08 August 2010

Frau von Epinay

Frau von Epinay besaß, wie bereits erwähnt, sehr liebenswürdige Eigenschaften; sie war ihren Freunden sehr zugethan, diente ihnen mit großem Eifer und war, da sie es für sie weder an Zeit noch Freundlichkeiten fehlen ließ, sicherlich werth, daß sie ihr Gegendienste leisteten. Bisher hatte ich diese Pflicht erfüllt, ohne mir bewußt zu werden, daß es eine wäre; aber schließlich begriff ich, daß ich mich mit einer Kette belastet, deren Gewicht mich die Freundschaft allein zu fühlen verhindert hatte; und durch meinen Widerwillen gegen zahlreiche Gesellschaften hatte ich dieses Gewicht noch vermehrt. Frau von Epinay benutzte dies, um mir einen Vorschlag zu machen, der mir zu gefallen schien, ihr aber noch mehr gefiel. Er bestand darin, daß sie mich jedesmal davon in Kenntnis setzen wollte, wenn sie allein oder fast allein wäre. Ich ging darauf ein, ohne zu erkennen, wozu ich mich verpflichtete. Es folgte daraus, daß ich sie nicht mehr nach meinem, sondern nach ihrem Belieben besuchte, und daß ich nie sicher war, auch nur einen einzigen Tag über mich verfügen zu können. Dieser Zwang trübte die Freude, die mir bisher die Besuche bei ihr bereitet hatten, gar sehr. Ich fand, daß die Freiheit, die sie mir so zuversichtlich versprochen, mir nur unter der Bedingung gewährt war, mich ihrer nie zu bedienen, und als ich sie ein- oder zweimal benutzen wollte, gab es so viel Botschaften, so viel Billets, so viel Unruhe um mein Befinden, daß ich wohl einsah, nur wirkliche Bettlägerigkeit würde mir als Entschuldigung angerechnet werden, wenn ich nicht auf ihr erstes Wort zu ihr eilte. Ich mußte mich diesem Joche unterwerfen; ich that es und für einen so großen Feind aller Abhängigkeit sogar ziemlich gern, da mich die aufrichtige Zuneigung, die ich zu ihr empfand, davor bewahrte, die Last, die unvermeidlich damit verbunden war, in zu hohem Maße zu fühlen. Sie füllte auf diese Weise wohl oder übel die Lücken aus, welche die Abwesenheit ihres gewöhnlichen Hofes in ihren Vergnügungen ließ. Gewährte es ihr auch nur einen sehr unbedeutenden Ersatz, so war er doch immer noch besser als völlige Einsamkeit, die sie nicht auszuhalten vermochte. Indessen fehlte es ihr auch nicht an einem noch bessern Gegenmittel, seitdem sie sich durchaus hatte in der Literatur versuchen wollen und es nicht lassen konnte, Romane, Briefe, Lustspiele, Erzählungen und andere ähnliche Fadheiten, so gut es gehen wollte, zu schreiben. Aber ihre Hauptlust bestand nicht sowohl darin, diese Geistesproducte zu schreiben, als vielmehr sie vorzulesen, und hatte sie es zu Wege gebracht, zwei oder drei Seiten hinter einander zusammen zu klecksen, so bedurfte sie am Schlüsse dieser entsetzlich schwierigen Arbeit mindestens zweier oder dreier wohlwollender Zuhörer. Nur durch die Gunst irgend eines andern gelangte ich bisweilen zu der Ehre, zu der Zahl dieser Auserwählten zu gehören. Allein galt ich fast immer in jeder Angelegenheit für nichts, und zwar nicht allein in dem Gesellschaftskreise der Frau von Epinay, sondern auch in dem des Herrn von Holbach, und überall, wo Herr Grimm den Ton angab. War mir diese Nullität auch überall anderswo ganz angenehm, so doch nicht in dem Zusammensein mit ihr unter vier Augen, wo ich nicht wußte, welche Haltung ich annehmen sollte, indem ich weder von Literatur, über die mir kein Urtheil zustand, noch von Galanterie zu reden wagte, weil ich zu blöde war und die Lächerlichkeit eines alten Anbeters mehr als den Tod fürchtete. Dazu kam, daß Frau von Epinay gegenüber dieser Gedanke nie in mir aufstieg und vielleicht nicht ein einziges Mal mein ganzes Leben lang aufgestiegen wäre, wenn ich es auch immerdar an ihrer Seite zugebracht hätte. Nicht, daß ich gegen ihre Person Abneigung gefühlt hätte; im Gegentheile, ich liebte sie vielleicht zu sehr als Freund, um sie als Anbeter lieben zu können. Es machte mir Freude, sie zu sehen, mit ihr zu plaudern. Ihre in größerer Gesellschaft zwar ziemlich angenehme Unterhaltung war bei Privatunterredungen wenig anregend und wirkte erkältend; die meinige, die nicht witziger und lebhafter war, kam ihr dabei nicht sehr zu Hilfe. Ueber ein zu langes Stillschweigen in Verlegenheit gerathend, bot ich alle Kräfte auf, die Unterhaltung zu beleben, und obgleich es mich oft angriff, empfand ich dabei nie Langeweile. Es that mir wohl, ihr kleine Dienste zu erweisen, ihr ganz brüderliche Küßchen zu geben, die mir ihre Sinnlichkeit eben so wenig wie die meinige zu erregen schienen: das war alles. Sie war zu mager, zu blaß, ihr Busen flach wie meine Hand. Dieser Fehler würde allein genügt haben, um mich in Eis zu verwandeln; weder mein Herz noch meine Sinne sind je fähig gewesen, in einer Person, der der Busen fehlte, ein Weib zu sehen. Noch andere Gründe, die der Erwähnung nicht werth sind, haben mich bei ihr immer ihr Geschlecht vergessen lassen.
Als ich mich auf diese Weise einer nicht abzuschüttelnden Dienstbarkeit gegenüber sah, gab ich mich ihr widerstandslos hin und fand sie, wenigstens im ersten Jahre, weniger beschwerlich, als ich erwartet hätte. (9. Buch)

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