Der Tanzmeister Stengel hob die Kunst wieder und setzte Soccus und Kothurn in ihre alten Rechte wieder ein. Die Bühne war schon aus dem Thorwege auf den Allmann’schen Saal gewandert, sie sollte höher steigen, Stengel brachte sie auf den Rathhaussaal; mein alter Freund war zwei Mann hoch aufgetreten, wobei ich seine Frau für einen vollen Mann rechne, Stengel trat schon vier Mann hoch auf, wobei ich seine Frau für zwei Mann rechne, denn sie mußte in jeder Vorstellung in zwei Rollen auftreten, einmal im Weiberkleide und einmal im Beinkleide. In letzterem spielte sie immer junge Herren, die fast immer mit einer Reitpeitsche auftraten – die arme Frau! Es war dieselbe Reitpeitsche, die Stengel gegen sie mißbrauchte. Ihre Schwester, die kurzweg Schwägerin genannte Dame, spielte die Liebhaberin, und wenn eine Kußscene vorkam, so wurde sie von den beiden Liebesleuten bis zu den äußersten Consequenzen zum Besten der Illusion durchgeführt, ohne daß das Publikum ein Ärgerniß daran nehmen konnte, weil die verwandtschaftliche, sowie die geschlechtlichen Verhältnisse bekannt waren. Stengel selbst spielte alles Mögliche, am besten gelangen ihm die brutalen Charaktere, die in die Kategorie der polternden Alten einschlagen; die Natur schien ihn für dergleichen Rollen eigens geschaffen zu haben. – Das Repertoir war sehr reichhaltig; es umfaßte das Rührspiel, das Lustspiel, die Operette und das Ballet. Das Letzte war gleichsam eine Art Empfehlungskarte, welche Stengel zum Schlusse jeder Vorstellung dem Publikum überreichte, um neue Tanzschüler zu gewinnen und um seine Beine doch einmal in ihrer gewerblichen Arbeit zu zeigen. Er schlug bei diesen Gelegenheiten mit seinen plumpen Füßen sogenannte Entrechats, die im richtigsten Verhältniß zu der Schwere des dabei aufgewandten Materials auf die hohlen Bretter niederknallten – Die Operette war der schwächste Theil der Darstellungen; bei Stengel hatte sich alle Kunst unterwärts nach den Beinen zu concentrirt, die obere Partie, Kopf, Hals und Stimmorgane waren leer ausgegangen; er sang, aber die Leute sagten: "dat is ok dornah!" – Frau Stengel sang gar nicht, und so sollte es denn die Schwägerin allein thun, und zu einem so umfassenden Geschäfte reichte ihre kleine, feine Stimme nicht aus. Dazu kam noch, daß der alte Dr. Sparmann, der in Berlin Opern gehört haben wollte, den Ausspruch gethan haben sollte, sie singe einen halben Ton zu hoch, was sich die Stavenhäger durchaus nicht gefallen lassen wollten und füglich auch nicht konnten; und so kam es denn, daß, im Gegensatz zu der heutigen Zeit, die Opernvorstellungen nicht besucht wurden, und daß das Theater leer war, wenn es hies: "Hüt Abend singen s’ wedder." – Die Oper mußte aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Das Lustspiel und vor Allem das Rührspiel behaupteten sich, und ich war ihr dankbarstes Publikum.
Nach langem, unter der Beihülfe von Onkel Herse und anderen Personen, welche die bildenden Eigenschaften des Theaters kannten, fortgesetzten Bemühen von Seiten Tante Christianens gab mein Vater die ihm abgedrungene Einwilligung zum Besuche des Theaters. Mein Vater hatte Unrecht, als er nachgab, und Recht, als er sich weigerte. Es giebt gar kein untrüglicheres Mittel, um unwahre Vorstellungen in der Seele eines Kindes zu erzeugen, als ein schlechtes Theater. Das Kind lacht über die faden Harlekinaden, über die man als eine Entwürdigung der menschlichen Natur weinen sollte, und es weint bei dem abgeschmackten Rührbrei, über den man als vollständigen Gegensatz gegen die Wirklichkeit lachen sollte, wie über eine Travestie. Die dick aufgetragenen Farben der Darsteller fallen viel zu grell in das ungeübte Kinderauge und stumpfen den Sinn für Beobachtung und richtige Auffassung der milderen Farbentöne ab, wie sie die Wirklichkeit bietet; bei diesen stark gepfefferten Gerichten geht der Geschmack für geistige Genüsse ebenso sicher unter, wie der physische durch Mixpickles; die gewöhnlichen Pfannkuchen des Lebens wollen dann nicht mehr schmecken. Aber der größte Verlust bei dieser dramatischen Sudelkocherei ist der Untergang des Sinnes für die Reinlichkeit; es ist ganz gleich, in welchem schmutzigen Geschirre das Gericht aufgetischt wird, wenn seine Schärfe nur die Thränen in die Augen treibt, sei es die einer falschen Sentimentalität, oder die des erstickenden Gelächters. Sinnige Kinder versenken sich in diese falschen Vorstellungen und träumen sich zum Schaden ihres Gemüthes in eine unruhige Welt hinein; lebhafte Kinder machen’s den schlechten Schauspielern nach, und ihr Charakter kann zeitlebens einen Beigeschmack davon behalten, denn in der Kindheit ist der Assimilationsproceß ein sehr energischer, und die äußeren Eindrücke gehen rasch zu Fleisch und Blut.
Schon in Folge der fast gewaltsamen Eindrücke, die der erste Theaterbesuch auf das Kind macht, sollten Eltern und Erzieher aufmerksam werden und sich wohl überlegen, in welchem Alter eine solche Erschütterung ihres Pfleglings gewagt werden kann, sie sollten mit Sorgfalt das Stück und mit noch größerer die Darstellung auswählen. Es ist das eine höchst ernste, ich möchte fast sagen, heilige Sache, und es ist wahrlich nicht gleichgültig, ob man in die künstlerische Auffassung des Menschenlebens an der Hand Kotzebuescher Frivolität oder an der Schillerscher Idealität geführt wird. Der erste Eindruck haftet wunderbar fest; ich habe dies an mir selbst erfahren. Es sind jetzt über vierzig Jahre her, als ich den ‘armen Poeten’ als erste Darstellung gesehen habe, und als dies Stück vor zwei Jahren hier gegeben wurde, stand mir noch Alles so deutlich vor der Seele, daß ich im Nothfalle hätte souffliren können. Aber was machte dies – im Ganzen so unschuldige – Stück für einen Eindruck auf mich! – Ich habe geweint, als wenn mir Vater und Mutter gestorben wäre; Tante Christiane weinte neben mir, Onkel Herse hinter mir, und ab und an quoll durch seine Rührung der Ausruf durch: "En olles daemliches Stück!" Und als Stengel, als armer Poet, den Verlust der Gattin auf offnem Meere erzählte und die Arme ausstreckte und der Verlorenen ein letztes Lebewohl nachrief, da weinte ganz Stavenhagen, lster und 2ter Platz (Kinder bezahlen die Hälfte), und bei mir wurde die Rührung so bedenklich, daß Tante Christiane sich in ihrer eigenen unterbrach und mir einen Rippenstoß versetzte: "Jung’, lat doch dat Hulen sin, Du rohrst jo as en Roggenwulf!" – Aber wie spielte Stengel heut Abend auch schön! Wie hungerte und wimmerte er in seiner armen Poeteneigenschaft auf den Brettern umher! Da habe ich den ersten richtigen Begriff von den Nöthen und Kümmernissen eines Poeten eingesogen und bin dadurch von der dichterischen Laufbahn so abgeschreckt worden, daß ich erst dann ihren dornenvollen Pfad zu betreten mich entschloß, als ich alles Mögliche versucht hatte: Klutentreten und Dungfahren, Schulmeisteriren und Kinderschlagen und zuletzt gar noch städtische Angelegenheiten.
(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen