Karl solle sich einen größeren Wirkungskreis suchen, wo er etwas zur Weltverbesserung beitragen könne.
»Du, Karl«, hob Olga an, »mußt dir einen größern Wirkungskreis suchen, mache es zu deiner Lebensaufgabe, die Vorurtheile, Gesetze und Sitten, die uns trennen, zu bekämpfen, zeige dich als Mann, werde groß, nütze deinem Vaterlande, daß ich mich meiner Liebe zu dir freuen kann, daß ich stolz sein kann, wenn dein Name genannt wird. Ich bleibe dir treu, jener wird mir angetraut, aber nie mein Mann, nie mein Geliebter.« Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 5. KapitelAls er allein ist, überlegt Karl:
Er sollte einen größern Wirkungskreis suchen; er sollte in die Räder der Weltgeschichte eingreifen.
Das war leichter gesagt als gethan; zwar glaubte man damals in Deutschland ziemlich allgemein, jeder, der etwas Großes wirken und schaffen wolle, müsse Jurist sein, und wer Jurist sei, der stehe ganz von selbst mit auf der Leiter, an der die Ehrgeizigen emporkletterten. Er war Jurist, er hatte viel gelernt, hatte sich mit Staats- und Völkerrecht, mit Geschichte und Statistik beschäftigt; er wußte viel mehr als seine Collegen in Heustedt, und war doch ein schlechter Advocat; das fühlte er selbst. Was nützte ihm sein Wissen, da es ihm am Können fehlte, da ihm die Fähigkeit mangelte, dieses Wissen aller Welt verständlich zu machen, in das Leben überzuführen, den Bedrängten und Rechtsuchenden Recht zu schaffen, den Reichen, den Bedrängern, den Geldmachern, dem zu Recht gewordenen Unrechte, den Schlauköpfen und Chicaneuren gegenüber! Um ein tüchtiger Advocat zu sein, mußte er alle kleinern Künste und Schleichwege, wodurch ein Scheinbild des Rechts aufgestellt wurde, dem guten und wahren Rechte gegenüber entlarven können, den Richter gleichsam moralisch zwingen können, das Recht zu finden und zu sprechen. Das konnte er aber nicht.
Was half es ihm, auf der untersten Sprosse der Leiter zu stehen, auf der man emporklimmen konnte? Die Leiter reichte nicht mehr bis oben hinauf, wie zur Zeit des ersten Kurfürsten, wo ein Grote die Geschicke des Landes in der Hand gehabt; sie war nicht eine, sie war eine dreifache. Die, auf deren Stufen er stand, reichte nur sehr mäßig in die Höhe, und oben angekommen, war für einen kühnen Springer wol die Möglichkeit vorhanden, auf die zweite Leiter, auf der das Staatsdienerthum bis zum Wirklich Geheimen Secretär oder Geheimen Justizrathe, höchstens bis zum Oberappellationsrathe emporstieg, zu gelangen, aber der Sprung war mit Lebensgefahr verbunden und es bedurfte immer einiger freundlichen Hände, den Kühnen dort zu empfangen und ihm Platz zu machen.
Die dritte Leiter, die zum Olymp selbst reichte, war von der zweiten aber so weit entfernt, daß auch Harras, der Springer, nicht gewagt haben würde, seine Geschicklichkeit zu versuchen; zudem fand sich unter den sich auf dieser Leiter hinaufbewegenden Geheim- und Kammerräthen, Gesandten, Generalen und Feldmarschällen keine einzige helfende Hand, sondern nur abwehrende. Wer diese Leiter besteigen wollte, mußte adelich geboren oder mindestens Bastard aus fürstlichem Blute sein.
Zum Staate konnte der heustedter Advocat in nähere Beziehung nicht treten, wenn von solch einem Dinge überhaupt geredet werden konnte, da die Staatseinheit der acht und mehr verschiedenen Fürstenthümer und Grafschaften lediglich in der Personeneinheit des Regenten, der zugleich der König des mächtigsten aller europäischen Reiche war, bestand. Das Dienerthum bildete eine eigene Art beinahe erblicher Genossenschaft, in die das Eindringen ohne die bedeutendste Connexion unmöglich war. Eine Volksvertretung gab es nicht; die Vertreter in den einzelnen Provinziallandschaften waren geborene Vertreter, mindestens war jede Vertretung an einen wenn auch noch so geringen adelichen Grundbesitz mit castrum (d. h. mit einem irgend bewohnbaren Gebäude) oder an das Amt eines Bürgermeisters gebunden. Und was konnte selbst der tüchtigste Ritter in einer solchen Provinziallandschaft wirken? Was der Bürgermeister einer kleinen Stadt oder eines Fleckens?
Karl konnte nur in Einer Art im Sinne Olga's wirken und schaffen: er mußte Schriftsteller werden oder Stellung an einer Universität suchen. Aber über welchen Gegenstand sollte er schreiben, damit er berühmt werde? War nicht alles, was er wußte, Stückwerk? Fanden sich nicht in jeder Branche Leute, die ihn weit überragten? Und während er ein Buch schrieb, wovon sollte er leben? Journalisten, im heutigen Sinne des Worts, die wie Pilze aus der Erde wuchern und über alles mitsprechen, ohne von dem Wenigsten nur wenig zu verstehen, gab es damals in Deutschland noch nicht, und die Anfänge eines solchen Journalistenthums, wie »Das graue Gespenst« und andere Schriften von Rebmann und Genossen, waren nicht sehr ermuthigend.
Heinrich Oppermann: Hunder Jahre, 2. Buch, 6. Kapitel
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