Die Productionen des brambow’schen Thorwegtheaters sind mir fremd geblieben, mein Vater litt den Besuch desselben durchaus nicht; aber meine Freunde versicherten mich, es sei sehr schön gewesen, sehr schön! Und ich will’s glauben. Auf eine Stavenhäger Seele haben die Darstellungen wenigstens einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Die Inhaberin verließ Vater und Mutter und folgte der Kunst. Cläre Saalfeld, die Tochter des alten Schusters Saalfeld, ging unter die Schauspieler. Sie ist meines Wissens das einzige Stavenhäger Kind, welches die dramatische Kunst praktisch ausgeübt hat, und nicht allein deswegen, sondern vorzüglich wegen einer Scene, in welcher die göttliche Kunst die nüchterne Wirklichkeit siegreich überwand, verdient ihr Name aufbewahrt zu werden.- Cläre war also – wie man sich damals unhöflich ausdrückte – weggelaufen. – Der alte Schuster Saalfeld donnerte ihr die väterlichsten Flüche nach. – Cläre wurde trotzdem erste Liebhaberin in der ganzen Bande; dunkele Gerüchte von ungeheuren Erfolgen der Liebhaberin gelangten nach Stavenhagen und auch zu den Ohren des Vaters. – Gute Freunde, die es damals noch mehr gab, als jetzt, und die damals noch nicht aufhetzten, wo sie beruhigen sollten, versöhnten den alten Schuster allmählich mit dem Gedanken, eine erste Liebhaberin zur Tochter zu haben. Er wurde milder gegen sie gestimmt, und Cläre wagte den ungeheuer kühnen Schritt, nach anderthalb Jahren in ihrer eigenen Vaterstadt in demselben Grambow’schen Thorwege, in welchem sie zuerst den berauschenden Becher der Kunst geleert hatte, trotz aller Störungen, welche die Illusion nothwendig erleiden mußte, als erste Liebhaberin aufzutreten. Die Kühnheit war groß, der Erfolg größer. – Die guten Freunde des alten Saalfeld hatten ihn in Erwartung der Dinge schon acht Tage vor dem Auftreten der Tochter bearbeitet, er solle Gnade für Recht ergehen lassen und die Liebhaberin als Tochter anerkennen – vergebens! Endlich erreichen sie das Aeußerste, wozu er sich verstehen will: er will in’s Theater gehen und seine Tochter selbst spielen sehen. – Es geschieht; der Vorhang geht auf; Cläre spielt wie ein leibhafter Engel, sie weiß, Aller Augen und auch ihres Vaters Augen sehen auf sie. – "Cläre Saalfeld ‘raus!" – Der alte Meister Saalfeld trocknet sich die Augen. – So geht es fast bis zum Schlusse. Da benutzt Cläre eine Stelle ihrer Rolle zum großartigsten Effect; sie knieet nieder und ruft: "Vater, vergieb mir!" – Meister Saalfeld hält’s nicht länger aus; er steht auf: "Min Döchting, wat heww ick Di tau vergewen; ick erlew’ jo nicks as Ihr un Freud’ an Di." – Mit dieser Scene beschloß Cläre ihre dramatische Laufbahn, sie trat ins bürgerliche Leben zurück und heirathete einen geistesverwandten Thorschreiber. Sie blieb bis an ihr Ende die erste Autorität Stavenhagens in dramatischen Dingen.
(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)
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vor 3 Stunden
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