Die Wiederkehr des Lenzes hatte meine zärtliche Schwärmerei verdoppelt, und in meiner erotischen Leidenschaftlichkeit hatte ich für die letzten Abtheilungen der »Julie« mehrere Briefe verfaßt, welche die Begeisterung, in der ich sie schrieb, verrathen. Unter andern kann ich die über das Elysium und die Gondelfahrt auf dem See anführen, die, wenn ich mich recht erinnere, ihre Stelle am Ende der vierten Abtheilung gefunden haben. Wer sein Herz beim Lesen dieser beiden Briefe nicht von derselben Rührung, die sie mir eingab, ergriffen fühlt, möge getrost das Buch zumachen; er ist zur Beurtheilung von Gefühlssachen nicht geschaffen. 9. Buch
Diderot nahm mich gut auf. Viel, viel Kränkungen kann die Umarmung eines Freundes vergessen machen! [...] Vor fast sechs Monaten hatte ich ihm die beiden ersten Abtheilungen der »Julie« zugesandt, um mir sein Urtheil darüber mitzutheilen. Er hatte sie noch nicht gelesen. Wir lasen ein Heft derselben zusammen. Er fand alles feuillet, dies war seine Bezeichnung, nämlich mit Worten überladen und phrasenreich. Ich hatte es schon selbst sehr wohl gefühlt; aber es war das Geplauder des Fiebers; ich habe es nie verbessern können. Die letzten Abtheilungen sind nicht so. Namentlich die vierte und sechste sind stilistische Meisterwerke. (9. Buch)
Obgleich die »Julie«, die sich längst unter der Presse befand, auch am Ende des Jahres 1760 noch nicht erschien, so begann sie doch schon Aufsehen zu erregen. Am Hofe hatte von ihr Frau von Luxembourg, in Paris Frau von Houdetot geredet. Letztere hatte von mir sogar für Saint-Lambert die Erlaubnis erhalten, sie im Manuscript den König von Polen lesen zu lassen, der von ihr begeistert war. Duclos, den ich sie ebenfalls hatte lesen lassen, hatte von ihr in der Akademie geredet. Ganz Paris war voller Ungeduld, diesen Roman zu lesen; die Buchhändler in der Straße Saint-Jacques und im Palais-Royal wurden von Leuten, die sich nach ihm erkundigten, belagert. Endlich erschien er, und gegen die gewöhnliche Erfahrung entsprach sein Erfolg der Begierde, mit der er erwartet worden war. Die Frau Dauphine, die ihn mit zuerst gelesen hatte, redete mit Herrn von Luxembourg von ihm wie von einem entzückenden Werke. Unter den Schriftstellern waren die Ansichten getheilt, aber in allen andern Kreisen herrschte nur eine Meinung. Namentlich die Frauen waren von dem Buche wie von dem Verfasser bis zu dem Grade berauscht, daß es selbst in den hohen Kreisen nur wenige gab, deren Eroberung ich nicht gemacht hätte, wenn ich sie mir hätte angelegen sein lassen. Ich habe Beweise dafür, die ich nicht anführen will, und die, ohne daß ich sie erst hätte zu erproben brauchen, meine Behauptung rechtfertigen. Merkwürdig ist, daß dieses Buch in Frankreich größeren Erfolg gehabt hat als in dem übrigen Europa, obgleich die Franzosen, Männer wie Frauen, nicht sehr gut darin behandelt werden. Völlig gegen meine Erwartung war sein geringster Erfolg in der Schweiz, sein bedeutendster in Paris. Herrschen denn Freundschaft, Liebe, Tugend in Paris in größerem Umfange als anderswo? Nein, keineswegs; aber es herrscht daselbst noch jenes feine Urtheil, welches unser Herz an unsren Vorstellungen Theil nehmen läßt und uns an andern die reinen, zärtlichen und tugendhaften Gefühle lieben läßt, die wir nicht mehr besitzen. Die Sittenverderbnis ist nunmehr überall gleich groß; in Europa giebt es weder Sitten noch Tugend mehr, aber wenn es noch irgendwo Liebe zu ihnen giebt, muß man sie in Paris suchen. [Fußnote]Ich schrieb dies im Jahre 1769.
Mitten durch so viele Vorurtheile und erkünstelte Leidenschaften hindurch muß man das menschliche Herz genau zu analysiren verstehen, um darin die wahren Gefühle der Natur zu erkennen. Es gehört ein Zartgefühl dazu, das man sich nur im Verkehre mit der großen Welt aneignet, um, wenn ich so sagen darf, die Herzensfeinheiten zu fühlen, von denen dieses Werk voll ist. Den vierten Theil desselben stelle ich ohne Scheu der »Prinzessin von Cleve« zur Seite, und behaupte, wären beide Arbeiten nur in der Provinz gelesen worden, so würde man ihren vollen Werth nie erkannt haben. Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß der Erfolg dieses Buches bei Hofe am größten war. Es enthält eine Fülle von spannenden, wenn auch verschleierten Anspielungen, die dort gefallen müssen, weil man geübter ist, den eigentlichen Sinn zu erfassen. Doch auch hier noch muß man unterscheiden. Diese Lectüre ist wahrlich nicht für jene Klasse geistreicher Leute geeignet, die nur die Schlauheit und Spitzfindigkeit besitzen, das Schlechte zu durchschauen, und die da, wo nur Gutes zu sehen ist, nichts sehen. Wäre die »Julie« zum Beispiel in einem gewissen Lande, an das ich gerade denke, veröffentlicht worden, so bin ich sicher, daß niemand die Lectüre zu Ende gebracht hätte und sie schon am Anfange eingeschlafen wäre.
Die meisten Briefe, die mir über dieses Werk geschrieben wurden, habe ich in einem Hefte gesammelt, welches sich in den Händen der Frau von Nadaillac befindet. Wenn diese Sammlung je erscheint, wird man höchst eigentümliche Dinge und einen Widerspruch in der Beurtheilung wahrnehmen, der anschaulich zeigt, was der Verkehr mit dem Publikum zu bedeuten hat. Was man in der »Julie« am wenigsten gefunden hat und was aus ihr immer ein einziges Werk machen wird, ist die Einfachheit des Gegenstandes und das ununterbrochene Interesse, das, auf drei Personen beschränkt, sich sechs Bände hindurch ohne Episoden, ohne romantische Abenteuer, ohne Schlechtigkeiten irgend einer Art weder in den Charakteren noch in den Handlungen erhält. Diderot hat Richardson über die wunderbare Abwechselung in seinen Schilderungen und über die Menge der vorgeführten Persönlichkeiten große Lobeserhebungen gemacht. Richardson hat in der That das Verdienst, sie alle vorzüglich charakterisirt zu haben; allein was ihre Zahl anlangt, so hat er dies mit den geschmacklosesten Romanschreibern gemein, welche ihren Mangel an Gedanken durch den Reichthum an Personen und Abenteuern ersetzen. Es ist leicht, die Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man unaufhörlich unerhörte Begebenheiten und neue Gesichter vorführt, die wie die Bilder der Zauberlaterne vorüberziehen; aber diese Aufmerksamkeit stets auf die gleichen Gegenstände zu richten und zwar ohne wunderbare Abenteuer, das ist meiner Treu schwieriger; und wenn bei aller sonstigen Gleichheit die Einfachheit des Stoffes die Schönheit des Werkes hebt, so können Richardsons [Fußnote]Var. ... so können sich Richardsons Romane, was Diderot auch sagen möge, doch in dieser Hinsicht etc. in vielen andren Dingen vorzüglichere Romane sich doch in dieser Hinsicht mit dem meinigen nicht vergleichen. Trotzdem ist dieses so gut wie todt; ich weiß es und weiß auch den Grund; aber es wird wieder auferstehen.
Meine ganze Furcht war, daß in Folge der Einfachheit das langsame Fortschreiten langweilig werden würde und daß ich das Interesse nicht genug anzufachen verstanden hätte, um es bis zum Ende zu erhalten. Hierüber wurde ich durch eine Thatsache beruhigt, die allein mir mehr geschmeichelt hat als alle Höflichkeiten und Glückwünsche, die mir über dieses Werk zu Theil geworden sind.
Es erschien zu Anfang des Carnevals. Ein Colporteur brachte es der Frau Prinzessin von Talmont, [Fußnote]Nicht sie, sondern eine andere Dame, deren Namen ich nicht kenne, war es, aber die Thatsache ist mir versichert worden. als an demselben Tage grade Ball in der Oper war. Nach dem Abendessen ließ sie sich ankleiden, um dorthin zu gehen, und bis zur Abfahrtsstunde begann sie den neuen Roman zu lesen. Um Mitternacht befahl sie anzuspannen und fuhr zu lesen fort. Man meldete ihr, daß vorgefahren wäre; sie antwortete nicht. Als ihre Leute sahen, daß sie die Abfahrt vergessen hatte, machten sie sie darauf aufmerksam, daß es zwei Uhr wäre. »Es eilt nicht,« erwiderte sie, immer weiter lesend. Etwas später schellte sie, um sich, da ihre Uhr stehen geblieben war, nach der Zeit zu erkundigen. Man sagte ihr, es wäre vier Uhr. »Dann ist es zu spät, noch auf den Ball zu fahren,« entgegnete sie, »man spanne wieder aus.« Sie ließ sich auskleiden und las die ganze Nacht hindurch.
Seitdem man mir diese Anekdote erzählt hatte, sehnte ich mich immer danach, Frau von Talmont zu sehen, nicht allein um von ihr selbst zu erfahren, ob sie wirklich wahr ist, sondern auch weil ich stets überzeugt gewesen bin, daß man für die »Heloise« nicht ein so lebendiges Interesse fassen könnte, ohne jenen sechsten Sinn, den moralischen Sinn zu besitzen, mit dem so wenige Herzen ausgestattet und ohne den niemand das meinige zu verstehen vermag.
Was die Frauen mir so günstig stimmte, war ihre Ueberzeugung, ich hätte meine eigene Geschichte geschrieben und wäre selbst der Held dieses Romans. Diese Meinung hatte sich so fest gesetzt, daß Frau von Polignac brieflich Frau von Verdelin ersuchte, mich dazu zu bewegen, sie Juliens Porträt sehen zu lassen. Alle Welt war darin einig, daß man Gefühle, die man nicht empfunden, nicht so lebhaft wiederzugeben noch die Glut der Liebe anders als nach den Erfahrungen des eigenen Herzens zu schildern vermöchte. Hierin hatte man Recht und gewiß schrieb ich diesen Roman in den begeistertsten Verzückungen; indessen man täuschte sich, wenn man wähnte, daß ich, um in sie zu gerathen, wirkliche Gegenstände nöthig gehabt hätte; man war weit davon entfernt zu begreifen, wie sehr ich für eingebildete Wesen zu erglühen im Stande bin. Ohne einige Erinnerungen an meine Jugend und Frau von Houdetot hätte die Liebe, die ich empfunden und geschildert, es nur mit Sylphiden zu thun gehabt. Ich wollte einen Irrthum, der mir günstig war, weder bestärken noch zerstören. Aus der in Dialogsform durchgeführten Vorrede, die ich besonders drucken ließ, kann man ersehen, wie ich das Publikum darüber in Ungewißheit erhielt. Die Rigoristen sagen, ich hätte die Wahrheit rund heraus erklären sollen. Ich für meine Person sehe nicht ein, was mich dazu hätte verpflichten können, und ich glaube daß ich bei einer solchen ohne Notwendigkeit gemachten Erklärung eher Dummheit als Freimüthigkeit verrathen hätte. (11. Buch)
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