09 August 2010

Rousseaus Krankheiten

Bei meiner Geburt war ich kaum lebensfähig; man hatte wenig Hoffnung, mich zu erhalten. Ich brachte den Keim eines Leidens mit auf die Welt, welches die Jahre entwickelt haben und das mir nicht nur hin und wieder eine kurze Ruhe gönnt, um sich mir dafür auf andere Weise um so grausamer fühlbar zu machen. Eine Schwester meines Vaters, ein liebenswürdiges und kluges Mädchen, pflegte mich mit so großer Sorgfalt, daß ihr meine Rettung gelang. In dem Augenblicke, da ich dieses schreibe, ist sie noch am Leben, im Alter von achtzig Jahren einen Mann pflegend, der jünger als sie, aber durch die Trunksucht heruntergekommen und geschwächt ist. Liebe Tante, ich verzeihe dir, mich am Leben erhalten zu haben, und bedaure, dir am Ende deiner Tage nicht die zärtliche Sorge vergelten zu können, die du am Beginn der meinigen an mich verschwendet hast. (1.Buch)
Chemisches Experiment mit Gesundheitsfolgen
Auch verkehrte ich in Chambery viel mit einem Jakobiner, einem Lehrer der Physik und höchst gutmüthigen Mönche, dessen Namen ich vergessen habe. Er machte oft kleine Experimente, die mir außerordentliche Freude machten. Ich wollte sein Beispiel befolgen und nach Anleitung von Ozanams »Mathematischen Belustigungen« sympathetische Tinte machen. Nachdem ich zu diesem Zwecke eine Flasche mehr als zur Hälfte mit ungelöschtem Kalk, Schwefelarsenik und Wasser gefüllt hatte, pfropfte ich sie fest zu. Die Gährung trat fast augenblicklich mit großer Heftigkeit ein. Ich lief nach der Flasche hin, um sie zu öffnen, war aber nicht schnell genug da; wie eine Bombe sprang sie mir ins Gesicht. Ich mußte Schwefelarsenik und Kalk hinunterwürgen, und wäre daran fast gestorben. Länger als sechs Wochen blieb ich blind und lernte auf diese Weise, mich nicht mit Experimentalphysik zu befassen, ohne ihre Anfangsgründe zu kennen.
Im Hinblick auf meinen Gesundheitszustand, der seit einiger Zeit merklich schlechter wurde, stieß mir dieser Unfall sehr zur Unzeit zu. Ich weiß nicht, woher es kam, daß ich trotz meiner kräftigen Statur und Vermeidung jeglicher Ausschweifung zusehends abnahm. Ich habe eine umfangreiche breite Brust, die meiner Lunge genügenden Spielraum gewähren muß; nichtsdestoweniger hatte ich kurzen Athem, fühlte mich bedrückt, seufzte unwillkürlich, litt an Herzklopfen, spuckte Blut und bekam das schleichende Fieber, das ich nie wieder verloren habe. Wie kann man in der Blüte der Jahre, ohne einen organischen Fehler, ohne durch eigene Schuld die Gesundheit zerstört zu haben, in einen solchen Zustand verfallen? (5. Buch)

Hörsturz und Tinnitus
Eines Morgens, als ich mich nicht unwohler als gewöhnlich befand und eben eine kleine Tischplatte auf ihr Fußgestell legte, fühlte ich in meinem ganzen Körper eine plötzliche und fast unbegreifliche Veränderung. Ich kann sie nicht besser als mit einer Art Sturm vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und sich in einem Augenblicke über alle meine Glieder verbreitete. Meine Adern begannen mit einer solchen Gewalt zu schlagen, daß ich ihr Pochen nicht allein fühlte, sondern auch hörte und namentlich das Klopfen in den Kopfarterien. Dazu gesellte sich ein starkes Ohrensausen, und in ihm ließ sich etwas Dreifaches oder Vierfaches unterscheiden, nämlich ein tiefes und dumpfes Brausen, ein Murmeln, heller wie von rieselndem Wasser, ein sehr scharfes Pfeifen und das eben erwähnte Herzklopfen, dessen Schläge ich leicht zählen konnte, ohne erst meinen Puls zu fühlen oder meinen Körper mit den Händen zu berühren. Dieser lärmende Aufruhr in meinem Innern war so gewaltig, daß er mir die frühere Feinheit des Gehörs raubte und mich zwar nicht taub, aber doch harthörig machte, wie ich es seitdem geblieben bin.

Man kann sich meine Ueberraschung und meinen Schrecken vorstellen, ich hielt mich für dem Tode nah und legte mich zu Bett; der Arzt wurde geholt, ich erzählte ihm zitternd mein Leiden, das mir unheilbar schien. Ich glaube, er theilte meine Ansicht, aber er that, was sein Beruf mit sich brachte [...] und als ich nach Verlauf einiger Wochen bemerkte, daß ich mich nicht besser und nicht schlechter befand, verließ ich das Bett und nahm meine gewöhnliche Lebensweise trotz dem Schlagen meiner Arterien und meines Ohrensausens wieder auf, das mich von da an, das heißt seit dreißig Jahren, nicht eine Minute verlassen hat.

Bis dahin war ich sehr verschlafen gewesen. Die vollkommene Schlaflosigkeit, welche alle diese Krankheitserscheinungen begleitete und sie bis jetzt beständig begleitet hat, bestärkte mich vollends in der Ueberzeugung, daß mir nur noch wenig Zeit zu leben blieb. Diese Ueberzeugung beruhigte mich auf einige Zeit über die Sorge für meine Genesung. Da ich mein Leben nicht verlängern konnte, beschloß ich die kurze Lebenszeit, die mir noch vergönnt war, bestmöglichst auszukaufen, und das ermöglichte mir eine besondere Begünstigung der Natur, die mich in einem so traurigen Zustande mit den Schmerzen verschonte, die er dem Anscheine nach hätte hervorrufen müssen. Ich war von dem ewigen Sausen belästigt, litt aber nicht darunter; es war mit keiner andern bleibenden Unbequemlichkeit verbunden als des Nachts mit Schlaflosigkeit und mit einem stets kurzen Athem, der aber nicht bis zum Asthma ausartete und sich nur fühlbar machte, wenn ich laufen oder eine angestrengte Arbeit verrichten wollte.

Das Leiden, das meinem Körper hätte tödtlich werden müssen, tödtete nur meine Leidenschaften, und wegen der glücklichen Wirkungen, die es auf meine Seele ausübte, segne ich den Himmel jeden Tag dafür. Ich kann wohl sagen, daß ich erst zu leben anfing, als ich mich als einen todten Mann betrachtete. Indem ich den Dingen, von denen ich scheiden sollte, ihren wahren Werth zuerkannte, begann ich mich mit edleren Pflichten zu beschäftigen, mich gleichsam schon im voraus denen überlassend, die ich nun bald zu erfüllen haben würde, und die ich bis dahin arg vernachlässigt hatte. [...] (6. Buch)

Fehler der Harnblase
In dem ersten Theile dieses Werkes habe ich erwähnt, daß ich halbtodt geboren wurde. Ein organischer Fehler der Harnblase hatte in meinen ersten Jahren eine fast beständige Harnverhaltung zur Folge, und meine Tante Suzon, die meine Pflege übernahm, hatte unglaubliche Mühe, mich am Leben zu erhalten. Gleichwohl gelang es ihr; meine kräftige Natur gewann endlich die Oberhand, und meine Gesundheit erstarkte während meiner Jugend derart, daß ich, von der abzehrungsähnlichen Krankheit, deren Verlauf ich berichtet, und von dem häufigen Drange zum Uriniren abgesehen, der mich bei der geringsten Erhitzung quälte, das Alter von dreißig Jahren erreichte, fast ohne etwas von den Nachwehen meines anfänglich schwächlichen Zustandes zu empfinden. Erst bei meiner Ankunft in Venedig fühlte ich sie wieder. Die Ermüdung von der Reise und die furchtbare Hitze, die ich ausgestanden hatte, zogen mir Harnstrenge und ein Nierenleiden zu, die ich bis Eintritt des Winters behielt. Nach meinem Besuche bei der Paduana glaubte ich, ich müßte sterben, und hatte trotzdem nicht die geringsten Beschwerden; ja, nachdem ich mehr meine Einbildung als meinen Körper für meine Zulietta erschöpft hatte, fühlte ich mich wohler als je. Erst nach Diderots Verhaftung befiel mich in Folge der Erhitzung, die ich mir auf den in der damals entsetzlichen Sonnenglut nach Vincennes unternommenen Wanderungen zugezogen hatte, ein heftiges Nierenleiden, und nie habe ich seitdem meine frühere Gesundheit wiedererlangt.
In dem Zeitpunkte, von dem ich rede, wurde ich, da ich mich vielleicht bei der widerwärtigen Arbeit an dieser verwünschten Kasse ein wenig ermüdet hatte, leidender als zuvor und hütete in dem kläglichsten Zustande, den man sich vorstellen kann, fünf oder sechs Wochen das Bett. Frau Dupin schickte mir den berühmten Morand, der mir trotz seiner Geschicklichkeit und leichten Hand unglaubliche Schmerzen bereitete und es nie zu Stande brachte, mich zu sondiren. Er gab mir den Rath, mich an Daran zu wenden, dessen biegsamere Harnröhrchen sich wirklich zweckentsprechend zeigten. Als Morand indessen der Frau Dupin über meinen Zustand Bericht abstattete, erklärte er ihr, daß ich in einem halben Jahre nicht mehr am Leben sein würde. (8.Buch)

 Untersuchung von Harnröhre, Blase und Prostata
Sicherlich hatte ich damals eben so vielen Grund wie je, auf die Güte des Herrn von Luxembourg und im Nothfalle auf seinen Beistand zu rechnen, denn nie gab er mir häufigere und rührendere Freundschaftsbeweise. Als mir während seiner Anwesenheit zu Ostern mein trauriger Gesundheitszustand nicht gestattete, mich auf das Schloß zu begeben, verabsäumte er keinen Tag, mich zu besuchen, und da er mich unaufhörlich leiden sah, wußte er mich endlich dazu zu bewegen, mich an den Bruder Côme zu wenden. Er ließ ihn selbst holen, brachte ihn persönlich zu mir und hatte den bei einem großen Herrn wahrlich seltenen und anerkennenswerten Muth, während der sehr schmerzlichen und langwierigen Operation bei mir auszuharren. Trotzdem wurde diesmal nur eine Sondirung vorgenommen, die bisher niemandem, nicht einmal Morand gelungen war, der sie mehrmals und stets erfolglos versucht hatte. Der Bruder Côme, der eine beispiellos geschickte und leichte Hand hatte, brachte es endlich zu Stande, nach zweistündigen qualvollen Versuchen, während denen ich mich meine Klagen zurückzuhalten anstrengte, um das gefühlvolle Herz des guten Marschalls nicht zu zerreißen, eine sehr kleine Sonde einzuführen. Bei der ersten Untersuchung glaubte der Bruder Côme einen großen Stein zu entdecken und sagte es mir; bei der zweiten fand er ihn nicht mehr. Nachdem er sie noch ein zweites und drittes Mal vorgenommen hatte und zwar mit einer Sorgfalt und Genauigkeit, die mir die Zeit gar lang vorkommen ließen, erklärte er, daß kein Stein vorhanden, aber die Vorsteherdrüse sehr verhärtet und von unnatürlicher Dicke wäre; er fand die Blase groß und in gutem Zustande und erklärte mir schließlich, daß ich viel leiden und lange leben würde. Wenn sich die zweite Vorhersagung eben so gut wie die erste erfüllt, so werden meine Leiden nicht so bald aufhören.
Nachdem ich auf diese Weise so viele Jahre lang wegen allerlei Krankheiten behandelt worden war, die ich gar nicht hatte, erfuhr ich endlich, daß mein Leiden unheilbar, wenn auch nicht tödtlich, erst mit mir sein Ende erreichen würde. Meine durch diese Gewißheit gezügelte Einbildungskraft ließ mich nicht mehr in der Ferne einen unter den Schmerzen der Steinkrankheit erfolgenden bittren Tod erblicken. Ich hörte auf zu fürchten, daß das Ende einer Sonde, das schon vor langer Zeit in der Harnröhre abgebrochen war, den Kern zu einer Steinbildung gegeben habe. Von den eingebildeten Leiden befreit, die für mich schmerzlicher als die wirklichen waren, hielt ich diese letzteren ruhiger aus. So viel ist gewiß, daß ich seit dieser Zeit unter meiner Krankheit viel weniger als früher litt, und nie denke ich daran, daß ich diese Erleichterung Herrn von Luxembourg verdanke, ohne bei seinem Andenken von neuem von Rührung ergriffen zu werden. (11. Buch)

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