03 Juli 2025

Leonie Schöler: Beklaute Frauen

  Leonie Schöler: Beklaute Frauen

Rezensionen:

NDRSachbuch-CouchBooknerds; HeymannBuchserien; 

EINLEITUNG 11

"[...] Als vor circa 2,2 Millio­nen Jahren die ersten Menschen auf Erden wandelten, waren sie in ihrer Entwicklung aus heutiger Sicht vielleicht primi­tiv – aber das mit der natürlichen Ordnung von Mann und Frau hatten sie bereits verstanden. Mann und Frau, Yin und Yang, Gegensätze ziehen sich an!

So oder so ähnlich lautet die Erzählung der ersten Menschen, wie ich sie in der Schule gelernt habe. Den meisten, die jetzt diese Sätze lesen, wurde es vermutlich nicht anders beige­bracht! Ob in Büchern, Filmen oder auch im Museum: Die Ge­schichte der Jäger und Sammler wird bis heute stark über das Geschlecht erzählt. [...]

Lehrt uns die Geschichte denn nicht alles, was wir über das Zusammenleben von Mann und Frau wissen müssen?

Nun, in der Theorie tut sie das. In der Praxis ist es allerdings etwas komplizierter – denn natürlich können wir unsere erlernten Vorbehalte und Denkmuster auch dann nur schwer ablegen, wenn wir in die Vergangenheit blicken. Bezogen auf das Geschlecht nennt sich das in der Wissenschaft Gender Bias, oder auch: geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt. Der beschreibt, dass sich sexistische Vorurteile und Stereotype so sehr auf unser Denken auswirken, dass sie unsere Wahrnehmung der Welt verzerren. Als beispielsweise die Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts die biologischen Ursprünge des menschlichen Lebens erforschten, hatten sie ganz klare Vorstellungen von den Geschlechtern. So schrieb Charles Darwin 1871 in seinem Werk Die Abstammung des Menschen:

»Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern.«1

[...] Die anderen Wissenschaftler hatten nämlich größtenteils exakt die gleichen Vorurteile wie Darwin und suchten in der Geschichte und Biologie des Menschen unermüd­lich nach Beweisen für die Überlegenheit des Mannes. Als Ausgangspunkt für diese Annahme funktionierten die Jäger und Sammler ganz fantastisch: Die scheinbar klare Rollen­verteilung diente als Argument, dass dies die natürliche Ord­nung zwischen Mann und Frau sein müsse, die bereits in ihrer Biologie begründet sei.

Erste archäologische Untersuchungen bestätigten diese Auffassung. In den Gräbern von Männern waren Jagdwaffen und Werkzeuge beigelegt, wäh­rend Frauen Schmuck als Grabbeigabe erhielten. So grub man in den folgenden Jahrzehnten die Geschichte immer weiter um und buddelte ganz viele kleine und große Beweise aus für die eigene Vorstellung von der menschlichen Exis­tenz. [...] 

Seit wenigen Jahren gibt es tatsächlich eine neue Perspektive auf unsere Vergangenheit. 2018 wurde in den peruanischen Anden das mit Waffen reich bestückte Grab eines Kriegers ge­funden. Mithilfe modernster Technik wurden die circa 9000 Jahre alten Gebeine genealogisch analysiert, es wurde also ein DNA-Test gemacht – und etwas schier Unglaubliches be­wiesen: Das Skelett war das einer Frau![...] 30 bis 50 Prozent der untersuchten Skelette, die man bisher auf Grundlage der Waffen und Werkzeuge im Grab als männlich identifiziert hatte, waren biologische Frauen.

Zuletzt haben Archäo­log*innen einen Sensationsfund aus dem Jahr 2008 korri­giert: Damals war in der Nähe des südspanischen Valencia das Grab eines mächtigen Herrschers aus der Kupferzeit ent­deckt worden. Er bekam den Namen »Ivory Man«, in Anleh­nung an die prächtigen Grabbeigaben und Waffen aus El­fenbein, die sich deutlich von anderen Gräbern aus der Zeit unterschieden. Doch 2023 durchgeführte DNA-Tests ergaben, dass der Ivory Man eigentlich eine Ivory Lady war. Nicht nur das: Die Forschenden kamen in ihrer Studie auch zu dem Er­gebnis, dass

»sie zu einer Zeit, in der kein Mann eine auch nur annä­hernd vergleichbare soziale Stellung einnahm, eine führende gesellschaftliche Persönlichkeit war. Nur andere Frauen, die kurze Zeit später in […] einem Teil desselben Gräberfeldes bestattet wurden, scheinen eine ähnlich hohe soziale Stel­lung gehabt zu haben.«5

Offenbar waren in dieser Region vor 5000 Jahren nur Frauen die Anführerinnen gewesen. Gab es etwa doch gar keine strenge Mann-Frau-Aufteilung unter unseren Vorfahren? [...]"

Fontanefan: Anregend ist Schölers Perspektive unbedingt und sie fußt auf aktueller Forschung. Unklar bleibt mir dabei, weshalb sie zumindest in der Einleitung nicht auf die Geschichte der Matriarchatstheorien eingeht.

Zur Unterstützung ihrer These, dass das Denken der Zeit Einfluss auf das Geschichtsverständnis gehabt haben wird, verweise ich aber auf ein Beispiel vom Ende des 19. Jahrhunderts.


Kapitel eins (K)EINE BÜRGERIN

Der Fisch stinkt vom Kopfe her23

Auf den Barrikaden: Frauen in den Revolutionen von 1848/4929

Wer hat Angst vorm weißen Mann? »Rasse«, Klasse und Geschlecht im nationalen

 Selbstverständnis41

Frauen als Nicht-Bürgerinnen49

Kapitel zwei ENDSTATION: EHE

Der Matilda-Effekt 59

Ungleiche Bündnisse zwischen Zusammenarbeit und Ausbeutung62

Bis dass der Tod euch scheidet oder: Wo blieb der Widerstand? 74

Die Lücke im System: Warum zu heiraten sich für Frauen nicht lohnt84

Kapitel drei KÜNSTLER WIRD MIT ER GESCHRIEBEN

Im Namen des Vaters und des Sohnes: Frauen als Familienangestellte 97

Eleanor MarxJenny MarxJenny Caroline Longuet,

Berühmte Genies und ihre heimlichen Mitarbeiterinnen 118

Lucia MoholMarieluise FleißerElisabeth Hauptmann, Margarete Steffin*Ruth

 Berlau*

*""Als Brecht sich 1940 um ein USA-Visum für sie bemühte, beschrieb er sie als seine engste

 Mitarbeiterin: „Tatsächlich überblickt nur sie meine Tausende von Manuskriptblättern.“ Das

 war mit Sicherheit nicht übertrieben, Steffin führte fast die gesamte Korrespondenz mit

 Verlagen und Freunden, schrieb Brechts Texte ins Reine, war hier auch kritische Gutachterin,

 lernte Sprachen, dort wo es notwendig war, und ordnete Brechts Gedichte. Als Steffin starb,

 war Brecht über ein Jahr lang unfähig zu arbeiten.[2] Brechts Gedicht Nach dem Tod meiner

 Mitarbeiterin M.S. bezieht sich auf Margarete Steffin und hebt ihre Bedeutung für das

 brechtsche Werk hervor.

*  "In Dänemark, außerhalb seines Sprachraums und ohne Mitarbeiter, war Brecht zum ersten

 Mal auf sich allein gestellt. Ohne die bewährte Kollektivarbeit mit Ruth Berlau konnte er Die

 Gewehre der Frau Carrar nicht zu Ende schreiben. Der Mangel an Mitarbeitern war nach

 Ansicht Berlaus der wahre Grund, warum Brecht sie so sehr vermisst hatte. Berlau inszenierte

 (unter Mitarbeit Brechts) Die Gewehre der Frau Carrar. Die erste Aufführung mit Mitgliedern

 ihres Kopenhagener Arbejdernes Teater fand am 19. Dezember 1937 vor Emigranten statt.

 Das Aftenbladet schrieb in einer Rezension vom 20. Dezember 1937: „Das stark dramatische

 Stück wurde ausgezeichnet dargeboten, geprägt sowohl von der Begeisterung dieser

 Laienschauspieler als auch von der gekonnten Regie Ruth Berlaus. Namentlich Dagmar

 Andreasen als Mutter spielte fein und empfindsam.“ Eine zweite Aufführung fand am 14.

 Februar 1938 als Wohltätigkeitsveranstaltung für die Deutsch-Schüler in der Borups Höjskole

 Kopenhagen statt. Die Zeitungen waren erneut voller Lob und berichteten über eine gelungene Aufführung.[5]

Im August 1938 arbeitete Brecht mit Ruth Berlau an ihrer Novellensammlung Jedes Tier kann es, die 1940 mit dem dänischen Titel Ethvert dyr kan det unter dem Pseudonym Maria Sten herauskam. Für den von Ruth Berlau bearbeiteten englischen Schwank Alle wissen alles schrieb Brecht ein Vorwort, in dem er seiner „Sympathie zu dieser Art Gattung der Dramatik“ Ausdruck verlieh.[6]

Brecht war inzwischen nach Schweden übergesiedelt, und seine Mitarbeiterin Margarete Steffin unterstützte Berlau bei den Korrekturen der Svendborger Gedichte. Sie schickte die Zweitkorrektur an die Setzerei nach Kopenhagen, danach gab Berlau den Band mit eigenen Geldmitteln heraus.[7] Aus Bescheidenheit und anstatt sich selbst als Herausgeberin zu benennen, ließ Berlau Wieland Herzfelde mit seinem Malik-Verlag in London hineindrucken. Brecht schrieb darauf an sie: „Von allen Menschen, die ich kenne, bist Du der großzügigste.“ Von Herzfelde wurde sie später wegen der „hässlichen“ Form der Ausgabe, die nicht der der Gesammelten Werke entsprach, kritisiert."

Von der Muse geküsst oder: Können Frauen Kunst?137

Kapitel vier OHNE AUSZEICHNUNG

Prestige und Macht: Wieso Rosalind Franklin keinen Nobelpreis hat 155

Unsichtbar gemacht: Wieso Lise Meitner keinen Nobelpreis hat 177

Machtgefälle: Wieso Jocelyn Bell Burnell keinen Nobelpreis hat 194

Eine Frage der Geschlechtertrennung 211

"Neuerdings dürfen trans Frauen nicht mal mehr im Damenschach antreten. Personen, die in einem männlichen Körper geboren wurden, sind also im logischen Denken besser als biologische Frauen – oder was soll uns das sagen? Nun ja, diese Auffassung spiegelt sich zwar kaum die tatsächlichen Ergebnisse wider, denn mitnichten gewinnen trans Athletinnen haushoch überlegen in allen Sportarten. Es zeigt aber auf, wie nicht-binäre Identitäten zum Spielball werden, um die binäre Geschlechtsordnung aufrecht zu erhalten. Dazu passt auch, dass mit trans und inter Personen im Sport aktuell genauso umgegangen wird, wie man lange Zeit mit Frauen umgehen. Erst ignorieren, dann hitzig, polemisch und über die Köpfe der betreffenden Personen hinweg diskutieren, um sie dann zu sperren und ihnen die Teilnahme an Wettkämpfen zu verbieten. [...] Es ist ja nicht so, als gäbe es im Sport nicht auch unabhängig vom Geschlecht körperliche Vorteile oder Einschränkungen, für die man bereits Lösung gefunden hat, so wie Alters- und Gewichtsklassen, um nur mal zwei Beispiele zu nennen. Oder man nimmt sich die Paralympics zum Vorbild: Dort spielen die körperlichen Voraussetzungen der jeweiligen Leistungssportler*innen eine selbstverständliche Rolle dabei, in welcher Gruppe sie antreten. Niemand spricht von Vor- oder Nachteilen; es geht einfach darum, dass Menschen sich miteinander messen können, deren Grundvoraussetzungen ähnlich sind. Dass man über breiter gefächerte Startgruppen nicht auch bei nicht-behinderten Athlet*innen diskutiert, ist für mich ein Hinweis auf / ein fehlendes Interesse bei vielen Verbänden und Sportfunktionär*innen, wirklich faire Startbedingungen für alle zu schaffen." (S. 220/221).

Es geht einfach darum, dass Menschen sich miteinander messen können, deren Grundvoraussetzungen ähnlich sind.

Diesen Grundsatz will Schöler bei den Unterschieden zwischen Geschlechtern nicht gelten lassen. Dankenswerterweise führt sich aber auch gleich die Beispiele an, die deutlich machen, dass das, was bei Alters- und Gewichtsklassen ohne weiteres möglich ist bei der Trennung nach Geschlechtern problematisch wird: Beim Boxen unterscheidet man nach Gewichtsklassen, weil ein Boxer mit Fliegengewicht gegen einen Boxer im Schwergewicht (allgemein anerkannt) keine Chancen hat und weil es leicht ist, nach objektiven Kriterien (Gewicht) zu trennen. Freilich ist die Anerkennung, um die es Schöler geht, in den niedrigeren Gewichtsklassen weit geringer. Schwergewichtsweltmeister sind nicht selten weltbekannt, Fliegengewichtsmeister nicht. Fast noch deutlicher ist es bei den Behindertenwettkämpfen. Bis die Paralympics Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zugänglich wurden, dauerte es lange. Ihre Wettkämpfe werden aber weiterhin nicht zugleich mit den allgemeinen Olympischen Spielen ausgetragen. Wenn die Olympischen Siele für Männer und Frauen getrennt ausgetragen würden, wäre das in Schölers Sinne? 

Aber nicht nur das: Bei den ersten olympischen Behindertenwettkämpfen galt nur eine einzige Hilfe als erlaubt: der Rollstuhl. Wenn aber Laufwettbewerb mit Hilfen erlaubt sind, wird sofort die Bedingung, dass die Grundvoraussetzungen ähnlich sind, fragwürdig. Zu groß sind die Unterschiede von technischen Hilfsmitteln. 

Schölers Vorstellung, dass man nach Altersklassen trennen könne, hat den Charme, dass das (bei Mannschaftssportarten, z.B. beim Fußball) schon lange geschieht. Aber kein U21-Fußballer wird die Chance, dass er in der Klasse ohne Altersbeschränkung mitspielen darf, verpassen wollen; denn erst da gilt die Auszeichnung richtig. 

Doch grotesk wird es erst, wenn Schöler sich beklagt über "ein fehlendes Interesse bei vielen Verbänden und Sportfunktionär*innen, wirklich faire Startbedingungen für alle zu schaffen". Wie sollte man erreichen, dass für alle Sportarten, alle Arten von Behinderung, alle Gewichts- und Altersklassen "wirklich faire Startbedingungen für alle" geschafft werden? Wäre damit nicht sofort die Anerkennung aufs Spiel gesetzt, wenn man nicht die Chance hat, sich auch bei höheren Ansprüchen zu beweisen?

Wenn alle Wettbewerbe in getrennten Leistungsgruppen stattfinden müssten, wäre die Organisation unsinnig erschwert und die öffentliche Sichtbarkeit von Leistungen nahezu beseitigt. (Kommentar Fontanefan)


Kapitel fünf WIDERSTAND

Blutrünstige Amazonen oder: Die Furcht vor der kämpfenden Frau 225

Rote Huren, Soldatenflittchen und Frontschlampen: Frauen im Krieg 233

Erinnerungskultur ist Identitätspolitik 249

Wem nützt weißer Feminismus? 260

Kapitel sechs VERGESSEN UND AUSGELÖSCHT

Noch nie gehört: Frauen hinter männlichen Pseudonymen 271

Goethe, Lessing, Brecht und Co.: Bildung ist weiß und männlich 280

Noch nie gesehen: Das Phänomen der »Wiederentdeckten Frau« 290

Google mal CEO: Warum Algorithmen männlich denken 301

SCHLUSSWORT 315

ANHANG 323