Meier war kein Pedant, der von weiter nichts als von den Classikern wußte und wissen wollte; er, der in seiner Jugend ein begeisterter Anhänger Basedow's gewesen, schwärmte noch für eine Neugeburt der Menschheit durch Erziehung und Schule, er kannte jede neue Erscheinung der Literatur und interpretirte in der deutschen Stunde in Prima Lessing so gut wie Aeschylus und Sophokles. [...]
Ehe Karl zu seiner Mutter, Heinrich zu seinen Aeltern zurückkehrte, sollte ein großer Wunsch beider, der, eine größere Stadt zu sehen, Befriedigung finden. Eine solche Sehnsucht kennt unsere heutige Jugend nicht mehr, ein Knabe von vierzehn Jahren hat heutzutage in der Regel mehr von der Welt gesehen als damals ein Greis von achtzig Jahren.
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre,1. Buch 13. Kapitel)
Der Text ist um 1870 geschrieben.
In einer Weise mutet uns seltsam an, dass Lessing moderner als die Klassiker sein sollte, ist er doch ein Vorläufer der deutschen Klassik. (Damals dachte man bei Klassikern vornehmlich an antike Autoren.)
Und doch, wie vertraut ist uns die Erfahrung, dass Begeisterung für Literatur leichter geweckt werden kann, wenn sie an Zeitgenössischem ansetzt. (Lektüre von Schillers Tell in der 8. Klasse als "klassisches" Gegenbeispiel)
"ein Knabe von vierzehn Jahren hat heutzutage in der Regel mehr von der Welt gesehen"
Was haben 14-Jährige um 1870 schon gesehen?
Doch: wie viel Kenntnis unserer Welt haben Jugendliche von heute uns Älteren voraus? Wie selbstverständlich überspringen sie mit elektronischer Kommunikation die größten Entfernungen!
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