09 November 2012

Briefe 1791/92 aus Hoya und Paris

Den 8. November.
Die Gräfin ist vorgestern angekommen, die schönen Abende sind vorbei, ich mag mich nicht mehr ins Schloß wagen, da verschiedene Hofcavaliere mitgekommen, unter denen ich mich unheimlich fühlen würde.
Gestern hat mich ein Tischgespräch aufgeregt, der Supernumerar-Amtsschreiber Motz wollte wissen, daß die Gräfin Wildhausen damit umgehe, ihre Tochter zu verheirathen, und mit wem? Denke Dir, mit jenem Wüstling, dem Grafen Schlottheim, dem ich in Göttingen die Anfangsgründe des Rechts in seinen dummen Hirnkasten einzuprägen mich abmühte, und den Bürger an jenem Abend, wo wir »Faust« zuerst lasen, die Treppe herabfallen ließ. Auch wollte der eine oder andere der Tischgenossen wissen, daß ein Obergestütmeister auf dem Gestüt Kirnberg sich um die Hand Anna's bewerbe, daß er von der Gräfin Melusine, deren Anbeter er früher gewesen sei, begünstigt werde, und sich seit längerer Zeit bei dem alten Hofwirthe in Eckernhausen einzuschmeicheln gewußt habe. Der arme Heinrich! Er sitzt in Grünfeld als Hauslehrer und schmiedet wahrscheinlich noch Sonette auf Anna's Locken, Augen, Hände, und sie?
Ich kann es nicht glauben, obgleich mir auch von meiner Hauswirthin bestätigt ist, daß Graf Schlottheim sich auf dem Schlosse befindet.
Den 10. November.
Es ist geschehend! – Gestern hat man auf dem Schlosse die Verlobung Olga's mit dem Grafen Schlottheim und Anna's mit Claasing gefeiert. Werde ich es überleben? Ich schicke diesen Brief an Deinen Vater.
Vale.
Dein Karl.

Paris, 14. März 1792.
Lieber. Du bist ein bleichsüchtiger Schwärmer, ein gänzlich unpraktischer Mensch, ein deutsches Mondscheingewächs! Du mußt aus Heustedt heraus! Komm hierher, wo die Seele zwei Drittel des Tags in den Füßen logiren muß, und Du wirst Deine sentimentalen Grillen los werden, wirst Hamlet und Werther abschütteln. Mensch, sei doch vernünftig. Entweder entführe die Comteß, oder verführe sie, oder resignire und heirathe ein bürgerliches Blut, erziehe gesittete Kinder und bleibe ein ruhiger Staatsbürger. Wenn Du acht Tage hier wärst, würdest Du einsehen, daß es nicht Zeit ist, mit »Puppen zu spielen und mit Lippen zu fechten« – und die Pariserinnen? Prächtige Geschöpfe, sage ich Dir, ich glaube, sie würden Dich Deine Comtesse vergessen lehren, Dich lehren, was jener Vers sagen will,. der uns einst zu übersetzen so schwer wurde:
Est bellum bellum bellis bellare puellis! [Es ist ein schöner Krieg, mit schönen Mädchen zu kriegen , Fontanefan]

Ich bin nicht in der rosigsten Laune. Der Onkel aus Birmingham war hier; er ist reich, hat keine Kinder, er ist die Ursache, daß ich hier bin, indem er mir die Mittel zu einer Ausbildungsreise und zum Aufenthalt in Paris, London und Edinburgh zu schenken versprach. Jetzt ist er nach Rouen abgereist, nachdem er mich drei Wochen lang mit seinen beinahe unerträglichen Launen und Eigenheiten gequält hat, mir von morgens früh, während wir noch beide im Bette lagen, bis spät abends Rathschläge ertheilte, wie ich zum reichen Manne werden könne; und als er nun abreiste, ließ mir der Geizhals siebenhundert Livres in Papier zurück, was nach jetzigem Curse etwa sechsundachtzig Thaler macht. Davon habe ich hundertfunfzig Livres für Staarmesser und sonstige chirurgische Instrumente ausgegeben, mir eine Wohnung gemiethet und mich in öffentlichen Blättern als Arzt für Augen- und Hautkrankheiten bekannt gemacht. Ja, ich will Geld verdienen, schon um von diesem Onkel unabhängig zu werden und dem Vater nicht mehr zur Last zu fallen.
Es ist traurig auf dieser Welt, daß alles, alles Interesse beinahe zuletzt auf Geldgewinn zusammenschrumpft! Kommt, kommt Pariser, laßt euch von dem deutschen Arzte den Staar stechen!
Uebrigens ist der Eindruck, den Paris mit einzelnen Ausnahmen auf mich gemacht hat, keineswegs ein großartiger und überwältigender gewesen, als ich erwartet hatte. Er war zum Theil sogar unangenehm; die Straßen sind eng, die Häuser hoch, man glaubt sich in einer Felsspalte. Die Leute sehen in den ersten zwei Stockwerken den Himmel nicht, es sei denn, daß sie rückwärts den Kopf zum Fenster hinausstecken und über sich sehen. Nur eine Gosse geht durch jede Straße, deren Pflaster bis zur Mitte abwärts hängt; ein dicker Koth bedeckt es, Pferde, Kutschen, Karren, Menschen und Esel arbeiten durch denselben, vergebens sucht man einen Fußweg zur Seite. Will man das Ansehen eines reinlichen Menschen behalten, so muß man unter allen nur denkbaren Windungen und Stellungen sich zwischen Savoyarden, Perrükenmachern, Mehlkrämern, Laternenweibern u. s. w. jeden Augenblick hinwegschieben!
Denke Dir den Contrast mit unserm reinlichen Göttingen! Will man inne werden, daß man im großen Mittelpunkte der cultivirten Erde und des Geschmacks sich befindet, so muß man in das Palais-Royal gehen. Hier ist alles zu kaufen, wonach das Herz sich sehnen kann, alle Bedürfnisse des ausschweifendsten Luxus können hier befriedigt werden; und die Menschen, die sich in diesen Räumen drängen und stoßen!? Menschen gibt es hier nicht mehr, es gibt nur Demokraten und Aristokraten, Anhänger der Constitution und Verächter derselben. Das Zanken und Streiten in allen Gesellschaften hört nicht auf, Widerspruch und Spaltung können nicht ausgebreiteter sein. So bleiben kann es nicht, was aber werden wird, läßt sich schwer im voraus bestimmen. – Ein reichgalonirter Bedienter, wie man ihn noch selten jetzt sieht, ruft mich zur Frau des schwedischen Gesandten Staël, der Tochter Necker's, ruft mich als Arzt. Soll ich ihr den Staar stechen? Vielleicht in Beziehung auf ihren Geliebten Narbonne und sein Verhältniß zu Mlle. Contant, die wieder mit dem von Narbonne geraubten Gelde kernhaftere Wüstlinge unterhält, als ihr Unterhalter ist?
Dein Justus. [Justus Erich Bollmann]

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 3. Kapitel

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