31 Mai 2019

Eine indische Schilderung der Schöpfung (Mahabharata)

Die Wikipedia über das Werk:

"Mit seiner großen Anzahl an Geschichten und Motiven sowie seinen unzähligen religiösen und philosophischen Parabeln wird die Bedeutung des Epos am besten mit dem Satz aus dem ersten Buch zusammengefasst: „Was hier gefunden wird, kann woanders auch gefunden werden. Was hier nicht gefunden werden kann, kann nirgends gefunden werden.“"


Die Geschichte der Schöpfung

"Als dieses Universum ohne Glanz und Licht und alles in völlige Finsternis gehüllt war, da kam ein mächtiges Ei ins Sein, als Ursprung der Schöpfung und als der eine unerschöpfliche Samen von allen erschaffenen Wesen. Es wird Mahadivya genannt und wurde zu Beginn des Yugas erschaffen, in dem - wie uns erzählt wurde - das wahre Licht Brahma war, dieses ewige und wundersame Wesen, welches in allen Orten gleichzeitig präsent ist, die unsichtbare und subtile Quelle und das Wesen der Einheit und Vielfalt. Aus diesem Ei entsprang der Große Vater Brahma, dieser einzige Prajapati, mit Vrihaspati (dem Lehrer der Götter) und Sthanu (Shiva). Dann kamen die einundzwanzig Prajapatis in Erscheinung, nämlich Manu, Vasishta und Parameshti, die zehn Prachetas, Daksha und die sieben Söhne Dakshas. So entfaltete sich das Höchste männliche Wesen von undenkbarer Natur, das alle Rishis erkennen, auch in Form der Viswadevas, Adityas, Vasus, Aswin Zwillinge, Yakshas, Sadhyas, Pisachas, Guhyakas und Pitris. Danach wurden die weisen und höchst heiligen Brahmanen geschaffen und die zahllosen Kshatriyas, die mit allen edlen Qualitäten ausgezeichnet sind. So entstanden auch Wasser, die himmlischen Bereiche, Erde, Himmel und die Himmelsrichtungen sowie die Jahre, Jahreszeiten, Monate, Wochen und die Tage und Nächte in ihrer rechten Abfolge. Alle Dinge wurden so geschaffen, welche der Menschheit bekannt sind. Und am Ende der Welt nach Ablauf der Yugas (Zeitalter) wird alles Geschaffene, alles Belebte und Unbelebte, was im Universum zu sehen ist, wieder verfallen und aufgelöst. Und wenn dann ein neues Yuga beginnt, werden alle Dinge wieder erschaffen, in gleicher Weise wie die verschiedenen Früchte der Erde in ihren rechten Jahreszeiten erscheinen und gedeihen. Dieses mysteriöse Rad, welches die Zerstörung und Erschaffung aller Dinge verursacht, dreht sich auf diese Weise beständig in der Welt, ohne Anfang und Ende.[...]

König Janamejaya wird beim Opfer verflucht

Sauti sprach:
Einst nahm Janamejaya, der Sohn von Parikshit, mit seinen Brüdern an einem langwierigen Opfer in den Ebenen bei Kurukshetra teil. Seine Brüder waren Srutasena, Ugrasena und Bhimasena. Als sie so beim Opfer saßen, da erschien ein Nachfahre von Sarama, der himmlischen Hündin, am selben Ort. Von den Brüdern Janamejayas bedrängt, floh er vor Schmerzen weinend davon und zu seiner Mutter. Als seine Mutter ihn so heftig weinen sah, da fragte sie ihn: „Warum weinst du? Wer hat dich geschlagen?“ Er antwortete ihr: „Ich wurde von den Brüdern des Janamejaya bedrängt.“ Da meinte seine Mutter: „Du hast sicher einen Fehler begangen und wurdest dafür geschlagen.“ Doch er erwiderte: „Ich habe keine Schuld. Ich habe die Opferbutter mit meiner Zunge nicht berührt und sie nicht einmal angesehen.“ Als seine Mutter Sarama dies vernahm, regte sich großer Kummer ob des Leidens ihres Sohnes in ihr, und sie begab sich zu dem Ort, an dem das lang andauernde Opfer des Janamejaya stattfand. Dort richtete sie ihre zornigen Worte an Janamejaya: „Mein Sohn hat nichts Sündiges getan. Er hat weder die Opferbutter angesehen, noch sie mit seiner Zunge berührt. Warum wurde er von euch geschlagen?“ Doch niemand gab ihr Antwort, woraufhin sie sprach: „Weil ihr meinen schuldlosen Sohn geschlagen habt, wird Böses über euch kommen, wenn ihr es am wenigsten erwartet.“

Somasrava soll als Priester den König beschützen

Nach diesen Worten der himmlischen Hündin Sarama war Janamejaya erschüttert und wurde niedergeschlagen. Nach Abschluß des Opfers kehrte er zurück nach Hastinapura und begann mit großer Anstrengung nach einem Purohita (Priester) zu suchen, der ihn von seiner Sünde befreien und den Fluch neutralisieren konnte. Eines Tages entdeckte Janamejaya, der Sohn des Parikshit, auf der Jagd in einem besonderen Teil seines Reiches eine geheiligte Einsiedelei, in welcher der ruhmreiche Rishi Srutasrava wohnte. Dieser hatte einen Sohn namens Somasrava, welcher tief in asketischer Hingabe versunken war. Janamejaya wünschte sich sehr, diesen Sohn des Rishi zu seinem Purohita zu ernennen. Er grüßte den Rishi und sprach ihn an: „Oh du mit den sechs göttlichen Attributen Versehener, laß deinen Sohn mein Purohita sein.“ Der Rishi gab ihm folgende Antwort: „Oh Janamejaya, mein Sohn ist asketischer Frömmigkeit zutiefst zugetan, und er ist tüchtig im Studium der Veden. Er ist mit der ganzen Kraft meiner Askese ausgestattet und wurde im Leib einer Schlange geboren, welche meinen Lebenssamen getrunken hatte. Er ist in der Lage, dich von all deinen Sünden zu befreien, außer denen, die gegen Mahadeva begangen wurden. Aber er hat eine besondere Eigenschaft. Er gewährt jedem Brahmanen jeden Wunsch, was auch immer dieser von ihm erbittet. Wenn du damit einverstanden bist, dann nimm ihn.“ Und Janamejaya erwiderte: „Es sei, wie du sagst.“ Er akzeptierte ihn als seinen Priester und kehrte nach Hastinapura zurück. Dort sprach er zu seinen Brüdern: „Diesen Menschen habe ich zu meinem spirituellen Meister erwählt. Was auch immer er sagt, dem müßt ihr Folge leisten, ohne zu fragen.“ Und seine Brüder gehorchten, wie er es ihnen anwies. Danach marschierte der König nach Takshashila und eroberte dieses Land.

Die Geschichte der Heiligen Dhaumya und Aruni

Ungefähr zur selben Zeit lebte ein Rishi mit Namen Ayoda-Dhaumya. Dieser hatte drei Schüler: Upamanyu, Aruni und Veda. Der Rishi bat seinen Schüler Aruni aus Panchala auf seinem Feld eine Bresche im Wasserzulauf zu verstopfen. Aruni begab sich auf Befehl seines Lehrers dorthin und erkannte, daß es ihm mit gewöhnlichen Mitteln nicht möglich sein würde, die Bresche zu stopfen. Darüber war er sehr beunruhigt, denn das bedeutete, daß er seines Lehrers Bitte nicht erfüllen würde. Doch nach einer Weile kam ihm eine Idee, und er sprach zu sich: „Gut, so werde ich es tun.“ Er stieg in die Bresche hinab und legte sich selbst hinein. So wurde das Wasser eingedämmt. Nach einiger Zeit erkundigte sich der Lehrer Ayoda-Dhaumya bei seinen anderen Schülern, wo Aruni aus Panchala wäre. Sie antworteten ihm: „Herr, er wurde von dir selbst fortgesandt, um den Wasserauslauf im Feld zu stoppen.“ Solchermaßen erinnert sprach Dhaumya zu ihnen: „Laßt uns alle dahin gehen, wo er ist.“ Dort angekommen rief er: „Aruni aus Panchala, wo bist du? Komm her, mein Kind.“ Als Aruni die Stimme seines Lehrers vernahm, erhob er sich aus der Bresche und stand vor seinem Lehrer. Er sprach: „Hier bin ich. Ich war nicht in der Lage, das Wasser anders einzudämmen, also bin ich selbst hinabgestiegen, um es vom Weglaufen abzuhalten. Nur weil ich deine verehrte Stimme gehört habe, habe ich die Bresche verlassen und den Wassern erlaubt, auszulaufen. Nun stehe ich vor dir, Meister, und grüße dich. Sag mir, was ich tun soll.“ Da sprach der Lehrer: „Weil du aus dem Graben gestiegen bist und die Wasser hast frei laufen lassen, sollst du von nun an Uddalaka genannt werden als ein Zeichen meiner Gunst. Und weil du meinen Worten so wahrhaft gefolgt bist, sollst du Glück erfahren. Alle Veden werden in dir scheinen und die Dharma Shastras auch.“ So von seinem Lehrer gesegnet, ging Aruni fort zu einem Land, das nach seinem Herzen war.

Die Geschichte von Upamanyu

Der Name eines anderen Schülers von Ayoda-Dhaumya war Upamanyu. Es kam der Tag, an dem Dhaumya ihm folgendes bestimmte: „Geh, mein Kind, und hüte das Vieh.“ Und Upamanyu gehorchte. Den ganzen Tag hütete er die Kühe, und am Abend kehrte er ins Haus seines Lehrers zurück, stand vor ihm und grüßte ihn respektvoll. Nach einigen Tagen bemerkte sein Lehrer, wie der Junge in bester körperlicher Verfassung vor ihm stand und fragte ihn: „Upamanyu, mein Kind, wovon ernährst du dich? Du bist außerordentlich füllig.“ Die Antwort war: „Herr, ich ernähre mich durch Betteln.“ Da sprach sein Lehrer: „Was dir als Almosen gegeben wird, solltest du nicht für dich allein behalten, ohne es mir anzubieten.“ Nach diesen Worten ging Upamanyu davon. Als er wieder Almosen erhielt, bot er diese seinem Lehrer an. Und der nahm von ihm alles. Nachdem Upamanyu so behandelt worden war, ging er zum Vieh zurück. Wieder hütete er es den ganzen Tag, und stand am Abend respektvoll grüßend vor seinem Lehrer. Dieser bemerkte, daß sein Schüler immer noch bei guter Verfassung war und sprach: „Upamanyu, mein Kind, ich nehme dir alles weg, was du an Almosen erhältst und lasse dir nichts übrig. Wie schaffst du es immer noch, dich zu ernähren?“ Und Upamanyu erklärte: „Herr, nachdem ich dir alle Almosen übergeben hatte, ging ich ein zweites Mal betteln, um selber zu essen.“ Sein Lehrer sprach: „Das ist nicht die Art, wie du den Worten deines Lehrers gehorchen solltest. Auf diese Weise verringerst du die Unterstützung für andere, die vom Betteln leben. Indem du dich auf diese Weise ernährt hast, hast du dich gierig gezeigt.“ Da stimmte Upamanyu allem zu, was sein Lehrer gesagt hatte, und ging fort, sich um die Kühe zu kümmern. Er hütete sie bei Tage, kam am Abend zum Haus seines Lehrers, stand vor ihm und grüßte ihn voller Respekt. Doch immer noch war er mollig und wurde gefragt: „Upamanyu, mein Kind, ich nehme dir alles weg, was du erbittest, und du gehst kein zweites Mal betteln. Doch immer noch bist du gesund und rund. Wie machst du das nur?“ Upamanyu erwiderte: „Ich trinke die Milch der Kühe.“ Doch sein Lehrer sagte ihm: „Es ist nicht recht von dir, von dieser Milch zu trinken, ohne vorher meine Erlaubnis einzuholen.“ Upamanyu stimmte der Richtigkeit dieser Worte zu und ging davon, sich um die Kühe zu kümmern. Als er zu seinem Lehrer zurückkam, ihn zu grüßen, hatte sich nichts verändert. Dhaumya fragte ihn erneut: „Upamanyu, mein Kind, du ißt keine Almosen, gehst kein zweites Mal betteln, trinkst nicht mehr die Milch meiner Kühe und bist immer noch fett. Wovon ernährst du dich nun?“ Die Antwort war: „Herr, ich schlecke nun den Schaum, den die Kälber ausspucken, wenn sie an den Zitzen ihrer Mütter saugen.“ Daraufhin sprach sein Lehrer: „Nun, ich bin sicher, daß diese Kälbchen aus Mitgefühl für dich große Mengen Schaum ausspucken. Möchtest du ihr volles Mahl auf diese Weise weiter stören? Wisse, es ist nicht recht von dir, den Schaum zu trinken.“ Upamanyu stimmte zu und ging davon.
Von seinem Lehrer zurückgehalten aß er keine Almosen, trank weder Milch noch Schaum und hatte gar nichts zu essen. Eines Tages aß er vor lauter Hunger von den Blättern eines Arka Baumes im Wald. Die scharfen, bitteren, rohen und salzigen Eigenschaften der Blätter, welche er gegessen hatte, griffen jedoch seine Augen an, und er wurde blind. Als er so umherirrte, fiel er in einen tiefen Graben und konnte nicht zum Haus des Rishis heimkehren. Als an diesem Tag die Sonne hinter den Gipfeln der Berge im Westen versank, fragte der Lehrer seine anderen Schüler, wo Upamanyu ist. Sie antworteten ihm, daß dieser ausgegangen war, das Vieh zu hüten. Und Dhaumya meinte, er hätte Upamanyu von allem zurückgehalten, und deswegen wäre er wohl bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen. „Laßt uns nun alle gehen, um ihn zu suchen“. Gesagt, getan. Dhaumya ging mit seinen Schülern in den Wald und begann zu rufen: „Hey, Upamanyu, wo bist du? Komm her, mein Kind!“ Als Upamanyu die Stimme seines Lehrers vernahm, antwortete er mit lauter Stimme: „Hier bin ich, am Grunde eines Grabens.“ Und sein Lehrer fragte ihn: „Wie bist du da hineingefallen?“ Upamanyu erwiderte: „Ich wurde blind, nachdem ich von den Blättern eines Arka Baumes aß, und so stolperte ich hinein.“ Daraufhin riet ihm sein Lehrer: „Verehre die Aswin Zwillinge, die beiden Ärzte der Götter. Sie werden deine Sicht wiederherstellen.“
Von seinem Lehrer solcherart angewiesen, begann Upamanyu, die Aswin Zwillinge mit den folgenden Worten aus dem Rigveda zu preisen:
Oh ihr Erstgeborenen, ihr existiertet vor der Schöpfung! Ihr offenbart euch im wunderbaren Universum der fünf Elemente. Ich wünsche, euch zu erfahren mithilfe von gehörtem Wissen und Meditation, denn ihr seid grenzenlos. Ihr seid der Lauf der Natur selbst und die weise Seele, welche diesen Zyklus durchdringt. Ihr seid Vögel mit wunderschönen Federn, die sich auf dem Körper niederlassen wie auf einem Baum. Ihr seid von den drei Grundeigenschaften aller Seelen befreit (Güte, Leidenschaft und Trägheit). Ihr seid jenseits aller Vergleiche. Ihr durchdringt das ganze Universum mit dem Geist eines jeden geschaffenen Wesens. Ihr seid goldene Adler! Ihr seid die Essenz, in die alle Dinge verschwinden. Ihr seid frei von Fehlern und kennt kein Verderben. Ihr habt schöngeformte Schnäbel, welche niemals ungerecht zuschlagen und in jedem Kampf siegreich sind. Ihr herrscht ganz sicher über die Zeit. Ihr habt die Sonne geschaffen und webt das wunderbare Kleid des Jahres bei Tag und Nacht aus weißen und schwarzen Fäden. Mit diesem Gewebe habt ihr zwei Wege für die Taten geschaffen, welche zu den Göttern oder zu den Ahnen gehören. Ihr laßt den Vogel des Lebens frei, welcher von der Zeit ergriffen wurde und welcher die Stärke der grenzenlosen Seele symbolisiert, damit er großes Glück beschert. Jene, welche in tiefer Unwissenheit befangen sind, weil ihre Sinne sie täuschen, nehmen an, daß ihr, die ihr unabhängig von den Eigenschaften der Materie seid, eine Form habt. Dreihundert und sechzig Kühe, die ebenso vielen Tagen entsprechen, gebären ein Kalb, und das ist das Jahr. Dieses Kalb ist der Schöpfer und Vernichter von allem. Die Wahrheitssuchenden, auch wenn sie vielen Wegen folgen, schöpfen die Milch der Wahrheit mit seiner Hilfe. Ihr Aswins, ihr seid die Schöpfer dieses Kalbes.
Das Jahr ist die Nabe eines Rades, an dem siebenhundert und zwanzig Speichen angebracht sind. Diese stellen die Tage und Nächte eines Jahres dar. Der Radkranz ist ohne Anfang und Ende und entspricht den zwölf Monaten. Dieses Rad ist voller Täuschungen und kennt kein Vergehen. Es beeinflußt alle Wesen in dieser oder der anderen Welt. Ihr Aswins habt dieses Rad der Zeit in Bewegung versetzt.
Das Rad der Zeit, wie es vom Jahr repräsentiert wird, hat noch eine Nabe, und das sind die sechs Monate. Die Zahl der hierzu gehörenden Speichen ist zwölf, und das sind die Tierkreiszeichen. Dieses Rad der Zeit offenbart die Früchte der Taten aller Wesen. Selbst die führenden Götter der Zeit bleiben in diesem Rad. Gebunden bin auch ich von seinen Banden, oh Aswins, befreit mich von diesem Rad der Zeit. Oh Aswins, ihr seid dieses Universum der fünf Elemente. Ihr seid die Objekte, an denen man sich in dieser und der anderen Welt erfreut. Macht mich unabhängig vom Einfluß der fünf Elemente! Denn obwohl ihr das Höchste Brahman seid, bewegt ihr euch doch über die Erde in verschiedenen Gestalten und genießt die Freuden, welche die Sinne gewähren können.
Am Anfang schuft ihr die zehn Himmelsrichtungen des Universums. Ihr habt die Sonne und den Himmel an ihren Platz gehoben. Die Rishis führen ihre Opferzeremonien anhand des Laufs dieser Sonne durch. Auch Götter und Menschen zelebrieren ihre Opfer wie es ihnen zugewiesen wurde und erfreuen sich an den Früchten dieser Taten. Indem ihr die drei Farben mischtet, erschuft ihr alle sichtbaren Objekte. Aus diesen Objekten entstand das Universum, in dem Götter, Menschen und alle Wesen, die mit Leben gesegnet wurden, mit ihren jeweiligen Aufgaben beschäftigt sind.
Ihr Aswins, ich verehre euch! Ich verehre auch den Himmel, der euer Werk ist. Euch sind die Früchte aller Taten geweiht, von denen auch die Götter nicht frei sind. Doch ihr selbst seid frei von den Früchten eurer Taten. Ihr seid die Eltern von allem. Als Mann und Frau verzehrt ihr die Nahrung, welche sich später in lebensspendenden Saft und Blut verwandelt. Das neugeborene Kind saugt an der Brust der Mutter. Wahrlich, das seid ihr, ihr nehmt die Gestalt dieses Kindes an. Oh Aswins, gewährt mir das Augenlicht, um mein Leben zu beschützen.

Nachdem Upamanyu die Aswins auf diese Weise verehrt hatte, erschienen sie vor ihm und sprachen: „Wir sind mit deiner Hingabe sehr zufrieden. Hier ist ein Keks für dich. Nimm ihn und iß.“ Doch Upamanyu erwiderte: „Eure Worte, oh Aswins, sind niemals unwahr. Doch ich wage es nicht, ihn zu essen, ohne den Keks zuerst meinem Lehrer anzubieten.“ Da sprachen die Aswins: „Dein Lehrer hat uns auch einmal herbeigebeten. Wir gaben ihm einen Keks wie diesen und er aß ihn, ohne ihn vorher seinem Meister anzubieten. Tue, was dein Lehrer damals tat.“ Doch Upamanyu sprach erneut: „Oh Aswins, ich flehe um eure Gnade. Ich kann ihn nicht annehmen, ohne ihn vorher meinem Lehrer anzubieten.“ Da erwiderten die Aswins: „Wir sind zufrieden mit deiner Hingabe zu deinem Lehrer. Die Zähne deines Meisters sind von schwarzem Eisen. Deine sollen golden sein. Dir soll das Augenlicht wiedergegeben werden, und du sollst Glück erfahren.“ Nach diesen Worten der Aswins kehrte ihm das Sehvermögen zurück. Er ging zu seinem Lehrer, grüßte ihn und erzählte ihm alles, was passiert war. Auch sein Lehrer was sehr zufrieden mit ihm und sprach: „Du sollst genau das Glück erfahren, wie es die Aswins erwähnten. Alle Veden sollen in dir scheinen und alle Dharma Shastren.“ Und das war seine Prüfung. [...]" (Text: Mahabharata - Wikipedia)

Weitere Schöpfungsmythen

12 Mai 2019

Graf Petöfy

Graf Petöfy stirbt mir zu schnell. Mag sein, dass Fontane nicht ortskundig genug war, mag sein, dass er die ungarische Gesellschaft nicht genug kannte, mag sein, dass sein Rivale Egon zu blass ist, mag sein, dass Franziska nicht nur nach der Lebensrettung, sondern acu nach Petöfys Tod zu unmotiviert handelt.  Im Grunde schiebe ich es auf den unzureichend vorbereiteten Tod des 70-Jährigen, dass ich mit dem Buch nicht recht warm werden kann, dass es mir zu schematisch erscheint.
Ellernklipp und Grete Minde sind auch nicht meine Liebe; aber bei Petöfy scheint mir die Motivierung nicht überzeugend genug.

Figurenlexikon zum Roman

Die Schriftstellerin Anne Frank (anlässlich der Veröffentlichung ihres Romanfragments)


Ich lese heute zum ersten Mal die von ihren Geschichten aus dem Hinterhaus, an denen mir deutlich wird, wie sehr sie sich um Gestaltung bemüht hat. Die sehr eindrucksvollen Schilderungen ihres Verhältnisses zu Peter umgewandelt in journalistische Form. Sie nennt den Text "Mein erstes Interview" und doch besteht er hauptsächlich in einer Beschreibung des Plätzchens, das Peter sich hinter der Bodentreppe geschaffen hat. Sorgfältig bemüht, eine genaue und literarisch geformte Beschreibung zu schaffen, wie ich sie vor allem an Fontanes Romananfängen schätzen gelernt habe. 
Und dann eine Szene des Zusammenseins mit Peter umgestaltet in einen literarischen Text "Das Glück", in dem sie Peter das sagen lässt, was sie selbst sich von der Begegnung erhofft: "jemand, der mich verstehen wird".
Die Schriftstellerin Anne Frank, die jetzt durch die gesonderte Herausgabe ihres bearbeiteten Tagebuchs als Romanfragment "Liebe Kitty" herausgestellt werden soll, ist für mich in diesen beiden Texten sehr deutlich zu finden. 

Kein Zweifel, dass ihr Tagebuch viel wichtiger ist, aber ich verstehe das Bedürfnis, neben ihrer historischen Bedeutung auch die junge Künstlerin in ihrem Formbewusstsein zu zeigen.

sieh auch: 
Ein Vergleich mit Ortheils "Die Berlinreise", ein Vergleich, an dem vor allem die großen Unterschiede deutlich werden.


30 April 2019

Roger Willemsen: Die Enden der Welt. - Der Amu-Darja

Der Amu-Darja - An der Grenze zu Transoxanien 
 Aus der Geschichte sprengen die kurzmähnigen Pferde heran, die Steppen dehnen sich, die Sümpfe drohen. Reisende aller Jahrhunderte haben sich auf diesen Grenzfluss, der den Norden Afghanistans gegenüber dem ehe maligen russischen Reich, dem heutigen Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan abgrenzt, zubewegt, mühsam, unter Qualen und oft ohne ihn zu erreichen, weil Überfälle, Entbehrungen, Malaria, Wurmbefall, Seuchen dazwischenkamen. Maulbeerbäume und Tamarisken waren die Vorboten des fernen Flusses. Man bewegte sich in Karawanen durch die Sanddünen, und entgegen ka men aus Transoxanien, dem Land jenseits des Stroms, weitere Karawanen. Von ihren Kamelen hingen die Kanister mit dem Benzin, das man neben vielen anderen Waren aus dem ehemaligen Russland auf der anderen Flussseite bezog.

Der Amu-Darja, im Altertum auch Oxus genannt, versammelt eine mythische Landschaft um seine Ufer, von der der Dichter Rudaki, der »Karawanenführer der Dichtkunst« genannt, im 9. Jahrhundert nach Christus fabelt, seine rauen Ufer seien Seide unter den Füßen, seine Wellen sprängen bis zum Zaumzeug der Pferde vor Freude über den Heimkehrer. [...]

Marco Polo hat hoch oben im Pamir die Quelle des Stroms besucht, und am 19. Februar 1838 steht hier der britische Leutnant John Wood, auf dem »Dach der Welt«, wie er es nennt, über dem See des Bam i Dünjah oder des Sir i kol, wie die Kirgisen den Quellsee des Amu-Darja tauften, während sich vor dem staunenden Fremden die »gefrorene Wasserfläche erstreckte, aus deren westlichen Ende der junge Oxus entsprang«. Der schöne See, so schrieb er, besitze die »Form eines Halbmondes«.
 Doch von hier aus ist es noch weit bis zu den Tälern Nordafghanistans, und der Reisende fragt sich: Wie willst du diese Grenzen überqueren, die Berge, die Flüsse, die Gefechtslinien, zuletzt durch die Steppe kommen, wo die Bewegung immer ziellos scheint. Das ist ihr Schönes. Und wenn es einer wie Robert Byron bis an den Oxus schafft, dann hat er geschwärmt und zurückgeblickt auf die armen Schlucker, die verendeten, bevor sie ihn er reichten. [...]

Endlich eine Ausbuchtung, eine kleine Anhebung der Horizontlinie. Das sind die Schafherden, bewacht von einem jungen Hirten, der auf einem Sandhügel schläft, einem zweiten, der zu Pferde gemächlich im Kreise trabt, und drei bösen Hunden, die sich auch gegen Wölfe und Schakale durchsetzen müssen und immer kampfbereit sind. Immerhin fraßen die Wölfe im Krieg selbst von den zurückgebliebenen Leichen.
Der Hirte weiß das, er rutscht von seinem Sandhaufen und nähert sich ein paar Schritte. Unter seinem langen Filzmantel trägt er einen Pullover, eine wattierte grüne Jacke, eine Nadelstreifenweste. Mit dem langen Stab in seiner Hand stützt er sich, schützt und dirigiert er die Schafe, an die siebenhundert sind es, behütet von zwischen zehn und vierzehn Schäfern in dieser Gegend, gefährdet von Taranteln, Schlangen, Schakalen.
Wo er schläft?
 »Irgendwo in der Steppe.«
 Woher er sein Wasser bezieht?
»Es sind sechs Stunden mit den Tieren bis zur nächsten Quelle.«
 »Und ist die Herde sicher?«
 »Manchmal kommen Diebe und klauen ein paar Tiere. Aber was soll ich machen? Wir beklauen uns dann wechselseitig.« [...]

»Was isst du?« 
»Mein Brot mit etwas Fett, das ich hier in einem Döschen mit mir führe.« Er zeigt es. »Und warum hängst du hier rum?«, protestiert Turab humoristisch, »statt dir in der Stadt eine vernünftige Arbeit zu besorgen?«
 »Ich kann nicht.« Er hört, wo wir zu Hause sind.
 »Ihr lebt in einem guten Land, in dem es immer Regen gibt.«
 »Was verdienst du?«
 »Ich bekomme ein Zehntel aller neugeborenen Schafe eines Jahres. Wenn ich Glück habe, sind das fünfzig.«
 »Wie alt bist du?«
 »Weiß ich nicht. Vielleicht 21?«
»Aber du hast noch keinen Bart!«
 »Kannst du mir nicht sagen, wie alt ich bin?«
 Die Gespräche der Afghanen untereinander sind oft so. Gleich sind sie bei den Lebensumständen, eigentlich bei den vertraulichen Dingen. Nie wird eine Frage abgelehnt oder selbst in Frage gestellt. Man teilt die Geschichte wie die Atemluft. [...]

Während wir trinken, schwärmen die Kinder aus, um den Ältestenrat zusammenzurufen, und da stehen sie dann, fünfundzwanzig Männer, die meisten mit Turban und in langen Gewändern, mit würdevollen, tief ernsten, auch schwermütigen Gesichtern, und mitten darin Nadia, die Exil-Afghanin, die nur mit dem Kopfschleier bedeckt, aber offenen Gesichts durch die Menge der Alten geht, dem Gemeindehaus zu, wo sie sich die Bitten des Rates anhören wird. Der Saal ist gerade fertig geworden, der Stolz der Gemeinde. Man hat ihn in einer Anwandlung von Übermut oder Idealismus mit hellblauen Wolkenmotiven ausgemalt. Das wirkt in dieser Umgebung so befremdlich neumodisch wie ein Wellnessbad unter Nomaden.
 Wir sitzen auf Kissen im Kreis. Von außen drängen immer mehr Männer in den Raum. Dazwischen wieseln die Jungen mit Tellern voller Pistazien, Mandeln, Trockenobst und Hülsenfrüchten. Es sind auch ein paar eingewickelte Bonbons auf den Tellern. Das alles kommt, ohne dass wir eine Anweisung gehört hätten. Nur berichtet Nadia später, dass man hinter den Kulissen ausgeschwärmt sei, um Zutaten für ein richtiges Essen herbeizuschaffen, doch habe man sie nicht zusammen bekommen.
 Kaum ergreift sie das Wort, wird es ganz still. Die Alten mit ihren in den Lebenswinter eingetretenen Gesichtern, ihrer Zukunftsangst, ihrem Festhalten an allem, was ihnen ihre Tradition lässt, sie blicken in Nadias offenes Gesicht und sehen, wie empfindlich die Zeit sich ändert. Sie alle haben Nadias Vater noch gekannt. Deshalb fällt es ihnen wohl leichter, der Tochter zuzuhören. Sie brauchen auch kein Vertrauen zu fassen, sie haben es. Aber ihre Bitten sind groß und, gemessen an Nadias Möglichkeiten, maßlos.
Das Licht im Raum tritt plötzlich übergangslos in eine Dämmerstimmung ein. Die Alten beißen ein paar Mandeln auf, wenden aber den Blick nicht von Nadias Gesicht, forschen, was wohl von ihr zu erwarten sei für den Bau eines tieferen Brunnens, einer Schule, für die Besoldung eines Arztes, der sich der hiesigen Krankenstation annähme, denn da ist niemand.
 Die meisten Krankheiten kommen aus dem Wasser, manchmal verenden Tiere im Brunnen und verunreinigen ihn, mancher ungebildete Bauer wirft einen Kadaver zur Entsorgung einfach in den Schacht, auch Malaria grassiert, und Nadia hört das alles an, geduldig wie zum ersten Mal, dabei haben alle diese Geschichten die gleiche Struktur. Blicke ohne Lidschlag befestigen sich an ihren Zügen. Viele der Gesichter sind sehr fein geschnitten, manche tendieren ins Mongolische, Asiatische. Niemand bettelt, niemand klagt, niemand ringt die Hände, rauft die Haare, verliert die Haltung.
 Was ihre Versorgung angeht, so können sie sich in guten Jahren sechs Monate lang mit dem Verkauf von Teppichen und Vieh über Wasser halten, die zweite Hälfte des Jahres müssen sie aus dem Eigenanbau bestreiten. Mit dem Sonnenaufgang sind die Bauern auf den Feldern oder bei den Tieren. Sie frühstücken Brot mit Tee und, wenn sie haben, mit Milch.
 Ich schreibe, was der Bauer berichtet. Mit dezenter Beteiligung blickt der Raum auf das, was mich offenbar interessiert, kaum senke ich den Stift aufs Papier, liegt ihr Blick darauf. Was hier erzählt wird, das ist doch alles ihr normales Leben. Was soll es da zu schreiben geben? Dass die Minengefahr auf den Feldern groß ist? Gewiss, aber gegen die Wölfe anzukommen ist auch nicht einfach.
 Die glücklichsten Bauern sind die, die einen Ochsenpflug besitzen und eine Kuh ihr eigen nennen, auf die sie sich verlassen können. Solche Bauern können sich manchmal sogar Dünger leisten.
 »Aber schmeckt es nicht besser ohne Dünger«, frage ich, und alles lacht, glücklich, dass sich Fremde so einig sein können.
 Das Gespräch wendet sich dem Ackerbau zu, den Ernten, dem spät ausgesäten Reis. Hinter einer Schule haben wir ein paar Mohnblumen entdeckt. Von wo mögen diese Samen hierher geflogen sein? Von der Straße aus hat jedenfalls noch niemand ein Mohnfeld entdecken können.
 »Wir bauen keinen Mohn an«, konstatiert der Ortsvorsteher trocken.
 »Und uns hat man gesagt, du hast vierzig Kilo gewonnen aus deinen Feldern«, ruft Turab, alles lacht erneut, und dafür haut der Angesprochene dem Sprecher mehrmals kameradschaftlich auf die Schulter. 
Doch sollten wir glauben, in diesen Dörfern verberge sich irgendwo ein geheimer Wohlstand, dann wären wir im Irrtum. Die Feldarbeit ist mühselig, ganz neue Dürrezeiten zerstören die Ernten, die Kinder gehen häufig schon um sechs Uhr früh in die Schule, damit sie am späten Vormittag den Eltern wieder helfen können, [...] (S.360-370)

Weitere Texte von Willemsen

12 April 2019

E.T.A. Hoffmann: Erzählungen

Ich habe meine Schwierigkeiten mit Gewaltsamkeiten und Erzählungen von Morden, deswegen mag ich keine Krimis - mit wenigen Ausnahmen. 
E.T.A. Hoffmann schreibt mir zu outriert, zu gewaltsam, mit zu viel Sinn für Wahnsinn und ähnliche Erscheinungen.
Dennoch habe ich sein "Fräulein von Scuderi", gestern mittendrin angefangen, heute vollständig gelesen. So geschickt hat er das schreckliche Geschehen mit sympathischen Personen verknüpft, dass ich die durchaus sehr gesuchte Hinführung zum Happy End nicht zu schätzen gewusst hätte. 

Es war wohl diese Passage, die ich gestern gelesen hatte:

"[...] Die dunklen Ahnungen, von denen der Scuderi Gemüt befangen seit Brussons erstem Eintritt in ihr Haus, hatten sich nun zum Leben gestaltet auf furchtbare Weise. Den Sohn ihrer geliebten Anne sah sie schuldlos verstrickt auf eine Art, daß ihn vom schmachvollen Tod zu retten kaum denkbar schien. Sie ehrte des Jünglings Heldensinn,[238] der lieber schuldbeladen sterben, als ein Geheimnis verraten wollte, das seiner Madelon den Tod bringen mußte. Im ganzen Reiche der Möglichkeit fand sie kein Mittel, den Ärmsten dem grausamen Gerichtshofe zu entreißen. Und doch stand es fest in ihrer Seele, daß sie kein Opfer scheuen müsse, das himmelschreiende Unrecht abzuwenden, das man zu begehen im Begriffe war. – Sie quälte sich ab mit allerlei Entwürfen und Plänen, die bis an das Abenteuerliche streiften, und die sie ebenso schnell verwarf als auffaßte. Immer mehr verschwand jeder Hoffnungsschimmer, so daß sie verzweifeln wollte. Aber Madelons unbedingtes, frommes kindliches Vertrauen, die Verklärung, mit der sie von dem Geliebten sprach, der nun bald, freigesprochen von jeder Schuld, sie als Gattin umarmen werde, richtete die Scuderi in eben dem Grad wieder auf, als sie davon bis tief ins Herz gerührt wurde.
Um nun endlich etwas zu tun, schrieb die Scuderi an la Regnie einen langen Brief, worin sie ihm sagte, daß Olivier Brusson ihr auf die glaubwürdigste Weise seine völlige Unschuld an Cardillacs Tode dargetan habe, und daß nur der heldenmütige Entschluß, ein Geheimnis in das Grab zu nehmen, dessen Enthüllung die Unschuld und Tugend selbst verderben würde, ihn zurückhalte, dem Gericht ein Geständnis abzulegen, das ihn von dem entsetzlichen Verdacht, nicht allein, daß er Cardillac ermordet, sondern daß er auch zur Bande verruchter Mörder gehöre, befreien müsse. Alles, was glühender Eifer, was geistvolle Beredsamkeit vermag, hatte die Scuderi aufgeboten, la Regnies hartes Herz zu erweichen. Nach wenigen Stunden antwortete la Regnie, wie es ihn herzlich freue, wenn Olivier Brusson sich bei seiner hohen, würdigen Gönnerin gänzlich gerechtfertigt habe. Was Oliviers heldenmütigen Entschluß betreffe, ein Geheimnis, das sich auf die Tat beziehe, mit ins Grab nehmen zu wollen, so tue es ihm leid, daß die Chambre ardente dergleichen Heldenmut nicht ehren könne, denselben vielmehr durch die kräftigsten [239] Mittel zu brechen suchen müsse. Nach drei Tagen hoffe er in dem Besitz des seltsamen Geheimnisses zu sein, das wahrscheinlich geschehene Wunder an den Tag bringen werde.
Nur zu gut wußte die Scuderi, was der fürchterliche la Regnie mit jenen Mitteln, die Brussons Heldenmut brechen sollen, meinte. Nun war es gewiß, daß die Tortur über den Unglücklichen verhängt war. In der Todesangst fiel der Scuderi endlich ein, daß, um nur Aufschub zu erlangen, der Rat eines Rechtsverständigen dienlich sein könne. Pierre Arnaud d'Andilly war damals der berühmteste Advokat in Paris. [...]" (E.T.A. Hoffmann: "Das Fräulein von Scuderi")

Ritter Gluck, eine Erzählung, die mir schon bei der ersten Lektüre gefallen hat.

Achtung Spoiler:
Das Fräulein von Scuderi (Wikipedia) (Youtube Kurzfassung)

07 April 2019

Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne

"Guten Morgen, du Schöne lässt sich als Erweiterung der reinen Protokollliteratur einordnen. Anders als in dieser verwebt Wander eigene literarische Nuancen in die essayhaft formulierten Stücke. Das heißt, sie notiert das Gesagte nicht 1:1, sondern findet noch weitere Ebenen der Beschreibung: „Die ursprünglichen Protokolle sind zu Porträts verdichtet, die Autorin adaptiert den Gestus, Soziolekt und Ton der Befragten und reichert ihn mit dem Bild an, das sie sich selbst von der Gesprächspartnerin und deren sozialer Situation gemacht hat. Aus der Tonbandmitschrift wird Literatur.“[1]"(Wikipedia:Maxie Wander)

Guten Morgen, du Schöne. Protokolle. Mit einem Vorwort von Christa Wolf Sammlung Luchterhand 289, Darmstadt/Neuwied 1979.