereich eines Volkes hinausgeht und dass dies zu der Zerstörung der Völker allgemein führen müsse.

Dass beides schon in der Theorie nicht recht zusammenpasst, ist das eine. Das andere ist, dass sein Ziel die Weltherrschaft für das deutsche Volk zu erzielen, in eindeutigem Widerspruch dazu steht, dass er für die Menschheit die Juden insgesamt vernichten will und damit seine Kraft aufspaltet , weil gleichzeitig die Weltherrschaft erreicht und gleichzeitig die Juden auf der gesamten Welt zerstört werden sollen. 

Zitate:

"Die Geschichte Frankreichs zwischen 1919 und 1939, die Geschichte eines bitter-schwer errungenen und dann ganz und gar verlorenen Sieges und eines stufenweisen Abstiegs von stolzestem Selbstbewusstsein zur fast schon vollzogenen Selbstaufgabe, ist eine Tragödie. In Deutschland, wo man Frankreich immer noch als den boshaften Quälgeist der ersten Nachkriegsjahre im Gedächtnis hatte, wurde sie natürlich nicht so gesehen. Vielmehr: Sie wurde überhaupt nicht gesehen. Man glaubte, es immer noch mit noch nicht nur mit dem triumphierenden Frankreich von 1919, sondern auch mit dem heroischen Frankreich von 1914 zu tun zu haben. Die deutschen Generale hatten vor einer neuen Marne und einem neuen Verdun fast ebenso viel Angst wie die Franzosen. und nicht nur die Deutschen – das war das erstaunliche: die ganze Welt, England und Russland voran , setzten in ihre Rechnungen bei Kriegsausbruch 19 39 wie selbstverständlich ein Frankreich ein, dass jederzeit, wie 1914, bereit sein würde, zur Verteidigung seines Bodens das Blut seiner Söhne in Strömen fließen zu lassen. Nur Hitler tat nichts dergleichen." (S.85)

"Hitler war seiner Sache sicher. Und man muss es ihm/lassen, er hatte recht. Der Frankreichfeldzug wurde sein größter Erfolg. (S. 86/87).

"Hitler, so sehr er in Fragen der Taktik und des Timing, seinem Instinkt – seiner "Intuition" – vertraute, richtete sich in seiner politischen Strategie durchaus nach festen, sogar starren Grundideen, die er sich über dies so zurechtgelegt hatte, dass sie ein in sich einigermaßen schlüssiges, wenn auch an den Rändern ausgefranztes System bildeten– eine "Theorie" im marxistischen Sinne." (S. 90)

"Träger, alles geschichtlichen Geschehen sind nur Völker oder Rassen – weder Klassen noch Religionen und streng genommen nicht einmal Staaten. Geschichte "ist die Darstellung des Verlaufs des Lebenskampfes eines Volkes"  Oder auch, wahlweise: "Alles weltgeschichtliche Geschehen aber ist nur die Äußerung des Selbsterhaltungtriebes der Rassen."  Der Staat ist "prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf". Oder, etwas weniger defensiv: "Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen." "Die Innenpolitik hat einem Volk die innere Kraft zu sichern für seine außenpolitische Behauptung." / Diese außenpolitische Behauptung besteht im Kampf: "Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht", und der Kampf zwischen Völkern (oder Rassen) spielt sich normaler- und natürlicherweise als Krieg ab.  Richtig betrachtet, "verlieren Kriege den Charakter einzelner mehr oder minder gewaltiger Überraschungen, sondern gliedern sich ein in ein natürliches, ja selbstverständliches System einer gründlichen, gut fundierten, dauerhaften Entwicklung eines Volkes." "Politik ist die Kunst der Durchführung des Lebenskampf eines Volkes um sein irdisches Dasein. Außenpolitik ist die Kunst, einem Volke den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern.  Innenpolitik ist die Kunst, einem Volke den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten." (S.93)

In seinem zweiten Buch schreibt Hitler über die Juden:
" 'So wie jedes Volk als Grundtendenz seines gesamten, irdischen Handelns, die Sucht der Erhaltung seiner selbst als treibende Kraft besitzt, genauso auch das Judentum.' Er fügt aber gleich hinzu: 'Nur ist hier entsprechend der grundverschiedenen Veranlagung, arischer Völker und des Judentums der Lebenskampf auch in seinen Formen verschieden.' 
Denn die Juden [...] sind in ihrem Wesen nach international, unfähig zur Staatsbildung. 'Jüdisch' und 'international' sind für Hitler geradezu Synonyme; alles, was international ist, ist jüdisch und in diesem Zusammenhang spricht Hitler dann sogar doch von einem jüdischen Staat:  'Der jüdische Staat war nie in sich räumlich begrenzt, sondern universell unbegrenzt auf den Raum, aber beschränkt auf die Zusammenfassung einer Rasse.'. Und daher – nun kommt es – ist dieser 'jüdische Staat', das 'internationale Weltjudentum', der Feind aller übrigen Staaten, die er mit allen Mitteln gnadenlos bekämpft,  Außenpolitisch durch Pazifismus und Internationalismus, Kapitalismus und Kommunismus, innenpolitisch durch Parlamentarismus und Demokratie. Alles / dies sind Mittel zur Schwächung und Zerstörung des Staates, und alles ist die Erfindung der Juden, denn mit allem sind sie nur auf eines aus: die 'arischen' Völker in ihrem prächtigen Kampf um Lebensraum (an dem die Juden listiger Weise nicht teilnehmen) zu stören und zu schwächen, umso ihre eigene, verderbliche Weltherrschaft sicherzustellen. [...]. Warum müssen alle Völker gegen die Juden zusammenstehen, obwohl sie doch eigentlich voll damit beschäftigt sind, untereinander, um Lebensraum zu kämpfen? Antwort: Sie müssen es, gerade weil sie um Lebensraum zu kämpfen haben, und damit sie sich ungestört ihrem Kampf um Lebensraum widmen können.  Die Juden sind in diesem schönen Spiel die Spielverderber; mit ihrem Internationalismus und Pazifismus, ihrem (internationalen), Kapitalismus und (ebenso internationalen) Kommunismus lenken Sie die arischen Völker von ihrer Hauptaufgabe und Hauptbeschäftigung ab, und deswegen müssen sie weg, ganz weg, aus der Welt, nicht etwa nur aus Deutschland;  sie müssen 'entfernt' werden, aber nicht wie ein Möbelstück, dass man entfernt, in dem man es anderswohin schafft, sondern wie ein Fleck, den man entfernt, indem man ihn auslöscht. Man darf Ihnen auch keinen Ausweg lassen. Wenn sie ihre Religion ablegen, bedeutet das gar nichts, da sie ja keine Religionsgemeinschaft sind, sondern eine Rasse;  Und wenn sie sogar ihre Rasse durch Vermischung mit 'Ariern' zu entkommen suchen, dann ist das noch schlimmer, denn damit verschlechtern Sie die 'arische' Rasse und machen das jeweilige Volk untüchtig für seine notwendigen Lebenskampf. Wenn sie aber in diesem Volk aufgehen wollen und deutsche, französische, englische oder sonstige Patrioten werden, dann ist das alles ist das das Allerschlimmste:  Denn dann sind sie darauf aus, 'die Völker in / gegenseitige Kriege zu stürzen (aber ist das denn nicht laut Hitler gerade das, wozu die Völker da sind?) und auf diesem Wege langsam mithilfe der Macht des Geldes und der Propaganda, sich zu ihren Herren aufzuschwingen.' Man sieht die Juden können tun, was sie wollen: im Unrecht sind sie immer; und ausgerottet werden müssen Sie auf jeden Fall." (S. 99-101). 

Zu Hitlers Kriegserklärung an die USA:
Als im April 1941 der deutsche Aufmarsch gegen Russland unübersehbar wurde, hatte Japan mit Russland ein Neutralitätsabkommen getroffen, das es auch korrekt einhielt; und es waren sibirische Truppen gewesen, von der russisch-japanischen Militärgrenze in der Mandschurei abgezogen, die die deutsche Moskauoffensive zum Stehen gebracht hatten. Hitler wäre nicht nur juristisch, sondern auch moralisch vollkommen im Recht gewesen, Japans Krieg gegen Amerika als willkommene Ablenkungs- und Entlastungsoperation zu behandeln, die er für Deutschland hätte sein können, und ihm ebenso kaltlächelnd, zuzuschauen, wie Japan, dem deutschen Krieg gegen Russland zuschaute –  zumal er ja auch gar nichts tun konnte, um Japan irgendwelchen aktiven Beistand zu leisten. Und dass er nicht der Mann war, seine Politik durch sentimentale Anhänglichkeitsgefühle beeinflussen zu lassen, schon gar nicht gegenüber Japan, braucht wohl nicht gesagt zu werden.
Nein, was Hitler veranlasste, den Eintritt Amerikas in den deutschen Krieg, den er bisher nach Kräften hintangehalten hatte, nun selbst herbeizuführen, war nicht der japanische Angriff auf Pearl Harbor, sondern die erfolgreiche russische Gegenoffensive vor Moskau, die bezeugtermaßen Hitler, die intuitive Erkenntnis vermittelt hatte, 'daß kein Sieg mehr errungen werden konnte'. Soviel lässt sich mit einiger Sicherheit sagen. Aber erklärt ist Hitlers Schritt damit nicht." (S.138) 

Haffner bringt als Motivation ins Spiel, dass Hitler jetzt, da er nicht mehr an einen Sieg glauben konnte, das deutsche Volk aufgegeben hat und sich auf sein zweites Ziel: 'Vernichtung der Juden' konzentriert hat.
"[...] vor zwei ausländischen Besuchern, dem dänischen Außenminister Scavenius und dem kroatischen Außenminister Lorkowitsch, hatte er schon am 27. November – als die russische Gegenoffensive noch nicht einmal eingesetzt hatte, sondern nur die deutsche Offensive auf Moskau zum Stehen gebracht worden war – seltsame Reden geführt, die aufgezeichnet worden sind. 'Ich bin auch hier eiskalt', hatte er gesagt. 'Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen stärkeren Macht vernichtet werden… Ich werde dann dem deutschen Volk keine Träne nachweinen.' " (S.141)

"Während die deutschen Armeen ihren langen opferreichen und vergeblichen Verzögerungskampf führe, rollen Tag für Tag Züge mit Menschenfracht in die Vernichtungslager. Im Januar 1942 ist die 'Endlösung der Judenfrage' angeordnet worden." (S.143)

"Die Vernichtung Deutschlands war das letzte Ziel, das Hitler sich setzte. Er hat es nicht ganz erreichen können, so wenig wie seine anderen Vernichtungsziele. Erreicht hat er damit, dass Deutschland sich am Ende von ihm lossagte – schneller als erhofft, und auch gründlicher. Dreiunddreißig Jahre nach dem endgültigen Sturz Napoleons wurde in Frankreich ein neuer Napoleon zum Präsidenten der Republik gewählt.  Dreiunddreißig Jahre nach Hitlers Selbstmord hat niemand in Deutschland auch nur die kleinste politische Außenseiterchance, der sich auf Hitler beruft und an ihn anknüpfen will. Das ist nur gut so. Weniger gut ist, dass die Erinnerung an Hitler von den älteren Deutschen verdrängt ist und dass die meisten Jüngeren rein gar nichts mehr von ihm wissen.  Und noch weniger gut ist, dass viele Deutsche sich seit Hitler nicht mehr trauen, Patrioten zu sein. Denn die deutsche Geschichte ist mit Hitler nicht zu Ende. Wer das Gegenteil glaubt und sich womöglich darüber freut, weiß gar nicht, wie sehr er damit Hitlers letzten Willen erfüllt ." (Haffner, S.190)

Von heute aus, 46 Jahre nach Haffners Buch, ist seine damals durchaus sehr treffende Aussage leider überholt.

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