29 Oktober 2023

Steffen Mau: Lütten Klein Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

  Steffen Mau: Lütten Klein Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp 2019

dazu auch: Youtube Interview

Einleitung, S.11 ff.

"Gab es in der Frühphase beachtliche Aufstiegsmobilität, so war die späte DDR durch eine starre Sozialstruktur und zunehmend verstopfte Pfade in die höheren Positionen gekennzeichnet. Sie war zudem eine eingekapselte und ethnisch homogene Gesellschaft, die kaum Erfahrung mit Zuwanderung gemacht hatte. [...]

Zudem fand sich die DDR-Bevölkerung über Nacht auf den unteren Rängen der gesamtdeutschen Hierarchie wieder und unterschichtete die westdeutsche Gesellschaft. Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen waren an der Tagesordnung, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem man gerade zum ersten Mal die beglückende Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit gemacht hatte. Es gab einen massiven Elitentransfair von West nach Ost – eine Überschichtung –, die wichtigsten Schaltstellen der ostdeutschen Teilgesellschaft wurden mit neuen, importierten Eliten besetzt." (S.15)

Lütten Klein (der Name stammt aus dem wendischen und bedeutet kleiner Ahorn,) ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin: [...] (S. 18)

1. Leben in der DDR, S.25 ff.

"Christoph Weinhold, der 1966 während seines Architekturstudiums als Praktikant nach Rostock kam, blieb und später, nach der Wende, Architekt der Hansestadt werden sollte, war einer der Planer der Neubauten im Nordwesten Rostocks. Lütten Klein hatte, so seine Einschätzung, "eine besondere Position im Kanon der Entwicklung des Städtebaus, gehörte es doch vom Planungsansatz und von der räumlichen Dimensionen her mit Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt und Schwedt zu den ersten großen, durch Arbeitskräftekonzentration hervorgerufenen Stadt- und Stadtteilplanungen." Das Vorhaben wurde auch in den anderen sozialistischen Ländern aufmerksam zur Kenntnis genommen und fand Eingang in zahlreiche Standardwerke zur sozialistischen Baukultur. Im Vergleich zu vielen Altbauten, die auf dem technischen Standard der Jahrhundertwende verharrten, war die Wohnqualität hier von "konkurrenzlose(r) Attraktivität. Die Wohnungen gelten als komfortabel, da sie mit Fernwärme und nicht/mit Kohlöfen beheizt wurden, warmes Wasser aus den Hähnen kam und alle lebensnotwendigen Infrastrukturen vor Ort vorhanden waren." (S.27/28)

Die "Platte" versammelte alle Schichten, alle Berufsgruppen und stellte durch die standardisierten Lebenslagen und die geringe Varianz der Lebensformen Kohäsion zwischen unterschiedlichen sozialen Fraktionen her. Sie beseitigte Trennungslinien zwischen akademisch Qualifizierten, Facharbeitern, Angestellten sowie Un- und Angelernten und schuf an schichtenübergreifendes respektables soziales Milieu.

Unsere Nachbarn im Hochhaus waren Diplom-Ingenieurinnen, Bäcker, Stahlschiffbauer, Lehrerinnen, Straßenbahnschaffner, Opernsänger, Sprachwissenschaftlerinnen, Seemänner, Sparkassenangestellte, Bauzeichnerinnen, NVA-Offiziere. Selbst Universitätsprofessoren, das Leitungspersonal sozialistischer Betriebe und höre Politfunktionäre wohnten bei uns im Viertel. So konnte man – ohne dass dies in irgendeiner Weise als falsche Fraternisierung mit dem Volk der Werktätigen angesehen worden wäre - den Direktor einer Rostocker Werft aus einem Plattenbau herauskommen und in einen dunkelblauen Wolga mit Chauffeur einsteigen sehen." (S. 37)

Die Wohnraumbewirtschaftung unterlag politischen Maßgaben und keine ökonomischen Regulierung über den Mietpreis oder einen Markt. Quadratmeter Preise von 80 kündigen bis 1,20 DM der DDR und Energiepreise, die deutlich unter den Erzeugungskosten lagen/bedeuteten dass die DDR ihre Muster viertel heftig subventionieren musste. Die Furcht, bei einer Anhebung der Preise und eine Annäherung an die realen Kosten von den Bürgern abgestraft zu werden, war zu groß. Dafür klopfte man sich oft und gerne auf die Schulter. In der Ostsee Zeitung, dem SED Blatt des Bezirks Rostock, war im August des Jahres 1989 folgender Lobgesang auf die niedrigen Mieten zu lesen:

Für die Bürger der Republik ist es von großer Bedeutung und ein Markenzeichen sozialistischer Wohnungspolitik, dass sie seit mehr als 40 Jahren stabil sind. Etwa 3 % vom netto Einkommen eines Arbeiter – und Angestellten Haushalt werden dafür verausgabt. Die Mieten decken rund ein Drittel der Bewirtschaftungskosten, die anderen zwei drittel werden Tim Staatshaushalt finanziert. Zwischenraum der Vollständigkeit halber und nicht wegen der Polemik sei angemerkt, dass der Anteil der im Wohnungsmieten an Familieneinkommen in der BR D bis zu 50 % beträgt [...]. Seite 37/38

Die in den Neubaugebieten Stein gewordene Wohnungspolitik der DDR verschrieb sich einem Leitbild, dass auf Vereinheitlichung setzte. Damit wurde ein städtebaulich verankert es Bezugssystem für die durch die Bürger zu erfüllenden gesellschaftlichen Rollen geschaffen, dass auf zusammenfügen und Konformismus, nicht auf aus Differenzierung und Individualisierung ausgerichtet war. Zwischenraum die größeren Betriebe waren in dem Wohnviertel präsent Zwischenraum auch andere staatlich Mandat kollektive wie Eltern Kollektiv in der Schule bis hin zur Hausgemeinschaft – waren fester Bestandteil des Alltagslebens. Die fungierten als erweiterte Sozialisationsagenturen, die auf die Einbindung der Menschen achteten und/das Leben jenseits der Arbeit nahezu konkurrenzlos bewirtschafteten. In den Häusern wurden Verantwortliche gewählt, es gab ein Hausbuch, in das sich Bewohner und Gäste eintragen mussten, die Flurwoche war üblich.[...]" (S. 38/39)

"Das Umpflanzen einer großen Zahl von Menschen in die sozialistischen Wohnkomplexe sollte auch die aus den Herkunftskontexten mitgebrachten Verhaltensweisen und Eigensinnigkeiten zurückdrängen. Von dieser Sozialökologie des Wohnens versprach man sich nicht weniger als einen Persönlichkeitswandel, der jeden einzelnen auf seine gesellschaftliche Rolle festgelegte und damit einen mehr oder weniger freiwilligen Verzicht auf Extravaganzen und Widerspruch bestärkte, so dass sich staatliche Nachstellungen und die Drohkulisse der Sicherheitsorgane vielleicht nicht erübrigten, aber doch weniger notwendig erschienen." (S. 40)

"Die Unterschiede in den Wohnformen waren zunächst äußerlich, aber es gab auch etwas im Habitus der Bewohner, dass die Altbaumenschen von uns unterschied. Dazu trug sicher auch die soziale Selektivität derer bei, die sich vorstellen konnten, in einem auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampften Neubauviertel zu leben. In der Altstadt wohnten in der Mehrzahl ältere Leute, Studierende und die Reste des Bürgertums. Richtige Bürgerkinder aus der Innenstadt traf ich erst als ich anfing, als Jugendlicher ins Volkstheater Rostock zu gehen und dort am Jugendklub teilzunehmen. Allerdings war das "Refugiumsbürgertum", das man an den Elbhängen Dresdens oder in einigen Teilen Berlins besichtigen konnte, in der Hafenstadt Rostock trotz langer Universitätstradition eine allenfalls randständige und kleine Gruppe. [...] Das gesellschaftliche Modell der Plattenbausiedlung zielte auf die soziale kulturelle Integration der Werktätigen, ihr sozialer Ertrag bestand in der Schaffung respektabler und selbstbewusster Milieus, in denen soziale und auch kulturelle Unterschiede weitgehend abgemildert waren." (S.42)

"Fragt man ehemalige DDR – Bürger heute, welcher sozialen Errungenschaft sie nachtrauern, so nennen viele die im Vergleich zur Bundesrepublik geringere soziale Ungleichheit. Zwar findet man kaum jemanden, der sich für ein System der absoluten Gleichheit ausspricht, aber ein engeres bei bei einander stehen der sozialen Gruppen und eine relative Gleichheit der Lebensverhältnisse werden als positiv empfunden. Zwischenraum die DDR hat zwar nicht die klassenlose Gesellschaft eingeführt, sich aber doch daran gemacht, gravierende materielle Ungleichheiten zu beseitigen."    (S. 43)

"Die Erinnerung an die DDR-Gesellschaft trügt allerdings nicht vollends, auch wenn sie nur einen Teil der Verhältnisse spiegeln mag. In der DDR spielte die normative Selbstbindung an gesellschaftliche Gleichheitsziele eine große Rolle, der erreichte Grad an sozialer Egalität galt sogar als Fortschrittsmaß der sozialistischen Gesellschaft. Die DDR hat zwar nicht die klassenlose Gesellschaft eingeführt, sich aber doch daran gemacht, gravierende materielle Ungleichheiten zu beseitigen. Die Enteignungswellen in der sowjetischen Besatzungszone und in den ersten Jahren der DDR, die Verstaatlichung großer Bereiche /sowie die begrenzten Möglichkeiten der Vermögensbildung wirkten der Entstehung von Besitzklassen im Sinne des Soziologen Max Weber entgegen. Das Eigentum an Immobilien, Luxusgütern oder Produktionsmitteln war kein hervorstechendes gesellschaftliches Differenzierungskriterium, dass eine Statusordnung begründet hätte. Als privilegiert galten diejenigen, denen ein Häuschen an der Ostsee gehörte oder zugeschanzt wurde. Wer sich jedoch von anderen absetzen wollte, wurde schnell mit Konsumengpässen konfrontiert, dem uniformen Angebot und der  begrenzten Produktpalette. In wichtigen Bereichen, etwa im Wohnungswesen, beim Zugang zur Urlaubsplätzen oder bei der Bildung, spielte Geld nur eine untergeordnete Rolle und wurde von anderen, eher politischen Distributionsmodi überlagert. Was in der Erinnerung als Gesellschaft der Gleichen erscheint, war eine nach unten hin nivellierte Gesellschaft." (S. 43/44)

"Gerade weil viele Mitglieder des Führungszirkel selbst als einfachen Milieus stammten, versuchten sie, den Anschein eines gesellschaftlichen Gefälle zu vermeiden, und verknappten den Zugang zu Hörer Bildung und hören Qualifikationen. Gegen den internationalen Trend kräuselte die DDR den Ausbau von erweiterten Oberschule und Universitäten." (S. 53)












ABF  Die Aula






























"Alltagskulturell blieb die Funktionskaste im Grunde ihrem Herkunftsmilieu verbunden: Sie war zwar machtstark, aber kulturarm.". (S. 65)

2. TransformationenS.113 ff.

Zusammenbruch und Übergang, S.113 ff

Endlichkeit einer Gesellschaftsform S.113 ff

"Albert O.. Hirschman [...] hat drei Strategien unterschieden, wie Menschen reagieren, wenn sie mit einem System nicht länger zufrieden sind: exit (Abwanderung), voice (Widerspruch) und loyalty (Loyalität). Zwar übte sich zunächst nur ein kleiner Teil der DDR-Bürger in aktiver Opposition, aber die Bereitschaft, Unzufriedenheit und Zweifel zu äußern (voice) nahm insgesamt doch zu. Im Sommer 1989 begann dann die Flucht und Ausreisewelle über Ungarn und die Prager Botschaft (exit), doch auch sie bremste den erwachenden Widerspruchsgeist nicht spürbar ab. [...] Die Massenloyalität schmolz rapide dahin, das System reagierte zunächst mit einer Mischung aus barscher Gegenwehr und rhetorische Überhöhung gesellschaftspolitischer Fernziele, dann mit Zugeständnissen und Reformversprechen. Allerdings verschliss sich diese Melange nach und nach. (S. 116)

Zerfallserscheinungen (S.117 ff.)

"[S.118: ]Ab einem gewissen Punkt hatten dann viele das Gefühl, es sei tatsächlich möglich, der Führung durch einen stummen Protestzug durch die Innenstadt Zugeständnisse abzuringen. .Dieses – für jeden Soziologen spannende – Kippen von Einschüchterung und Anpassung zu offenen Widerspruch erlebte ich als NVA-Soldat im Grundwehrdienst in der Werder Kaserne in Schwerin hautnah mit. ...
















Fotos: S.S.118/119


"[...]Was die eigentlich risikoaversen DDR-Bürger trieb, war dabei weniger die Lust am Untergang als vielmehr die Hoffnung auf Veränderung. Das Umschlagen subjektiver Ohnmacht in kollektive Handlungsmacht hatte etwas Berauschendes – so habe ich es damals empfunden und so muss es vielen, vor allen den Jüngeren gegangen sein, selbst wenn sie nicht zur Opposition zählten. War bislang alles starr und vorherbestimmt, hatten die versteinerten Verhältnisse, mit Marx gesprochen nun plötzlich zu tanzen begonnen." (Steffen Mau: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp 2019, S.121)

2. Blaupause West, S.133 ff.

Der Organisierungsgrad der Parteien war weit geringer als im Westen. "Einzig die Linkspartei war mit einem festen Wählerstamm im Osten von Anbeginn verankert, wobei die Mitglieder Basis durch das Wegsterben der Älteren immer schmaler wird. Die AfD beginnt seit einiger Zeit, mehr und mehr Mitglieder einzusammeln – Ende 2018 waren es in Mecklenburg-Vorpommern schon über 750, die angegebene Zielmarke ist 1000. Schaut man auf die Ergebnisse der letzten Europawahl im Mai 2019, scheint die AfD auf dem Weg zur ostdeutschen Regionalpartei, die die traditionellen Volksparteien zum Teil überholt." (S.145) [Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023 zeigten freilich auch im Westen in dieselbe Richtung.]

"Die Wiedervereinigung steht, so gesehen, für eine Unternutzung des demokratischen Potenzials der friedlichen Protestbewegung und für eine Übernutzung des nutz nationalen Potenzials politische Mobilisierung. Den Lohn ehemaligen DDR Bürgern wurde zu verstehen gegeben, dass ich ihre Stellung und ihr Status vor allem vom Deutsch – sein ableitet und nicht auf ein Republikanisches Verständnis der Mitglieder schafft zurückgeht. Angesichts des Verlustes der Heimat DDR und der gleichzeitigen kulturell – politischen Entwertung dieser Identitätsressourcen nimmt es nicht Wunder, dass ich viele ostdeutsche bereitwillig auf dieses neue Identitätsangebot einlesen. Die DDR war keinesfalls frei von nationalen Anwandlungen, im Prozess der Vereinigung wurden diese Leidenschaften aber weiter versiert und identitätspolitisch aufgeladen (S. 149)

3. Vermarktlichung S.150 ff.
Allein von 1989 auf 1990 brach die Industrieproduktion der DDR um über vierzig Prozent ein, weil im Osten die Märkte wegfielen und/man gegenüber dem Westen nicht konkurrenzfähig war: die ersten Entlassungswellen trafen die Menschen aus heiterem Himmel. [...] Von den im Jahr 1989 Erwerbstätigen arbeiteten vier Jahre später gut zwei Drittel nicht mehr im ursprünglichen Beruf, bei Personen auf den höheren Leitungspositionen waren es neunzig Prozent. Arbeitslosigkeit wurde binnen kürzester Zeit zum ostdeutschen Kollektivschicksal, wobei die Folgen weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinausgingen. In praktisch jeder Familie musste(n) ein oder gar mehrere Mitglieder zu Hause bleiben, die urplötzlich nichts mehr mit sich anzufangen wussten und darauf warteten, dass die Gesellschaft ihnen ein Angebot machen würde. [...] Die im Westen nicht unumstrittene Eingliederung der ehemaligen DDR-Bürger in die bundesdeutschen Sozialsysteme war das Palliativ, um den Schmerz des Absturzes einigermaßen zu lindern." (S. 151)
"In den Folgejahren kam es in ganz Ostdeutschland im Zeitraffer zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit bis auf Höchstwerte von über 20 Prozent. Vierzig aller Beschäftigten waren bis 1996 mindestens einmal arbeitslos. Die Frauen waren davon noch deutlich stärker betroffen als die Männer, was auch damit zu tun hatte, dass sie häufig in Sektoren arbeiteten, in denen der Strukturwandel besonders stark zuschlug: [...] Begleitet wurde die krankmachende Gesundschrumpfung durch eine ganze Reihe arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die für Ostbiografien als typisch gelten können: Vorruhestand, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulungen und Kurzarbeit machten aus ehemaligen Werktätigen Kostgänger des Sozialstaates, die nun am Tropf öffentlicher Zuwendungen hingen. Nicht umsonst hat man die ostdeutschen als 'Pioniere der Prekarität' bezeichnet." (S.153)

"Die vielbeschworene Individualisierung ging in Ostdeutschland mit sozialer Separierung ein her. Freundeskreise zerrissen, Familienbande lockerten sich, Bildungskarrieren entwickelten sich auseinander, die Nähe des Wohnens wurde aufgehoben. Konkret stellten sich Fragen wie: Wer in meinem Freundeskreis kann sich den Restaurantbesuch oder eine gemeinsame Urlaubsreise leisten? Die formierte und auf einheitlich getrimmte Gesellschaft wurde fragmentierter, was auch bedeutete, dass die Individuen aufgefordert waren, sich in einer unübersichtlicher werdenden Statuslandschaft zu neu zu verordnen. [...] 
Wer gehofft hatte, nach dem Ende der DDR-typischen politisierten Verteilung von Positionen und Ressourcen würden nunmehr meritokratische Prinzipien einziehen, wurde enttäuscht. Statt Qualifikation und Leistungsbereitschaft waren es kontingente Umstände, die die Post-Wende-Biografien dirigierten: der richtige Ort, die richtige Zeit oder die richtigen Kontakte. Meine Mutter konnte sich in den Räumlichkeiten ihrer alten Poliklinik als Kassenärztin niederlassen. Dafür musste sie zwar mit über fünfzig Unternehmerin werden und Kredite schultern, / aber die Arbeit blieb ihr erhalten. So half den einen das Quäntchen Glück, andere gerieten in die Teufelsmühle von Jobverlust, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulung." (S.159/160)

Unterschichtung, Überschichtung, S.166
Statusbedingte Deklassierung
Aufstieg für alle?  (S.169ff.)
Nach 1989 wurden die Mobilitätsblockaden der ostdeutschen Gesellschaft also nicht aufgelöst, sondern vertieft. Statt auszuheilen, ist die Erstarrung mit einem weiteren Bruch überlagert worden, der auch die nachfolgenden Kohorten einschränkt. In Bezug auf die erneute Aushärtung nach der Wende ist von sozialstruktureller Petrifikation oder Versteinerung gesprochen worden. Man kann das aber auch anhand des Spiels 'Reise nach Jerusalem' veranschaulichen: Nachdem es jahrzehntelang kaum Bewegung gegeben atte und alle an ihren Stühlen klebten, spielte plötzlich die Musik. Manche sprangen beherzt auf, doch viele wurden, ob sie wollten oder nicht, hochgerissen. Doch bevor es so richtig losging, verstummte die Musik wieder. Nun fehlte allerdings nicht nur ein Stuhl sondern gleich mehrere, so dass für viele kein Platz mehr war." (S.172)

24 Oktober 2023

Marie Hesse in Selbstzeugnissen

 Jetzt habe ich das Buch in der Hand, von dem ich vor gut drei Jahren schrieb, dass die Verfasserin und Hauptperson im Titel ganz merkwürdig versteckt wird:

"Marie Hesse. Die Mutter von Hermann Hesse. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern von Adele Gundert"

Ein Buch voll des Überschwangs. Ständig verliebt sie sich: in eine 16-Jährige, in einen Mann. Mit beiden darf sie nicht verkehren.* Sie wird hierhin und dorthin geschickt, lebt sieben Jahre von ihren Eltern und Brüdern getrennt, dann von ihren Pflegeeltern. Immer wieder ist sie bereit, dennoch die liebevolle Behandlung durch die neuen Pflegepersonen zu würdigen. Schließlich wird ihr mitgeteilt, sie werde als Braut von einem zukünftigen Missionar gewünscht, doch es werde noch vier Jahre dauern, bis sie heiraten könnten. Als ihre Mutter meint, sie würde niemals einen Mann nehmen, der sie vier Jahre warten lasse, notiert sie in ihr Tagebuch:

"O Mama!! Mein Wunsch ist's freilich nicht, aber wenn es sein / muss, werde ich mich drein finden, so sehr es gegen meine Natur geht. Aber vier Jahre Braut sein ist Seligkeit gegen den Gedanken, nicht Braut zu sein. Nein, ich will alles tun und dulden, wenn's sein soll, nur um seinetwillen, aber es wird kein Dulden sein, wenn ich's für ihn tue und er mich liebt. Ich, kann Mama nicht verstehen, die spricht vom Heiraten, als sei das das Große. Lieben will ich, lieben, das ist mir wichtiger als heiraten. Freilich wäre mir's lieb wenn wir bald zusammenkämen. Aber das scheint mir von Mama ein herzloser Gedanke: Nein sagen wegen vier Jährlein Brautzeit. O nein, Mama, du kennst dein Kind noch nicht." (S.70/71)

*In diesem 'Tagebuch des Backfischleins' steht auch jene bittersüße Liebesgeschichte, die wie in billigen Romanen mit einer Liebe auf den ersten Blick einsetzt. Nur ein paar Tage lang konnten sich Marie Gundert und John Barns aneinander erfreuen, zumeist nur durch Briefe und Gedichte, die sie sich heimlich zusteckten, dann legte das Schiff in Bombay an – und die beiden wurden getrennt. Das Mädchen wartete vergebens auf einen Brief des Geliebten und die Wiedersehensfreude mit den Eltern wurde durch das unerklärliche Schweigen getrübt. Erst Wochen später erfuhr Marie, wer ihren Freund mit harten Worten von ihr getrennt und versucht hatte, die eben aufgeflammte Liebe zu ersticken: ihr eigener Vater. Barns hatte / ihm geschrieben, um Maries Hand angehalten und einen Brief an sie beigelegt. Doch der Vater hatte ihm 'als einem impulsiven Mann, einem Weltmann' jegliche Verbindung mit seiner Tochter verboten und den Brief an sie zurückbehalten. 

'Ich hörte es', heißt es in der Selbstbiografie, 'und das Herz wollte mir stille stehen, ja ich wünschte mir, es möchte in diesem Nu plötzlich erkalten und sterben, wie meine Hoffnungen und Träume'. Das Mädchen haderte mit Gott und den Menschen, und dass es gerade der sonst so verständnisvolle, der überaus verehrte und geliebte Vater war, trieb Marie in eine schreckliche Einsamkeit. Gedicht um Gedicht entstand, in denen sie ihre Enttäuschung im Gedenken an den Geliebten zu bewältigen versuchte. Einige Monate später, es war der 24. Februar 1858, besuchte Marie den Missionar Samuel Hebich, einen Mitarbeiter des Vaters. [...] Dass er jedoch in der liebeskranken Marie Gundert eine andere Einstellung zu ihren Mitmenschen wecken könnte, das hätte diesem schrulligen Hagestolz niemand zugetraut. Der Besuchstag bei Hebich war für Marie der Tag ihrer 'Bekehrung', sie 'opferte ihre Liebe und versöhnte sich mit den Eltern in der gemeinsamen Hingabe an den Missionsgedanken'.

Marie wurde Schülerin, Reisebegleiterin und Sekretärin ihres Vaters. Einen besseren Lehrer hätte sie in keiner Schule finden können. [...] In kleineren und größeren Reisen fuhren und ritten Vater und Tochter kreuz und quer durch das Land, um Schulen zu besuchen. Außerdem trat Marie als Gehilfin neben die Mutter, die schon zwei Mädchenmissionsschulen eingerichtet und mit gutem Erfolg geleitet hatte und nun im Begriff war, die dritte Mädchenschule in Kalikut aufzubauen. Hier konnte die fünzehneinhalbjährige Tochter ihre ersten Unterrichtserfahrungen machen, sie lehrte Englisch und Handarbeit, bald auch Geographie, und vertrat die Mutter als Schulleiterin, wenn diese einmal verreist war. Voraussetzung für diese Lehrtätigkeit war natürlich, dass sie die Landessprache, dass Malayalam, einigermaßen beherrschte." (Siegfried Greiner: Nachwort, S.239/241)

Aus der Zeit der Krankheit ihres Mannes Charles Isenberg, der mit 30J. starb:

"Ja, mitten im Leiden, an des Todes Tür, waren wir reich und selig in unserer Liebe." (S.123)

1883 an Karl (ohne Datum)

"Erst wenn das Herz in Gott Ruhe und volle Genüge gefunden, kann es ohne jeden Schaden mit kindlicher Freude und reinem Genuss auch in Natur, Kunst, Wissenschaft und Erdenliebe entgegennehmen, was Gottes Güte beut, mit dankbar frohem Herzen. Solange diese Güter aber dem armen Menschen Herzen als Brunnen zum Durstlöschen dienen mit Umgehung der einzigen wahren Lebensquelle, solange mischt sich Überdruss, Verschmachten, Unbefriedigtsein und Sünde auch in den besten Genuss. Doch ich muss schließen. Gott behüte und segne dich, mein liebes Kind, und lasse dich trinken von dem Lebenswasser, das auf ewig das Dürsten der Seele stillt. Mit Kuss deine dich innig liebende Mama"

Angesichts des schweren Lebens, das Marie führt, ist solche Ergebung in Gott wohl eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben:

Die Menschen, die sie liebt, werden von ihr getrennt. Als sie sich entschieden hat, einen künftigen Missionar, für den die Missionsgesellschaft sie als Frau ausgesucht hat, auf den ersten Blick zu lieben und dann geduldig vier Jahre zu warten, bis sie heiraten kann, sie bekommt neun Kinder, von denen mehrere im ersten Lebensjahr sterben. Als sie sich in Basel eingelebt haben, ruft ihr Vater ihren Mann - und damit die Familie - zur Unterstützung seiner Arbeit zurück nach Calw, wo sie dann in ungesunden Wohnverhältnissen wohnen müssen.

Angenommen, diese Ergebung in Gottes Willen wäre bei Frauen allgemein zutiefst erlebt worden, wäre Emanzipation der Frau fragwürdig. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sie allgemein vorhanden war. Die heilige Elisabeth hat sich vielleicht trotz der unwürdigen Behandlung, die sie durch Konrad erfuhr*, als auf dem einzig richtigen Weg empfunden. 

Die Mehrzahl der Frauen wird sehr gelitten haben,  freilich vor Augen gehabt haben, dass es anderen noch schlechter ging.

*"Konrad von Marburg zwang Elisabeth zur Lossagung von ihren Kindern, zur Trennung von ihren Vertrauten Guda und Isentrud von Hörselgau und strafte sie mehrfach hart, um ihren Willen zu brechen. Die Quellen berichten unter anderem davon, dass er sie einmal so sehr von seinen Dienern schlagen ließ, dass sie die Spuren der Bestrafung über Wochen trug.[57] Im Urteil des zeitgenössischen Cäsarius von Heisterbach trug Konrad mit seiner Strenge und Härte gegenüber Elisabeth erheblich zu ihren Verdiensten und damit auch zu ihrer Heiligsprechung bei. Nach der Überlieferung des Libellus reagierte sie auf die Bestrafung mit den häufig zitierten Worten:

„Es steht uns wohl an, dass wir dergleichen gern aushalten, weil wir wie das Schilfrohr im Fluss sind. Steigt der Fluss an, dann wird das Rohr gebeugt und zusammengedrückt und das überflutende Wasser durchdringt es, ohne es zu verletzen. Wenn dann die Überschwemmung nachlässt, richtet sich das Rohr wieder auf und wächst mit voller Kraft heiter und vergnügt. So ziemt es uns auch immer, dass wir gebeugt und gedemütigt werden und nachher wieder heiter und vergnügt dastehen.“[58]


Weiter zu Marie Hesse (Ich hätte es mir denken sollen, aber ich hatte nicht damit gerechnet):
"Das Tagebuch vermerkt: "Denke ich an Basler Wohnung, Freiheit und Umgang, an unser ungeniertes Familienleben zurück, so will mich's hier beengen. Aber für das innere Wachstum ist's besser so, das glaube ich." Das Letztere sollte sich als Irrtum erweisen. Das Haus, dessen vordere schöne Zimmer natürlich Großvaters Wohnung waren, war nach hinten gegen den Berg feucht und ungesund und erschien Johannes oft wie ein Gefängnis, wo er nie mehr gesund werden könne."

Tagebuch 1887:
"Was die inneren Erfahrungen dieses Jahres betrifft, so kann ich nur mit tiefster Beschämung zurückblicken auf Niederlage um Niederlage, und auf Zeiten der tiefsten Verzagtheit und Entmutigung. Oft fürchtete ich, gemütsleidend zu werden, so schwer ging’s durch. Die Verhältnisse sind schwierig und beengt, aber wenn das Gottes Weg ist, so müssen wir ihn gehen und stille und dankbar sein. In großer Seelennot ward mir Trost und viel Ermunterung zuteil durch eine Rede von Schrenk über "die Verherrlichung Gottes unser einziger Lebenszweck. Ach ja, das muss ich im Auge behalten. Wir vergessen oft in der täglichen Misere des Erdenlebens, was doch klar und deutlich Jesus uns vorausgesagt hat Matth.. 16. Ihm nachfolgen, heißt Kreuz auf sich nehmen, sich verleugnen, sein Leben verlieren – nicht gute Tage und Ruhe auf Erden. Ach, noch merke ich nichts von Seinem Gepräge an mir. So viel Hass und Zorn und Ärger und Eigenliebe kommt tagtäglich zum Vorschein, dass ich erschrecke." (S.198)

Tagebuch 1888
"Wir blicken zurück auf 1888 als auf ein Jahr, dass mehr Kampf als Sieg, mehr Last als Lust, mehr Kümmernisse als Freuden brachte… Immer wieder sträubt sich der eigene Sinn gegen alle die Verhältnisse, in die wir hier eingeengt sind, und die Frage: "Dürfte und könnte und sollte nicht doch allerlei geändert und gebessert werden?" steigt oft auf. Im Geschäft ist mein lieber Mann unbefriedigt, ihm und mir fehlt überall die Freiheit. Um der Liebe willen sie dran geben, ist recht und schön, ob aber Papa und uns damit wirklich gedient, irgendjemand genutzt wird? Auf mir liegt es wie ein Alp, ich hatte in diesem Jahre gegen Schwermut anzukämpfen wie noch nie. Auch Johannes geht gedrückt einher, es kommt zu keinem freien fröhlichen Aufschwung. Doch was klage ich? Drückt der Mangel noch so sehr, "Du füllst des Lebens Mangel aus mit dem, was ewig steht."

Tagebuch 1889
"in diesem Jahr steigertes sich das Schwierige der Verhältnisse bis zur Unerträglichkeit. Johannes wurde immer nervöser und elender, schlaflos, durch Kopfschmerzen fast arbeitsunfähig. Ich war halb gemütsleidend… Wiederholt hatte mir Johannes erklärt, er könne nicht gesund werden in dem Calwer Verlagsvereinshaus und all den verzwickten Verhältnissen und Aufgaben dort. Papa hat es offenbar geschmerzt; aber er ahnte nicht, wie viel es uns gekostet, wie schwere Opfer wir ihm in diesen dreieinviertel Jahren gebracht haben. Trennung ist um umgänglich notwendig…
Am 16. September 1889 zogen wir in die neue Wohnung (in der Ledergasse), die sonnig und behaglich ist. Gott sei Dank, nun haben wir wieder ein Heim!
… Johannes "kneipt" mit Erfolg, trinkt vor Schlafengehen Baldriantee und spürt nach und nach Besserung…" (S.199)

Nach dem Tod ihres Vaters "im Jahre 1893, befiel auch die Tochter eine schwere Krankheit. Es war eine Knochenerweichung (Osteomalazie), die trotz verschiedener Kuren nicht aufgehalten werden konnte und sich schließlich derart verschlimmerte, dass die Kranke die Füße nicht mehr zu heben vermochte und fast zwei Jahre lang liegen musste. Als die Kunst der Ärzte versagte, holte man den 'Evangelisten' Elias Schrenk, der Marie durch Gebet und Handauflegung geheilt haben soll. Sie schreibt über dieses 'Gnadenwunder': 'Ja, ich konnte die Füße / wieder lüpfen! Ich hatte sie vorher nur vorwärts schieben können, wenn man mich stüzte. Oh diese Wonne!… Als ich wieder an meine Kästen und Schubladen kam, war mir's, wie wenn alles mir neu geschenkt wäre, denn ich hatte ja mit allem abgeschlossen gehabt und dachte, es gehöre mir nimmer… Am 18. Januar [1896] richtete ich mich mir wieder meinen Schreibtisch und mein Arbeitstischchen zum Gebrauch ein… [...] 

Die fünf darauffolgenden Jahre einer leidlichem Gesundheit, die Marie Hesse nach ihrer schweren Krankheit noch verblieben, hat sie als göttliches Geschenk angesehen. [...]" (Siegfried Greiner: Nachwort, S.251/252)

22 Oktober 2023

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr1960 - 2000, München 2003 [Links zur Wikipedia]

KLAPPENTEXT

1960 erging an die Schriftsteller der Welt ein Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, sie möge den 27. September dieses Jahres so genau wie möglich beschreiben. Maxim Gorki hatte 1936 damit begonnen, "Einen Tag der Welt", wie es damals hieß, zu porträtieren. Christa Wolf reizte diese Idee, sie hat dann aber nicht nur den 27. September 1960 beschrieben, sondern von diesem Jahr an jeden darauffolgenden 27. September genau beobachtet und festgehalten, "mehr als die Hälfte ihres erwachsenen Lebens".

Rezensionen in Perlentaucher (SZ, ZEIT, NZZ, taz, FR, Sept./Okt. 2003)

Am 22.4.2004 schreibt Arno Widmann eine ungewöhnliche Rezension,
Es ist ein einmaliges Buch. 1960 rief die Moskauer Zeitung Iswestija die Schriftsteller der Welt auf, sie mögen alle einen Tag des Jahres, nämlich den 27. September so genau wie möglich beschreiben. Christa Wolf tat es. Vierzig Jahre lang. "Ein Tag im Jahr" sammelt auf fast 630 Seiten diese Aufzeichnungen. Es gibt keine vergleichbare Chronik der letzten vierzig Jahre. Jeder Leser wird die Schilderungen von Christa Wolf zu seinen Erinnerungen in Beziehung setzen. Christa Wolfs Notizen mobilisieren sein eigenes Gedächtnis. Er erinnert sich, wie sehr auch ihn Moshe Feldenkrais' "Bewusstheit durch Bewegung" (mehr) beeindruckte. Wenn er ein paar Jahre später liest, dass Christa Wolf "Feldenkrais-Exerzitien" macht, dann bewundert er die Kraft, mit der sie versucht, das für richtig Erkannte auch zu tun. Man kann, hat man ein bestimmtes Alter erreicht, "Ein Tag im Jahr" nicht lesen ohne sich dazu in Bezug zu setzen. Zu sehr ist es ein Buch über unser Leben. So anders das Leben der Christa Wolf auch gewesen sein mag als das ihrer Leser. Es sind dieselben Jahre und das übt einen eigenartigen Zauber aus. Identifikation und energische Markierung der Differenz lösen einander ab. Es gibt fast keine Seite, die den Leser ruhig lässt. Er ist zu sehr involviert. Woran Christa Wolf erinnert, beschämt den vergesslichen Leser. Was er bei ihr vermisst, wird dem Leser zu einer wichtigen Spur seiner eigenen Existenz.
Aber neben diesem die Lektüre bestimmenden Grundton gibt es die Themen, die den Leser gefangen nehmen. Da ist gleich vom ersten Jahr an - einen Monat nach dem Mauerbau- die schärfste Kritik an der DDR, die tiefgehende Enttäuschung an dem Staat, den sie gewollt und gestützt hat und die Reflexion darüber, dass sie doch bleiben muss. Um das Bessere zu ermöglichen, um dem weniger Schlimmen aufzuhelfen oder dann später nur noch, weil sie glaubt, es den Freunden, den Lesern schuldig zu sein: "denn hier werde ich gebraucht".
Die Grundspannung bleibt all die Jahre dieselbe. Sie wird nie gelöst. Sie wird gelebt, bedacht, beschrieben und erzählt. In immer neuen Gestalten. Vom "Geteilten Himmel" über "Kassandra" bis "Was bleibt?" 1979 notiert Christa Wolf: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten. Aber das wäre natürlich woanders genau so. - Nicht ganz, sagt er. Woanders würde es dich nichts angehen. - also eine Selbsttäuschung. - Ja. Aber woher eigentlich diese unauflösbare Identifizierung mit diesem Land. Warum wird man die nie los. - Ich sage, wenn sie es hätten loswerden können, wären Sarah Kirsch und Günter Kunert nicht gegangen. Das ist es eigentlich, wovor sie fliehen mussten. "Und ich werde mich immer an den Augenblick erinnern - Es war nach der Biermann-Ausbürgerung, es war in Ungarn, im Bus von Hevis zum Flughafen, als ich mir versprach: Wenn ich mich frei machen und weiter schreiben kann, ganz unabhängig, kann ich hier bleiben; wenn nicht, muss ich gehen."

Es sind Passagen wie diese, die einem die Augen öffnen für das, was Freiheit ist, wenn sie nur die des Urteils sein kann. Man kommt freilich auch auf den Gedanken, dass man vielleicht nicht alle Freiheiten gleichzeitig haben kann, nicht aus moralischen Gründen, sondern dass man aus ebenso unumstößlichen Gründen nicht gleichzeitig die Freiheit des Handelns wie die des Urteilens und die des Beschreibens haben kann, wie es unmöglich ist, gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens zu messen. Die von unserer Alltagserfahrung vielfältig gestützte Vorstellung, der handelnde, der sich also in seiner Praxis erfahrende Mensch, sei der, der sich eine klarere Kenntnis seiner Welt und seiner Selbst anzueignen in der Lage wäre, gilt vielleicht nur auf einem bestimmten Niveau unserer Erkenntnis. Auf anderen Ebenen aber verhindert die Fähigkeit zu Handeln gerade die zur Erkenntnis. Auch dafür fehlt es ja nicht an Beispielen, auch allerjüngsten aus Wirtschaft und Politik.

Jeder Leser wird "Ein Tag im Jahr" immer wieder aus der Hand legen, um solchen Tagträumereien nachzuhängen. Wer davor erschrickt, der wird keine zehn Seiten des Buches lesen können, wer dagegen für diese Art von Droge auch nur ein wenig empfindlich ist, der wird dem Buch verfallen. "Ein Tag im Jahr" ist ein stark wirksames Halluzinogen. Wie alle derartigen Substanzen bewirkt es, dass wir die Welt, nachdem wir sie genossen haben, anders wahrnehmen. "Ein Tag im Jahr" lässt einen anders als viele andere Halluzinogene nicht vergessen, wie arm man ohne es war, und gerade diese Erinnerung beflügelt die Einbildungskraft und macht einem Mut, weiter zu denken, selber zu denken. So sehr die Autorin sich ausliefert und so sehr das Regime der schwarzen Galle  hinter jeder Zeile zu drohen scheint, so sehr immer wieder der Generalbass aller Melancholie - die Antriebslosigkeit - aufklingt, so sehr mobilisiert dieses Buch gerade dadurch die Lebenskräfte des Lesers, seinen kindlichen Assoziationsdrang, seine Einfallslust. "Ein Tag im Jahr" ist gerade durch seinen Ernst, durch die Nähe zum Schmerz ein heiteres, ein erheiterndes Buch. 
Und es gibt Sätze darin! Noch ganze Generationen werden ihre Notizbücher und - es wird sie sicher wieder einmal geben - Poesiealben damit füllen: "Das Plenum hat entschieden: Die Realität wird abgeschafft." Das hat Christa Wolf zum berühmt-berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 notiert. Wer Herrn Weltekes langen Abschied vom Amt beobachtete, dem wurde klar, dass man dasselbe von einem Aufsichtsrat sagen kann. Institutionen, die uns helfen sollen beim Umgang mit der Welt, neigen dazu, uns den Blick auf sie zu verstellen. Mein Lieblingssatz aber lautet: "Politik machen, was soviel heißt wie: Gewalt verteilen." Soviel Carl Schmitt hat niemand bei Christa Wolf vermutet. Daneben gibt es Äußerungen, deren Zartheit so beschaffen ist, dass sie einem über Stunden weiterhilft: "Ich wusste auch, noch während ich auf meinem bequemen Kinosessel mir vornahm, klare, mutige Handlungen nicht zu meiden, sondern zu suchen, dass ich diesen Vorsatz nicht ausführen werde, dass ich nicht frei bin zu tun, was ich will, nicht einmal zu wollen, was ich will: das ist eigentlich 'Altern', das zu wissen und doch weiterzuleben und Freude und Genuss zu suchen und zu finden."

Kurzeindrücke von Fontanefan nach der Lektüre von Abschnitten aus unterschiedlichen Perioden
Periode 1993/94 nach dem Kalifornienaufenthalt: Ich staune weiter darüber, wie viel Christa Wolf noch über einen vergangenen Tag zu berichten weiß. Sie ist immerhin in dem Alter, wo andere Leute in Rente gehen oder in Pension (ich habe in dem Alter schon eine Zeit lang nicht mehr meinen Beruf ausgeübt) Und dann lese ich, dass sie bedauert, dass sie in der Zeit, wo sie diese Gedächtnisleistung aufbringt und auch noch sehr sprachbewusst (wenn auch nicht künstlerisch durchformt) das Erinnerte zu Papier bringt, dafür so viel Zeit brauche, ob es nicht verlorene Zeit sei. Dabei tut sie das schon seit über 30 Jahren und muss wissen, wie viel sie dem Vergessenwerden entrissen hat. 
Daneben: Es ist die Zeit, wo sie nach dem Kalifornienaufenthalt wieder in der deutschen Öffentlichkeit auftritt. So spricht sie offen darüber, dass sie schlecht damit zurecht gekommen sei, dass ihr Mann aus der Partei ausgeschlossen wurde, sie aber nicht. Sie habe es aber nicht fertiggebracht, von sich aus auszutreten, als die Versammlung sie nicht ausschloss: "Daß ich in dem Moment überrumpelt war, nicht geistesgegenwärtig genug, das zu tun, was ich da hätte tun müssen. [...] Heute früh fing ich an, meine Offenheit zu bereuen. Natürlich waren Pressevertreter mit im Raum, und natürlich wird man ein solches Bekenntnis gegen mich verwenden." (S.526)


Leseprobe:
 https://www.suhrkamp.de/buch/christa-wolf-ein-tag-im-jahr-t-9783518460078

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"Dienstag, 27. September 1960 Halle/S., Amselweg

Als erstes beim Erwachen der Gedanke: Der Tag wird wieder anders verlaufen als geplant. Ich werde mit Tinka wegen ihres schlimmen Fußes zum Arzt müssen. Draußen klappen Türen. Die Kinder sind schon im Gange. Gerd schläft noch. Seine Stirn ist feucht, aber er hat kein Fieber mehr. Er scheint die Grippe überwunden zu haben. Im Kinderzimmer ist Leben. Tinka liest einer kleinen, dreckigen Puppe aus einem Bilderbuch vor: Die eine wollte sich seine Hände wärmen; die andere wollte sich seine Handschuh wärmen; die andere wollte Tee trinken. Aber keine Kohle gab’s. Dummheit! Sie wird morgen vier Jahre alt. Annette macht sich Sorgen, ob wir genug Kuchen backen werden. Sie rechnet mir vor, daß Tinka acht Kinder zum Kaffee eingeladen hat. Ich überwinde einen kleinen Schreck und schreibe einen Zettel für Annettes Lehrerin: Ich bitte, meine Tochter Annette morgen schon mittags nach Hause zu schicken. Sie soll mit ihrer kleinen Schwester Geburtstag feiern. Während ich Brote fertigmache, versuche ich mich zu erinnern, wie ich den Tag, ehe Tinka geboren wurde, vor vier Jahren verbracht habe. Immer wieder bestürzt es mich, wie schnell und wie vieles man vergißt, wenn man nicht alles aufschreibt. Andererseits: Alles festzuhalten wäre nicht zu verwirklichen: Man müßte aufhören zu leben. – (S.9) [...] Im Wartezimmer großes Palaver. Drei ältere Frauen hocken beieinander. Die eine, die schlesischen Dialekt spricht, hat sich gestern eine blaue Strickjacke gekauft, für hundertdreizehn Mark. Das Ereignis wird von allen Seiten beleuchtet. Gemeinsam schimpfen alle drei über den Preis. Eine jüngere Frau, die den dreien gegenüber sitzt, mischt sich endlich überlegenen Tons in die fachunkundigen Gespräche. Es kommt heraus, daß sie Textilverkäuferin und daß die Jacke gar nicht »Import« ist, wie man der Schlesierin beim Einkauf beteuert hatte. Sie ist entrüstet. Die Verkäuferin verbreitet sich über die Vor- und Nachteile von Wolle und Wolcrylon. Wolcrylon sei praktisch, sagt sie, aber ..." (S.13/14)

Textauszüge:

27.9.1960 bis  27.9.1961 Halle/S., Amselweg

27.9.1962 bis 27.9.1970 

1.10.1964 Kleinmachnow Förster-Funke-Allee S.70/1









































"Dienstag 27.September 1977

Wolf schreibt - möglichst aktuell, aber doch immer wieder auch erst nachträglich oder auf mehrere Tage verteilt. Am 27.9.77 beginnt sie am Tag selbst, Nach 4,5 Druckseiten schreibt sie "Es ist jetzt 9 Uhr 45." - Da hat sie inzwischen [ab S.217] berichtet, dass sie morgens "vielleicht gegen drei" raus musste. 

Buchtext:

"Ich schlief bald wieder ein. erwachte endgültig um sechs. Obwohl ich mir abends – getreu eines Ratschlages in einer Fernsehsendung über Träume – den Befehl gegeben hatte, bei einem wichtigen Traum aufzuwachen und ihn zu behalten, verflüchtigte sich der Morgentraum unaufhaltsam. In meinem noch halbdämmrigen Bewusstsein setzte ein Suchen und Tasten nach festen Gegenständen ein, an denen die Gedanken sich halten könnten. Ich versuchte mir diese Gegenstände zu merken, da mir nach einiger Zeit einfiel, dass heute "Tag des Jahres" ist. Jetzt schon fällt es mir schwer, sie im Gedächtnis zu reproduzieren.

Immer noch geht es, wenn ich unwillkürlich mich denken lasse, um die Bewältigung des Schocks dieses Jahres – Biermann-Ausbürgerung und die Folgen. Immer noch bin ich verstrickt in einen inneren Monolog über dieses Thema, bemüht um Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung. Ich probte im Innern einen Dialog mit Übersetzern in Buckow, zu denen ich morgen fahren werde, minutenlang verfiel ich in dem Wunschtraum, Sarah käme zurück und wir richten ihr eine Wohnung ein. Beobachte auch seit Tagen an mir eine Verfestigung meines Willens zum Hiersein, was immer das nun für die Zukunft bedeuten mag. Überlegte eine Atmosphäre, eine Stimmung für den Mittelteil meiner Kleist-Günderode-Geschichte, der mir zu schwerfällig, noch ohne Inspiration zu sein scheint. Diese Art Inspirationen, die kleineren, handwerklichen, muss ich mir langwierig und mühsam [S.217/218] erarbeiten. Andere, "größere" Einfälle kommen öfter, scheinbar mühelos. (Eben, als Gerd sagt, in seinem Fürnberg-Nachwort habe der Verlag den Namen "Ernst Fischer" gestrichen, denke ich, man müsste einmal etwas schreiben unter dem Titel und Person. So in diesem Sommer eine Fülle von Plänen: vorgestern Nacht fiel mir ein Dialog zu dem Thema "Demontage" ein, den ich gestern Vormittag aufschrieb, der von Gerd sofort als zu platt erkannt und gar nicht erst zu Ende gelesen wurde.) Froh bin ich über den Einfall, der "Fiction" zu einem vielschichtigen Stoff gemacht hat, zu dem ich auch an diesem Morgen, nach sechs, neue Einfälle hatte, den ich nun "nur" noch ausarbeiten muss. Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt. Ich sehe, da es immer hell dafür, die Rose bei der Schreibmaschine vom Bett aus, finde sie schön, freue mich. Gerd fragt, wie spät es sei. – Halb sieben.. (Er hat nie eine Uhr in Reichweite.) Gar nicht so warm hier drin, sagt er. – Ich gestehe, mein Hals ist etwas dick. Immer die erste raue Luft im Herbst legt sich mehr auf den Rachen. Er will dagegen sofort etwas unternehmen, weiß bloß nicht, was, trauert den guten Tabletten nach, die wir voriges Jahr in Tübingen hatten, als ich eine Angina niederkämpfen musste. Oder war es vor zwei Jahren in der Schweiz (mir ist es unglaublich, dass Tübingen erst ein Jahr hier sein soll. Aufregung und Trauer und Verzweiflung scheint die Zeit zu dehnen.
Gegen dreiviertelsieben stehe ich auf, lasse Badewasser ein, höre die Nachrichten vom Deutschlandfunk: Norwegen ist bereit, an einem Wirtschaftsembargo gegen Südafrika teilzunehmen. Israel will Vertreter der Palästinenser in der Genfer Verhandlungsdelegation dulden. [...] [S. 218] 

[S.222] Freitag 30.9. 77, wieder in Meteln. Inzwischen ist das Wetter umgeschlagen, gestern kam ich bei Regen wieder in Schwerin an, um die Erkenntnis reicher, dass ich so stabil nicht bin, wie ich vor drei Tagen noch dachte, dass Meldungen über bestimmte Versammlungen mich immer noch deprimieren können. Aber ich muss den Dienstag rekonstruieren, ohne auf Notizen zurückgreifen zu können. [...] mache Spiegeleier, wasche das Frühstücksgeschirr ab… Was ich dabei dachte, weiß ich nun nicht mehr, so wird jetzt ein veräußerlichtes Bild dieses Tages hier entstehen müssen. Es zeigt sich – was auch am Erzählen nachprüfbar –: die äußeren Geschehnisse, Handlungen bleiben schärfer in der Erinnerung als das, was an inneren Leben – oft nicht synchron damit - abläuft. Ebenso, man sagt es mir auch von "Kindheitsmuster" immer wieder: die fast konventionell erzählten Partien, die dort entwickelten Figuren prägen das Erinnerungsbild des Buches bei vielen Lesern, viel stärker jedenfalls als die Reflektionen. Die Frage einer jungen Polin vorgestern auf dem Übersetzerseminar: Man lebe so mit der Familie [S.223] Jordan mit, man identifiziere sich so mit ihr – könne man da nicht die sechs Millionen Toten in Polen darüber vergessen? Zielte auf dieses Phänomen, auf die Kraft des Erzählten, auf sein Durchsetzungsvermögen gegenüber dem nur Gedachten. Muß überlegt werden für künftige Arbeiten.

Ich wusch noch das Mittagsgeschirr – jetzt weiß ich es wieder: Ich war unwillig geworden, nahm das ewige Geschirrwaschen zum Vorwand für den Widerwillen, der sich in Wirklichkeit um eine unterdrückte Angst zusammenzog:; dieses Selbstbehauptungsprogramm, das ich mir fest vorgenommen habe, zeigt seine Kehrseite: ich gebe mir weniger gern die Rückfälle zu, die Angst, die durch einen lächerlichen kleinen Artikel ausgelöst wird, die Fantasien – selbstquälerische –, die sich sofort daran knüpfen und mich mutlos machen, gleich wieder den Wunsch nach Selbstzerstörung hervor treten lassen, den ich doch ernsthaft und systematisch niederkämpfen will. Mir ist klar, daß ich damit werde ich leben müssen – aber eben leben: Er darf mich nicht einschränken. Vielleicht sind manche meiner Mutproben diesem unbewußten Vorsatz zu danken, das ich mich von meiner Angst nicht einschränken lassen will. Dabei ungeheuer und unabweisbar nach diesem Jahr (das eigentlich 'zuviel' war, aber Gerd hat natürlich recht: man muss es anders nehmen: so ist diese Zeit, und so bin ich in ihr, und auch das muss ich nicht aushalten, sondern zur Kenntnis nehmen und durchleben…) Eine alles andere zurückdrängende Sehnsucht nach Ruhe. Nach einem Winkel, in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfungen, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, dass ich so bin oder: so werde. Dies niederzuschreiben, kostet Überwindung wegen der bodenlose Naivität und Unerfüllbarkeit eines solchen Wunsches. Es gibt diesen Winkel nicht. Es gibt nur dieses Spannungsfeld (hier oder dort), in dem Leute wie ich immer zwischen den Fronten stehen, immer von beiden Seiten angegriffen sein müssen; da dann damit zu rechnen haben, dass sie sich, unter dieser Belastung, verändern: [S.223/ 224] zu empfindlich, auch ungerecht werden, also Angriffsfläche bieten, was dann die Munterkeit der Kampagne steigert. Es ist fast eine Materialfrage: wir müssen Nerven beschaffen sein, die das auf die Dauer aushalten. Manchmal wünsche ich mir einen Zusammenbruch, der mir vielleicht eine Pause von ein paar Wochen beschaffen könnte. Aber ich bin inzwischen so gefestigt, daß ich sehr lange am Rande meiner Kraft leben kann. Nicht mehr als ein bißchen Blutdruckanstieg manchmal, ein bisschen Herz- und Magenschmerzen, gehäufte Migräne: das war früher schlimmer, aus minderen Anlässen.
Neulich schrieb mir jemand, die Zahl meiner potentiellen Leser in diesem Land müsse immer mehr abnehmen, das sei gesetzmäßig. Das glaube ich auch.
Die Wunden sind noch schmerzempfindlich, und ich habe Angst auch vor diesem Schmerz, der an Grausamkeit alles überstieg, was ich vorher kannte. So, unter diesen Empfindungen, sitze ich dann stumm neben Gerd im Auto, er streicht mir manchmal übers Knie, dringt nicht in mich wie sonst oft, wenn er Charakter und Herkunft einer Stimmung sofort erfahren will, um dagegen zu polemisieren.
Die Luft ist kalt und klar. Als wir in Lübstorf abbiegen sagt Gerd: Hier ist es einem direkt schon heimatlich, findest du nicht. – Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören, oder zumindest schweigen. Ich denke oft, ob die Rechnung dafür uns noch zu unseren Lebzeiten präsentiert wird. Wenn nicht, muss ich sie mir selber präsentieren. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal die Kraft aufbringe zu der Schonungslosigkeit, die da gebraucht würde. Das ist vielleicht, [S.225] die Kernfrage für die Weiterarbeit, die ich manchmal einfach aufgeben möchte. [...]"


Zu Wolfs Bericht über den 27.9.94
Ich habe den Eindruck, dass Wolf sich anlässlich des ausführlichen Berichts manches von der Seele schreibt, was sie sonst nicht zu Papier bringen würde, wenn nicht der Auftrag, den sie vor 34 Jahren angenommen hat, ihr die Rechtfertigung böte, einiges relativ ausführlich unverarbeitet als rohen Erlebnis- und Reflexionsstoff  festzuhalten.

18 Oktober 2023

Wieland: Aristipp - Lais

 Eurybates an Aristipp

"[...] Nun noch ein Wort von unsrer Freundin Lais. Auch ich nehme an der schönsten und liebreizendsten aller Weiber, die seit der schönen Helena die Männerwelt in Flammen gesetzt haben, zu warmen Antheil, um nicht zu wünschen, daß ich dir die angenehmsten Nachrichten von ihr zu geben haben möchte: aber mit allen möglichen Nachforschungen ist von ihrem dermaligen Aufenthalt und Zustand nichts Zuverlässiges zu erhalten gewesen, wiewohl es an allerlei einander widersprechenden und mehr oder weniger ungereimten Gerüchten nicht fehlt. Ich besorge sehr, die Moiren6 spinnen ihr nicht viel Gutes. So viel scheint gewiß, daß ihr Vorsatz, sich in Thessalien anzusiedeln, nicht zu Stande gekommen ist. Der heillose Mensch, der ihr ganzes Wesen auf eine so unbegreifliche Art überwältiget hat, scheint ihr nicht Zeit dazu gelassen zu[11] haben. Er führte sie wie im Triumph von einer Thessalischen und Epirotischen Stadt zur andern, machte überall großen Aufwand, und verließ sie endlich (sagt man) wie Theseus die arme Ariadne auf Naxos, ohne sich zu bekümmern was aus ihr werden könnte. Sobald ich diese Nachricht aus einer ziemlich sichern Hand erhielt, schickte ich einen meiner Freigelass'nen, auf dessen Verstand und Treue ich rechnen darf, mit dem Auftrag ab, wofern es nöthig wäre ganz Thessalien, Epirus und Akarnanien zu durchwandern, um sie aufzusuchen und Nachrichten von ihr einzuziehen. Learch zu Korinth that eben dasselbe, und unser Vorsatz war, sie, sobald sie gefunden wäre, mit möglichster Schonung ihres Zartgefühls zu bewegen, überall wo sie künftig zu leben gedächte, uns die Sorge für ihre Haushaltung zu überlassen. Aber, wie gesagt, bis itzt ist es unmöglich gewesen auf ihre Spur zu kommen. Wir geben indessen noch nicht alle Hoffnung auf, und sobald wir etwas entdecken, soll es dir unverzüglich mitgetheilt werden. Wenigstens haben wir so viel mit unsern Nachforschungen gewonnen, daß alle über ihren Tod und die Art ihres Todes herumlaufenden Gerüchte bei genauerer Untersuchung falsch befunden worden sind. Mit wie vielem Vergnügen würde ich sie in den Besitz des schönen Witthums wieder einsetzen, wo der edle Leontides ihr auf alle Fälle eine ruhige und angenehme Freistätte gegen alle Zufälle des Lebens zu hinterlassen glaubte! [...]

Wieland: Aristipp, 3.Band 2. Brief

17 Oktober 2023

Wieland: Aristipp

"[...] Mein Traum ist nur zu bald in Erfüllung gegangen, lieber Aristipp! Die höhern Mächte haben eine strenge Rache an mir ausgeübt: Adrasteia, daß ich vierundzwanzig Jahre lang gar zu glücklich war; die Götter der Liebe, daß ich ihnen so lange Trotz zu bieten wagte. Xenophons Cyrus hat Recht behalten; nur darin irrt er sich, wenn er glaubt, das was er für das einzige Rettungsmittel gegen den furchtbarsten aller Dämonen hält, die Flucht, stehe immer in unsrer Macht.

Aber, gesetzt er hätte auch in diesem Stücke Recht, so verzeiht mir, lieben Freunde, daß ich euch sagen muß, ihr habt nicht bedacht was ihr mir ansinnt. Nein, gute Musarion, nein, liebenswürdige Kleone! – Lais kann nie die Dritte unter euch seyn! – Ueberlaßt sie ihrem Schicksal, und bittet die Götter, daß es erträglich ausfalle. [...]"

Wieland: Aristipp, 2. Band 57.Brief

Wieland: Aristipp

 

Antipater an Aristipp: Über Athen 

"[...] Ich habe Bürger aus beinahe allen Griechischen Städten kennen gelernt, und keinen gefunden, der ihr die seinige ohne Schamröthe oder aus einem andern Grunde vorzuziehen vermocht hätte, als dem Zauber, der uns an den Ort fesselt, wo wir das goldne Alter des Menschenlebens zugebracht haben. Was muß Athen für den seyn, der das Glück hatte, in ihrem Schooß aufzublühen? Wie natürlich kommen mir alle jene weltgepriesenen Thaten vor, die jemals für eine solche Stadt von ihren Söhnen gethan wurden? – und wenn ich bedenke, was sie erst seyn könnte, wenn sie den Gesetzen und der Verfassung ihres eben so klugen als weisen Solons treu geblieben wäre! – Was sie jetzt noch werden könnte, wenn sie anstatt ihrer stürmischen Volksherrschaft sich eine wohlgeordnete Aristokratie gefallen lassen, und statt der gefährlichen Eitelkeit, auf ihre eigenen und der ganzen Hellas Kosten nach einer Obergewalt, die ihr nie gutwillig zugestanden wird, zu streben, sich an dem hohen Vorzug begnügen wollte, das zu seyn wozu ihr Name selbst sie bestimmt, der Hauptsitz aller Künste des Friedens und der Musen, das Muster der schönsten Ausbildung, die Besitzerin der weisesten[361] Gesetze, der mildesten Regierung, der menschlichsten Sitten, des feinsten Sinnes für alles Schöne und Große, der vollkommensten und zierlichsten Sprache, und der angenehmsten Art des Daseyns zu genießen, kurz, durch Vereinigung alles dessen, was des Menschen Leben veredelt und verschönert, die erste Stadt der Welt zu seyn: wer würde dann nicht das Glück in Athen zu leben allem andern vorziehen, und die Nothwendigkeit, sie zu verlassen, für das größte aller Uebel halten? – Platon und Isokrates haben wahrlich keine Schuld, wenn Athen nicht dieses Urbild einer vollkommenen und glücklichen Republik ist – Aber die Sterblichen scheinen weder aufgelegt noch geneigt zu seyn, den Idealen ihrer Weisen Wirklichkeit zu geben, und unter allen Erdebewohnern die Athener vielleicht am wenigsten. Indessen, wie sie sind, habe ich ihnen und ihrer Stadt viel zu danken; und dieses Gefühl war es auch, was alle übrigen verdrängte und verschlang, als ich von einer Anhöhe auf dem Wege nach Eleusis den letzten Blick auf den hellbesonnten Tempel der Athene Polias heftete. [...]"

Wieland: Aristipp, 2. Band, 51. Brief