Leonie Schöler: Beklaute Frauen
Rezensionen:
NDR; Sachbuch-Couch; Booknerds; Heymann; Buchserien;
EINLEITUNG 11
"[...] Als vor circa 2,2 Millionen Jahren die ersten Menschen auf Erden wandelten, waren sie in ihrer Entwicklung aus heutiger Sicht vielleicht primitiv – aber das mit der natürlichen Ordnung von Mann und Frau hatten sie bereits verstanden. Mann und Frau, Yin und Yang, Gegensätze ziehen sich an!
So oder so ähnlich lautet die Erzählung der ersten Menschen, wie ich sie in der Schule gelernt habe. Den meisten, die jetzt diese Sätze lesen, wurde es vermutlich nicht anders beigebracht! Ob in Büchern, Filmen oder auch im Museum: Die Geschichte der Jäger und Sammler wird bis heute stark über das Geschlecht erzählt. [...]
Lehrt uns die Geschichte denn nicht alles, was wir über das Zusammenleben von Mann und Frau wissen müssen?
Nun, in der Theorie tut sie das. In der Praxis ist es allerdings etwas komplizierter – denn natürlich können wir unsere erlernten Vorbehalte und Denkmuster auch dann nur schwer ablegen, wenn wir in die Vergangenheit blicken. Bezogen auf das Geschlecht nennt sich das in der Wissenschaft Gender Bias, oder auch: geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt. Der beschreibt, dass sich sexistische Vorurteile und Stereotype so sehr auf unser Denken auswirken, dass sie unsere Wahrnehmung der Welt verzerren. Als beispielsweise die Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts die biologischen Ursprünge des menschlichen Lebens erforschten, hatten sie ganz klare Vorstellungen von den Geschlechtern. So schrieb Charles Darwin 1871 in seinem Werk Die Abstammung des Menschen:
»Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern.«1
[...] Die anderen Wissenschaftler hatten nämlich größtenteils exakt die gleichen Vorurteile wie Darwin und suchten in der Geschichte und Biologie des Menschen unermüdlich nach Beweisen für die Überlegenheit des Mannes. Als Ausgangspunkt für diese Annahme funktionierten die Jäger und Sammler ganz fantastisch: Die scheinbar klare Rollenverteilung diente als Argument, dass dies die natürliche Ordnung zwischen Mann und Frau sein müsse, die bereits in ihrer Biologie begründet sei.
Erste archäologische Untersuchungen bestätigten diese Auffassung. In den Gräbern von Männern waren Jagdwaffen und Werkzeuge beigelegt, während Frauen Schmuck als Grabbeigabe erhielten. So grub man in den folgenden Jahrzehnten die Geschichte immer weiter um und buddelte ganz viele kleine und große Beweise aus für die eigene Vorstellung von der menschlichen Existenz. [...]
Seit wenigen Jahren gibt es tatsächlich eine neue Perspektive auf unsere Vergangenheit. 2018 wurde in den peruanischen Anden das mit Waffen reich bestückte Grab eines Kriegers gefunden. Mithilfe modernster Technik wurden die circa 9000 Jahre alten Gebeine genealogisch analysiert, es wurde also ein DNA-Test gemacht – und etwas schier Unglaubliches bewiesen: Das Skelett war das einer Frau!2 [...] 30 bis 50 Prozent der untersuchten Skelette, die man bisher auf Grundlage der Waffen und Werkzeuge im Grab als männlich identifiziert hatte, waren biologische Frauen.3
Zuletzt haben Archäolog*innen einen Sensationsfund aus dem Jahr 2008 korrigiert: Damals war in der Nähe des südspanischen Valencia das Grab eines mächtigen Herrschers aus der Kupferzeit entdeckt worden. Er bekam den Namen »Ivory Man«, in Anlehnung an die prächtigen Grabbeigaben und Waffen aus Elfenbein, die sich deutlich von anderen Gräbern aus der Zeit unterschieden. Doch 2023 durchgeführte DNA-Tests ergaben, dass der Ivory Man eigentlich eine Ivory Lady war. Nicht nur das: Die Forschenden kamen in ihrer Studie auch zu dem Ergebnis, dass
»sie zu einer Zeit, in der kein Mann eine auch nur annähernd vergleichbare soziale Stellung einnahm, eine führende gesellschaftliche Persönlichkeit war. Nur andere Frauen, die kurze Zeit später in […] einem Teil desselben Gräberfeldes bestattet wurden, scheinen eine ähnlich hohe soziale Stellung gehabt zu haben.«5
Offenbar waren in dieser Region vor 5000 Jahren nur Frauen die Anführerinnen gewesen. Gab es etwa doch gar keine strenge Mann-Frau-Aufteilung unter unseren Vorfahren? [...]"
Fontanefan: Anregend ist Schölers Perspektive unbedingt und sie fußt auf aktueller Forschung. Unklar bleibt mir dabei, weshalb sie zumindest in der Einleitung nicht auf die Geschichte der Matriarchatstheorien eingeht.
Zur Unterstützung ihrer These, dass das Denken der Zeit Einfluss auf das Geschichtsverständnis gehabt haben wird, verweise ich aber auf ein Beispiel vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Kapitel eins (K)EINE BÜRGERIN
Der Fisch stinkt vom Kopfe her23
Auf den Barrikaden: Frauen in den Revolutionen von 1848/4929
Wer hat Angst vorm weißen Mann? »Rasse«, Klasse und Geschlecht im nationalen
Selbstverständnis41
Frauen als Nicht-Bürgerinnen49
Kapitel zwei ENDSTATION: EHE
Der Matilda-Effekt 59
Ungleiche Bündnisse zwischen Zusammenarbeit und Ausbeutung62
Bis dass der Tod euch scheidet oder: Wo blieb der Widerstand? 74
Die Lücke im System: Warum zu heiraten sich für Frauen nicht lohnt84
Kapitel drei KÜNSTLER WIRD MIT ER GESCHRIEBEN
Im Namen des Vaters und des Sohnes: Frauen als Familienangestellte 97
Eleanor Marx, Jenny Marx, Jenny Caroline Longuet,
Berühmte Genies und ihre heimlichen Mitarbeiterinnen 118
Lucia Mohol; Marieluise Fleißer, Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin*, Ruth
Berlau*,
*""Als Brecht sich 1940 um ein USA-Visum für sie bemühte, beschrieb er sie als seine engste
Mitarbeiterin: „Tatsächlich überblickt nur sie meine Tausende von Manuskriptblättern.“ Das
war mit Sicherheit nicht übertrieben, Steffin führte fast die gesamte Korrespondenz mit
Verlagen und Freunden, schrieb Brechts Texte ins Reine, war hier auch kritische Gutachterin,
lernte Sprachen, dort wo es notwendig war, und ordnete Brechts Gedichte. Als Steffin starb,
war Brecht über ein Jahr lang unfähig zu arbeiten.[2] Brechts Gedicht Nach dem Tod meiner
Mitarbeiterin M.S. bezieht sich auf Margarete Steffin und hebt ihre Bedeutung für das
brechtsche Werk hervor.
* "In Dänemark, außerhalb seines Sprachraums und ohne Mitarbeiter, war Brecht zum ersten
Mal auf sich allein gestellt. Ohne die bewährte Kollektivarbeit mit Ruth Berlau konnte er Die
Gewehre der Frau Carrar nicht zu Ende schreiben. Der Mangel an Mitarbeitern war nach
Ansicht Berlaus der wahre Grund, warum Brecht sie so sehr vermisst hatte. Berlau inszenierte
(unter Mitarbeit Brechts) Die Gewehre der Frau Carrar. Die erste Aufführung mit Mitgliedern
ihres Kopenhagener Arbejdernes Teater fand am 19. Dezember 1937 vor Emigranten statt.
Das Aftenbladet schrieb in einer Rezension vom 20. Dezember 1937: „Das stark dramatische
Stück wurde ausgezeichnet dargeboten, geprägt sowohl von der Begeisterung dieser
Laienschauspieler als auch von der gekonnten Regie Ruth Berlaus. Namentlich Dagmar
Andreasen als Mutter spielte fein und empfindsam.“ Eine zweite Aufführung fand am 14.
Februar 1938 als Wohltätigkeitsveranstaltung für die Deutsch-Schüler in der Borups Höjskole
Kopenhagen statt. Die Zeitungen waren erneut voller Lob und berichteten über eine gelungene Aufführung.[5]
Im August 1938 arbeitete Brecht mit Ruth Berlau an ihrer Novellensammlung Jedes Tier kann es, die 1940 mit dem dänischen Titel Ethvert dyr kan det unter dem Pseudonym Maria Sten herauskam. Für den von Ruth Berlau bearbeiteten englischen Schwank Alle wissen alles schrieb Brecht ein Vorwort, in dem er seiner „Sympathie zu dieser Art Gattung der Dramatik“ Ausdruck verlieh.[6]
Brecht war inzwischen nach Schweden übergesiedelt, und seine Mitarbeiterin Margarete Steffin unterstützte Berlau bei den Korrekturen der Svendborger Gedichte. Sie schickte die Zweitkorrektur an die Setzerei nach Kopenhagen, danach gab Berlau den Band mit eigenen Geldmitteln heraus.[7] Aus Bescheidenheit und anstatt sich selbst als Herausgeberin zu benennen, ließ Berlau Wieland Herzfelde mit seinem Malik-Verlag in London hineindrucken. Brecht schrieb darauf an sie: „Von allen Menschen, die ich kenne, bist Du der großzügigste.“ Von Herzfelde wurde sie später wegen der „hässlichen“ Form der Ausgabe, die nicht der der Gesammelten Werke entsprach, kritisiert."
Von der Muse geküsst oder: Können Frauen Kunst?137
Kapitel vier OHNE AUSZEICHNUNG
Prestige und Macht: Wieso Rosalind Franklin keinen Nobelpreis hat 155
Unsichtbar gemacht: Wieso Lise Meitner keinen Nobelpreis hat 177
Machtgefälle: Wieso Jocelyn Bell Burnell keinen Nobelpreis hat 194
Eine Frage der Geschlechtertrennung 211
"Neuerdings dürfen trans Frauen nicht mal mehr im Damenschach antreten. Personen, die in einem männlichen Körper geboren wurden, sind also im logischen Denken besser als biologische Frauen – oder was soll uns das sagen? Nun ja, diese Auffassung spiegelt sich zwar kaum die tatsächlichen Ergebnisse wider, denn mitnichten gewinnen trans Athletinnen haushoch überlegen in allen Sportarten. Es zeigt aber auf, wie nicht-binäre Identitäten zum Spielball werden, um die binäre Geschlechtsordnung aufrecht zu erhalten. Dazu passt auch, dass mit trans und inter Personen im Sport aktuell genauso umgegangen wird, wie man lange Zeit mit Frauen umgehen. Erst ignorieren, dann hitzig, polemisch und über die Köpfe der betreffenden Personen hinweg diskutieren, um sie dann zu sperren und ihnen die Teilnahme an Wettkämpfen zu verbieten. [...] Es ist ja nicht so, als gäbe es im Sport nicht auch unabhängig vom Geschlecht körperliche Vorteile oder Einschränkungen, für die man bereits Lösung gefunden hat, so wie Alters- und Gewichtsklassen, um nur mal zwei Beispiele zu nennen. Oder man nimmt sich die Paralympics zum Vorbild: Dort spielen die körperlichen Voraussetzungen der jeweiligen Leistungssportler*innen eine selbstverständliche Rolle dabei, in welcher Gruppe sie antreten. Niemand spricht von Vor- oder Nachteilen; es geht einfach darum, dass Menschen sich miteinander messen können, deren Grundvoraussetzungen ähnlich sind. Dass man über breiter gefächerte Startgruppen nicht auch bei nicht-behinderten Athlet*innen diskutiert, ist für mich ein Hinweis auf / ein fehlendes Interesse bei vielen Verbänden und Sportfunktionär*innen, wirklich faire Startbedingungen für alle zu schaffen." (S. 220/221).
Es geht einfach darum, dass Menschen sich miteinander messen können, deren Grundvoraussetzungen ähnlich sind.
Diesen Grundsatz will Schöler bei den Unterschieden zwischen Geschlechtern nicht gelten lassen. Dankenswerterweise führt sich aber auch gleich die Beispiele an, die deutlich machen, dass das, was bei Alters- und Gewichtsklassen ohne weiteres möglich ist bei der Trennung nach Geschlechtern problematisch wird: Beim Boxen unterscheidet man nach Gewichtsklassen, weil ein Boxer mit Fliegengewicht gegen einen Boxer im Schwergewicht (allgemein anerkannt) keine Chancen hat und weil es leicht ist, nach objektiven Kriterien (Gewicht) zu trennen. Freilich ist die Anerkennung, um die es Schöler geht, in den niedrigeren Gewichtsklassen weit geringer. Schwergewichtsweltmeister sind nicht selten weltbekannt, Fliegengewichtsmeister nicht. Fast noch deutlicher ist es bei den Behindertenwettkämpfen. Bis die Paralympics Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zugänglich wurden, dauerte es lange. Ihre Wettkämpfe werden aber weiterhin nicht zugleich mit den allgemeinen Olympischen Spielen ausgetragen. Wenn die Olympischen Siele für Männer und Frauen getrennt ausgetragen würden, wäre das in Schölers Sinne?
Aber nicht nur das: Bei den ersten olympischen Behindertenwettkämpfen galt nur eine einzige Hilfe als erlaubt: der Rollstuhl. Wenn aber Laufwettbewerb mit Hilfen erlaubt sind, wird sofort die Bedingung, dass die Grundvoraussetzungen ähnlich sind, fragwürdig. Zu groß sind die Unterschiede von technischen Hilfsmitteln.
Schölers Vorstellung, dass man nach Altersklassen trennen könne, hat den Charme, dass das (bei Mannschaftssportarten, z.B. beim Fußball) schon lange geschieht. Aber kein U21-Fußballer wird die Chance, dass er in der Klasse ohne Altersbeschränkung mitspielen darf, verpassen wollen; denn erst da gilt die Auszeichnung richtig.
Doch grotesk wird es erst, wenn Schöler sich beklagt über "ein fehlendes Interesse bei vielen Verbänden und Sportfunktionär*innen, wirklich faire Startbedingungen für alle zu schaffen". Wie sollte man erreichen, dass für alle Sportarten, alle Arten von Behinderung, alle Gewichts- und Altersklassen "wirklich faire Startbedingungen für alle" geschafft werden? Wäre damit nicht sofort die Anerkennung aufs Spiel gesetzt, wenn man nicht die Chance hat, sich auch bei höheren Ansprüchen zu beweisen?
Wenn alle Wettbewerbe in getrennten Leistungsgruppen stattfinden müssten, wäre die Organisation unsinnig erschwert und die öffentliche Sichtbarkeit von Leistungen nahezu beseitigt. (Kommentar Fontanefan)
Kapitel fünf WIDERSTAND
Blutrünstige Amazonen oder: Die Furcht vor der kämpfenden Frau 225
Rote Huren, Soldatenflittchen und Frontschlampen: Frauen im Krieg 233
Erinnerungskultur ist Identitätspolitik 249
Wem nützt weißer Feminismus? 260
Kapitel sechs VERGESSEN UND AUSGELÖSCHT
Noch nie gehört: Frauen hinter männlichen Pseudonymen 271
Goethe, Lessing, Brecht und Co.: Bildung ist weiß und männlich 280
Noch nie gesehen: Das Phänomen der »Wiederentdeckten Frau« 290
Google mal CEO: Warum Algorithmen männlich denken 301
SCHLUSSWORT 315
ANHANG 323