08 August 2010

Frau von Houdetot

Auf dem Höhepunkte meiner Träumereien erhielt ich einen Besuch von Frau von Houdetot, den ersten, welchen sie mir in meinem Leben gemacht hat, der aber, wie man später sehen wird, unglücklicherweise nicht der letzte blieb. Die Gräfin von Houdetot war die Tochter des seligen Generalpächters Herrn von Bellegarde, Schwester der Frau von Epinay und der Herren De la Lire und De la Briche, die später beide Einführer der Gesandten geworden sind. Ich habe bereits erzählt, wie ich sie noch als Mädchen kennen gelernt habe. Seit ihrer Verheirathung traf ich mit ihr nur bei den Festen auf der Chevrette bei ihrer Schwägerin, der Frau von Epinay, zusammen. Ich hatte oft mehrere Tage sowohl auf der Chevrette wie in Epinay mit ihr verlebt und fand sie nicht allein sehr liebenswürdig, sondern glaubte auch an ihr ein besonderes Wohlwollen gegen mich wahrzunehmen. Sie ging ziemlich gern mit mir spazieren; wir waren beide tüchtige Fußgänger, und unsere Unterhaltung gerieth nie ins Stocken. Trotzdem besuchte ich sie nie in Paris, obgleich sie mich darum gebeten und mehrmals sogar dringend gebeten hatte. Ihr vertrauter Umgang mit Herrn von Saint-Lambert, mit dem ich ein freundschaftliches Verhältnis zu unterhalten begann, machte sie mir noch anziehender, und gerade um mir von diesem Freunde, der sich damals, wie ich glaube, in Manon aufhielt, Nachrichten zu überbringen, besuchte sie mich auf der Eremitage.
Dieser Besuch glich einigermaßen dem Beginne eines Romanes. Sie verirrte sich auf dem Wege. Ihr Kutscher, der den Weg dort, wo er sich wendete, verließ, wollte an der Mühle von Clairvaux vorüber in gerader Richtung auf die Eremitage zufahren; im Thalgrunde blieb ihre Kutsche im Kothe stecken; nun wollte sie aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Ihre zierliche Fußbekleidung war bald durchnäßt; sie versank in den Koth; ihre Leute hatten alle Mühe von der Welt, ihr herauszuhelfen, und endlich langt sie unter lautem Gelächter, in welches ich, als ich ihren Aufzug gewahrte, einstimmte, in Stiefeln auf der Eremitage an. Sie mußte sich vollständig umkleiden. Therese versah sie mit allem Nöthigen, und ich forderte sie auf, ihren Rang zu vergessen und einen ländlichen Imbiß zu nehmen, den sie sich auch mit großem Behagen schmecken ließ. Da es schon spät war, verweilte sie nur kurze Zeit, aber die Zusammenkunft war so fröhlich, daß sie Gefallen daran fand und geneigt schien wiederzukommen. Dieses Vorhaben führte sie jedoch erst im nächsten Jahre aus; aber, ach, auch diese Verzögerung sollte mich nicht schützen! [...]
Gerade in dieser Zeit erhielt ich von Frau von Houdetot einen zweiten unvorhergesehenen Besuch. In der Abwesenheit ihres Mannes, der Kapitän in der Gensdarmerie war, und ihres Geliebten, der ebenfalls diente, war sie nach Eaubonne, mitten im Thale von Montmorency, gekommen, woselbst sie sich ein ziemlich hübsches Haus gemiethet hatte. Von dort aus machte sie einen neuen Ausflug nach der Eremitage. Auf dieser kleinen Reise ritt sie und zwar in Männertracht. Obgleich ich kein Freund derartiger Maskeraden bin, begeisterte mich doch der romantische Anstrich der ihrigen, und diesmal erglühte ich in Liebe. Da es die erste und einzige in meinem ganzen Leben war, und mir wegen der sich daran knüpfenden Folgen ihre Erinnerung ewig unauslöschlich und schrecklich geworden ist, so möge es mir gestattet sein, dieses Verhältnis ausführlich zu besprechen.

Die Frau Gräfin von Houdetot näherte sich den Dreißigen und war keineswegs schön; ihr Gesicht zeigte Blatternarben; ihrem Teint gebrach es an Reinheit; sie war kurzsichtig und ihre Augen traten etwas zu sehr hervor, aber bei dem allen hatte sie ein jugendliches Aussehen, und ihr zugleich lebhaftes und freundliches Gesichtchen etwas ungemein Anziehendes. Sie hatte einen wahren Wald von starkem, schwarzem, natürlich gekräuseltem Haar, welches bis zu den Kniekehlen hinabreichte; ihr Wuchs war zierlich, und in allen ihren Bewegungen gab sich eine gewisse Unbeholfenheit und doch auch wieder Anmuth zu erkennen. Sie war äußerst natürlich und hatte einen recht anregenden Geist; Frohsinn, Schelmerei und Naivetät vermählten sich darin auf das glücklichste. Sie sprudelte von reizenden Einfällen, die sie nicht suchte und die ihr bisweilen unwillkürlich entschlüpften. Sie besaß mehrere angenehme Talente, spielte Klavier, tanzte gut und machte leidliche Verse. Ihr Charakter war wahrhaft engelgleich; aus allen ihren Eigenschaften leuchtete die Sanftmuth ihrer Seele hervor; mit Ausnahme der Klugheit und der Kraft zierten sie alle Tugenden. Namentlich war sie von einer solchen Zuverlässigkeit im Umgange und von einer solchen Treue gegen ihren Bekanntenkreis, daß sich selbst ihre Feinde nicht vor ihr zu verbergen brauchten. Unter ihren Feinden verstehe ich die Männer oder vielmehr die Frauen, welche sie haßten, denn sie für ihre Person war unfähig zu hassen, und ich glaube, daß diese Charakterübereinstimmung viel dazu beitrug, mir Liebe zu ihr einzustoßen. Auch in ihren vertraulichsten Herzensergießungen habe ich sie nie von Abwesenden Böses reden hören, nicht einmal von ihrer Schwägerin. Wie sie außer Stande war jemandem ihre Gedanken zu verhehlen, so vermochte sie auch nicht einmal ihre Gefühle zu bezwingen, und ich bin überzeugt, daß sie über ihren Geliebten eben so gut mit ihrem Manne sprach, wie sie über ihn mit ihren Freunden, ihren Bekannten und mit aller Welt ohne Unterschied zu reden pflegte. Kurz, was die Reinheit und Aufrichtigkeit ihres vortrefflichen Charakters beweist, ist der Umstand, daß sie in ihrer außerordentlichen Zerstreutheit und bei ihren vielen lächerlichen Unbesonnenheiten sich wohl oft zu etwas hinreißen ließ, was ihr selbst höchst nachtheilig war, aber nie zu Dingen, die irgend jemand hätten kränken können.

Man hatte sie sehr jung und trotz ihres Widerspruches an den Grafen von Houdetot, einen Mann von hohem Range und militärischem Geiste, aber einen Spieler und Raufbold vermählt, der sehr wenig liebenswürdig war und den sie auch nie geliebt hat. Sie fand in Herrn von Saint-Lambert alle glänzende Seiten ihres Mannes im Vereine mit bestechenderen Eigenschaften, mit Geist, Tugenden und Talenten. Wenn an den Sitten des Jahrhunderts etwas verzeihlich erscheint, so ist es unzweifelhaft eine solche, durch ihre Dauer geläuterte und durch ihre guten Einflüsse heilsam wirkende Verbindung, die nur durch eine gegenseitige Achtung Festigkeit erhielt.

Sie kam, wie ich glaube, ein wenig aus eigenem Antriebe, hauptsächlich aber wohl Saint-Lambert zu Liebe. Er hatte sie darum ersucht und konnte mit Recht annehmen, daß die Freundschaft, die sich zwischen uns zu bilden begann, uns allen dreien diesen Umgang angenehm machen würde. Sie wußte, daß ich von ihrem Verhältnisse unterrichtet war, und da sie von ihm ohne Verlegenheit mit mir sprechen konnte, so war es natürlich, daß sie sich bei mir gefiel. Sie kam, ich sah sie; ich war liebestrunken ohne Gegenstand; diese Trunkenheit bezauberte meine Blicke, sie erkannten diesen Gegenstand in ihr. In Frau von Houdetot erblickte ich meine Julie und sah in ihr bald nichts mehr als Frau von Houdetot, aber mit allen Vollkommenheiten bekleidet, mit denen ich den Abgott meines Herzens geschmückt hatte. Um das Werk zu krönen, erzählte sie mir von Saint-Lambert mit der Glut einer zärtlich Liebenden. Ansteckende Macht der Liebe! Als ich sie anhörte, als ich mich an ihrer Seite gewahrte, überschlich mich ein eigenthümlich lieblicher Schauer, wie ich ihn noch nie an der Seite einer Frau empfunden hatte. Sie sprach und ich fühlte mich bewegt; ich glaubte nur von Theilnahme für ihre Gefühle ergriffen zu sein, als sich meiner ähnliche Gefühle bemächtigten; in langen Zügen trank ich die vergiftete Schale aus, von der ich bis jetzt nur die Süßigkeit empfand. Kurz, ohne daß ich und ohne daß sie es merkte, flößte sie mir dieselben Gefühle gegen sich ein, die sie für ihren Geliebten hegte. Ach, es war sehr spät, es war sehr grausam, für eine Frau, deren Herz einen andern liebte, in einer eben so heftigen wie unglücklichen Leidenschaft zu entbrennen!

Trotz der starken Gemüthsbewegungen, die ich an ihrer Seite empfunden, wurde ich mir anfangs nicht darüber klar, was mit mir vorgegangen war; erst als ich nach ihrer Entfernung an Julie denken wollte, fiel es mir auf, daß ich nur noch an Frau von Houdetot denken konnte. Nun gingen mir die Augen auf; ich fühlte mein Unglück, ich beseufzte es, sah aber die Folgen nicht voraus.

Lange war ich über die Art meines künftigen Benehmens ihr gegenüber unschlüssig, als ob die wahrhafte Liebe dem Menschen Vernunft genug ließe, um solchen Vorsätzen nachleben zu können. Ich war noch zu keinem Entschlusse gekommen, als sie abermals erschien und mich unversehens überraschte. Diesmal war ich vorbereitet. Die Scham, die Gefährtin des Uebels, machte mich ihr gegenüber stumm und verlegen; ich wagte weder den Mund zu öffnen noch die Augen aufzuschlagen; ich befand mich in einer unbeschreiblichen Verwirrung, welche ihr auffallen mußte. Ich entschloß mich, sie ihr einzugestehen und sie die Ursache ahnen zu lassen: das hieß, sie ihr deutlich genug angeben.

Wäre ich jung und liebenswürdig gewesen, und hätte sich Frau von Houdetot in der Folge schwach gezeigt, so würde ich hier ihre Aufführung tadeln; allein dies war nicht der Fall, ich kann dieselbe nur anerkennen und bewundern. Der Entschluß, den sie faßte, verrieth sowohl Edelmuth wie Klugheit. Sie konnte sich nicht plötzlich von mir zurückziehen, ohne Saint-Lambert, der sie selbst zu Besuchen bei mir aufgefordert hatte, den Grund mitzutheilen; das hätte geheißen zwei Freunde einem Bruche und vielleicht einem Aufsehen erregenden Streite aussetzen, was sie vermeiden wollte. Sie achtete mich und wollte mir wohl. Sie hatte Mitleid mit meiner Thorheit; ohne ihr zu schmeicheln, bedauerte sie sie und suchte mich davon zu heilen. Es freute sie, ihrem Geliebten und sich selbst einen Freund zu erhalten, den sie schätzte; von nichts redete sie zu mir mit größerem Vergnügen als von dem innigen und freundschaftlichen Umgange, den wir unter uns dreien pflegen könnten, wenn ich vernünftig geworden wäre. Sie beschränkte sich nicht immer auf diese freundschaftlichen Ermahnungen, sondern ersparte mir, wenn es Noth that, auch nicht härtere Vorwürfe, die ich gar wohl verdient hatte.

Ich selbst schenkte sie mir noch weniger; sobald ich allein war, kam ich wieder zu mir; nachdem ich geredet hatte, war ich ruhiger. Hat man der, welche uns die Liebe einflößt, sie bekannt, so läßt sie sich leichter ertragen. Der Nachdruck, mit dem ich mir die meinige vorwarf, hätte mich, wäre es überhaupt möglich gewesen, davon heilen müssen. Welche mächtige Beweggründe rief ich nicht zu Hilfe, um sie zu ersticken: meine sittlichen Grundsätze, meine Gefühle, die Scham, die Untreue, das Verbrechen, den Mißbrauch eines von der Freundschaft anvertrauten Schatzes, die Lächerlichkeit endlich, noch in meinem Alter in der heftigsten Leidenschaft für einen Gegenstand zu glühen, dessen bereits verschenktes Herz mir keine Gegenliebe verheißen noch Hoffnung lassen konnte; eine Leidenschaft noch dazu, die durch treue Ausdauer nichts gewann, sondern von Tage zu Tage weniger entschuldbar wurde.

Wer sollte meinen, daß gerade diese letzte Betrachtung, die allen übrigen noch größeres Gewicht verleihen mußte, diejenige war, die sie werthlos machte? Weshalb, dachte ich, soll ich mir aus einer Thorheit, die mir allein nachtheilig ist, ein Gewissen machen? Bin ich denn ein junger Cavalier, den Frau von Houdetot sehr zu fürchten brauchte? Würden mich meine dünkelhaften Gewissensbisse nicht der Einbildung verdächtigen, meine Galanterie, mein Aeußeres, mein zierliches Auftreten wären im Stande, sie zu verführen? Ach, armer Jean-Jacques, liebe getrost in aller Gewissensruhe und besorge nicht, daß deine Seufzer Saint-Lambert Nachtheil bereiten.

Man hat gesehen, daß ich nie, nicht einmal in meiner Jugend, unternehmend war. Diese Denkweise war die Folge meiner Geistesrichtung und war meiner Leidenschaft günstig; es war genug, mich ihr rückhaltlos zu überlassen und sogar über die alberne Bedenklichkeit zu lachen, die ich mir mehr aus Eitelkeit als aus vernünftigen Gründen gemacht zu haben glaubte. Welche gewaltige Lehre für die ehrlichen Seelen, die das Laster nie mit offenem Gesichte angreift, aber die es zu überrumpeln Mittel findet, indem es sich hinter irgend einem Sophisma und häufig auch unter irgend einer Tugend verbirgt!

Strafbar ohne Gewissensbisse, war ich es bald ohne Maß, und man wolle freundlichst bemerken, wie meine Leidenschaft dem Zuge meiner Natur folgte, um mich schließlich in den Abgrund hinabzuziehen. Anfangs nahm sie, um mir den Muth einzuflößen, eine demüthige Miene an, und trieb dann, um mich dreist zu machen, diese Demuth bis zum Mißtrauen. Ohne aufzuhören, mich an meine Pflicht zu erinnern und zur Vernunft zu mahnen, ohne je auch nur einen Augenblick meiner Thorheit zu schmeicheln, behandelte mich Frau von Houdetot im Uebrigen mit der größten Milde und nahm mir gegenüber den Ton der zärtlichsten Freundschaft an. Diese Freundschaft hätte mich, ich betheure es, befriedigt, wenn ich sie für aufrichtig gehalten hätte; allein da ich sie zu lebhaft fand, um wahr zu sein, so stieg der Wahn in mir auf, daß mich die Liebe, die sich für mein Alter und Aeußeres so wenig schickte, in Frau von Houdetots Augen erniedrigt hätte, daß sich die ausgelassene junge Frau nur über mich und meine greisenhaften Zärtlichkeiten lustig machen wollte, daß sie Saint-Lambert alles mitgetheilt und ihr Geliebter, über meine Treulosigkeit empört, auf ihre Pläne eingegangen wäre, so daß sie nun im gegenseitigen Einverständnisse mir den Kopf vollends zu verdrehen und mich zu verspotten suchten. Diese Dummheit, die mich im Alter von sechsundzwanzig Jahren bei Frau von Larnage, die ich nicht kannte, Albernheiten begehen ließ, würde mir mit fünfundvierzig Jahren bei Frau von Houdetot haben verziehen werden können, wenn ich nicht gewußt hätte, daß sie und ihr Geliebter beide zu ehrliche Leute waren, um sich ein so rohes Vergnügen zu machen.

Frau von Houdetot fuhr fort, mir Besuche abzustatten, die ich nicht zu erwidern zögerte. Sie ging eben so gern wie ich; wir machten in einer bezaubernden Gegend lange Spaziergänge. Zufrieden, zu lieben und es bekennen zu dürfen, hätte ich glücklich sein können, wenn meine Albernheit diesem angenehmen Verhältnisse nicht selbst allen Reiz genommen hätte. Anfangs begriff sie nichts von der thörichten Verstimmung, mit der ich ihre Aufmerksamkeiten aufnahm; aber mein Herz, unfähig, je eine der Empfindungen, die es bewegten, zu verhehlen, ließ sie nicht lange über meinen Argwohn in Unkenntnis. Sie wollte darüber lachen; dieses Mittel hatte keinen Erfolg, Wuthausbrüche wären die Folge gewesen. Sie änderte deshalb den Ton. Ihre mitleidige Sanftmuth war unüberwindlich; sie machte mir Vorwürfe, die mir zu Herzen gingen; sie zeigte mir über meine ungerechten Befürchtungen eine Unruhe, die ich mißbrauchte. Ich verlangte Beweise, daß sie sich nicht über mich lustig machte. Sie sah, daß es zu meiner Beruhigung kein anderes Mittel gab. Ich wurde dringend; der geforderte Beweis war zarter Natur. Es ist wunderbar, es ist vielleicht einzig dastehend, daß sich eine Frau, die schon bis zum Feilschen hat kommen können, so leichten Kaufs aus der Sache gezogen hat. Sie verweigerte mir nichts, was die zärtlichste Freundschaft gewähren konnte; sie gewährte mir nichts, was sie hätte untreu machen können, und ich hatte die Demüthigung zu sehen, daß der Brand, zu dem ihre leichten Gunstbezeigungen meine Sinnlichkeit entzündeten, nicht den geringsten Funken in der ihrigen anfachte.

Ich habe irgendwo gesagt, daß man der Sinnlichkeit nichts einräumen dürfe, wenn man ihr etwas zu verweigern beabsichtigt. Um zu zeigen, wie falsch dieser Grundsatz bei Frau von Houdetot war, und wie recht sie hatte, sich auf sich selbst zu verlassen, müßte ich in die Einzelheiten unsrer langen und häufigen Zusammenkünfte unter vier Augen eingehen und sie während der vier Monate, die wir zusammen zubrachten, in ihrer ganzen Lebhaftigkeit, in einer bei Freunden verschiedenen Geschlechtes, die die selbstgezogenen Grenzen wie wir nie überschritten, fast beispiellosen Innigkeit schildern. Ach, wenn ich so lange gesäumt hatte, die wahre Liebe zu fühlen, wie viel mußte dann mein Herz und meine Sinnlichkeit entbehrt haben! Und welche Wonne muß man dann bei einem geliebten Gegenstande, der uns wieder liebt, empfinden, wenn schon eine ungetheilte Liebe, so große zu bereiten vermag!

Aber ich habe Unrecht, von einer ungeteilten Liebe zu reden; die meinige wurde in gewisser Weise getheilt; sie war auf beiden Seiten gleich, wenn sie auch nicht gegenseitig war. Wir waren beide von Liebe trunken, sie für ihren Geliebten, ich für sie; unsere Seufzer, unsere Wonnethränen vermischten sich. Gegenseitig zärtliche Vertraute harmonirten unsere Gefühle so vielfach mit einander, daß sie sich nothwendig in etwas vermischen mußten, und mitten in dieser gefahrvollen Trunkenheit hat sie sich gleichwohl nie einen Augenblick vergessen; und ich betheure, ich beschwöre, daß ich sie in Wahrheit nie begehrt habe, wenn ich auch zuweilen, von meiner Sinnlichkeit verleitet, sie untreu zu machen versucht habe. Die Heftigkeit meiner Leidenschaft war sie selbst im Stande in Schranken zu halten. Die Pflicht der Enthaltsamkeit hatte meine Seele erhitzt. Der Glanz aller Tugenden zierte in meinen Augen den Abgott meines Herzens; die Beschmutzung des göttlichen Bildes wäre seine Vernichtung gewesen. Ich würde das Verbrechen haben begehen können, es ist in meinem Herzen hundertmal begangen worden; aber meine Sophie herabwürdigen! O, wäre das je möglich gewesen? Nein, nein, ich habe es ihr selbst hundertmal gesagt: wäre mir Gelegenheit zu meiner Befriedigung gegeben worden, hätte sie sich mir aus eigenem Willen ergeben, so würde ich mich, einige kurze Augenblicke des Wahnsinns abgerechnet, geweigert haben, um diesen Preis glücklich zu sein. Ich liebte sie zu sehr, um sie besitzen zu wollen.

Die Eremitage ist von Eaubonne fast eine Meile entfernt; auf meinen vielen Besuchsreisen trug es sich bisweilen zu, daß ich dort übernachten mußte. Als wir eines Abends allein mit einander zu Nacht gespeist hatten, gingen wir bei sehr schönem Mondscheine im Garten spazieren. Hinten im Garten war ein ziemlich großes Gehölz, welches wir durchschritten, um einen reizenden mit einer Cascade geschmückten Hain aufzusuchen. Zu letzterer hatte ich die Idee angegeben und auch den Bau geleitet. Ewige Erinnerung an Unschuld und Seligkeit! In diesem Hain war es, wo ich unter einer mit Blüten bedeckten Akazie neben ihr auf einer Rasenbank sitzend eine der Gefühle meines Herzens, die ich aussprechen wollte, wahrhaft würdige Sprache fand. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben; aber ich war erhaben, wenn man das, was die zärtlichste und inbrünstigste Liebe Liebenswürdiges und Verführerisches in ein Männerherz legen kann, so nennen darf. Was für berauschende Thränen vergoß ich auf ihre Kniee! Wie viele entlockte ich ihr wider Willen! Endlich rief sie in einem unwillkürlichen Ausbruche von Seligkeit aus: »Nein, nie war ein Mann so liebenswürdig, und nie liebte ein Liebhaber wie Sie! Aber Ihr Freund Saint-Lambert hört uns, und mein Herz vermag nicht zweimal zu lieben!« Ich schwieg seufzend: ich umarmte sie ... welch eine Umarmung! Aber das war alles. Seit sechs Monaten lebte sie bereits allein, das heißt fern von ihrem Geliebten und Gatten, seit drei Monaten sah ich sie fast täglich, und stets bildete die Liebe die dritte in unserem Bunde. Wir hatten allein zusammen zu Nacht gespeist, wir hatten allein in einem Haine im Mondenscheine bei einander geweilt, und nach zwei Stunden der lebhaftesten und zärtlichsten Unterhaltung ging sie mitten in der Nacht aus diesem Haine und aus den Armen ihres Freundes eben so unberührt, eben so rein an Leib und an Seele hervor, als sie hineingetreten war. Leser, erwäge alle die Umstände, ich will nichts weiter hinzufügen.

Und wähne man nur nicht, daß mich hier meine Sinne ruhig ließen wie bei Therese und Mama. Diesmal war es, wie ich schon gesagt habe, Liebe und zwar Liebe mit, ihrer ganzen Gewalt und in ihrer ganzen Wuth. Ich will weder die Aufregungen, noch die Schauder, noch das Herzklopfen, noch die krampfhaften Bewegungen, noch die Ohnmacht des Herzens schildern, die ich beständig empfand; nach der Wirkung, die ihr bloses Bild auf mich ausübte, kann man sich ein Urtheil darüber bilden. Wie gesagt, war der Weg von der Eremitage nach Eaubonne weit; er führte durch die mit Wein bebauten Hügel von Andilly, die reizend sind. Im Wandern träumte ich von der, welcher mein Besuch galt, von der liebevollen Aufnahme, die sie mir bereiten würde, von dem Kusse, der meiner bei der Ankunft wartete. Dieser Kuß allein, dieser verhängnisvolle Kuß entflammte mein Blut bis zu dem Grade, daß mir der Kopf schwindelte, es mir vor den Augen schwarz wurde und meine zitternden Kniee mir fast den Dienst versagten. Ich war gezwungen Halt zu machen und mich zu setzen. Mein ganzer Körper war in einem unbegreiflichen Aufruhr; es fehlte nicht viel, so wäre ich ohnmächtig geworden. Von der Gefahr, die ich dadurch lief, unterrichtet, suchte ich mich beim Weiterschreiten zu zerstreuen und an anderes zu denken. Doch schon nach zwanzig Schritten bestürmten mich von neuem die nämlichen Gedanken und alle aus ihnen hervorgehenden Zustände, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, mich von ihnen zu befreien, und wie ich es auch immer anstellen mochte, ich glaube nicht, daß ich, wenn ich allein war, je diesen Weg ungestraft habe machen können. Ich kam in Eaubonne an, schwach, erschöpft, abgemattet, mich kaum aufrecht erhaltend. Bei ihrem ersten Anblicke war alles wieder gut; an ihrer Seite fühlte ich nur die Belästigung einer unerschöpflichen und doch immer nutzlosen männlichen Kraft. Auf meinem Wege lag an einer Stelle, von der aus man Eaubonne schon erblickte, eine freundliche Terrasse der Berg Olymp genannt, an der wir bisweilen zusammentrafen. Ich langte zuerst an; ich war zum Warten wie geschaffen, und doch, wie schwer fiel mir dieses Warten! Um mich zu zerstreuen, versuchte ich mit Bleistift Billete zu schreiben, die ich am liebsten mit meinem Herzblute niedergeschrieben hätte. Ich habe nie ein lesbares zu Stande bringen können. Wenn sie eines derselben in dem dazu verabredeten Verstecke fand, konnte sie daraus nichts anderes als den wahrhaft beklagenswerthen Zustand ersehen, in dem ich mich beim Schreiben befand. Dieser Zustand und namentlich seine Dauer, da ich während dreier Monate in unausgesetzter Aufregung und Enthaltung lebte, versetzte mich in eine Erschöpfung, von der ich mich Jahre lang nicht erholen konnte, und die endlich eine Abnahme der Kräfte herbeiführte, die ich ins Grab oder die vielmehr mich ins Grab mitnehmen wird. Dieses ist der einzige Liebesgenuß des Mannes gewesen, der zwar das leicht entzündlichste aber zugleich auch das schüchternste Temperament hatte, das die Natur vielleicht je hervorgebracht hat. Das sind die letzten schönen Tage gewesen, die mir hienieden beschieden waren. Hier beginnt das lange Gewebe der Leiden meines Lebens, in dem man wenige Unterbrechungen wahrnehmen wird.

In dem ganzen Verlaufe meines Lebens hat man gesehen, daß mein Herz, durchsichtig wie Krystall, nie, auch nicht eine einzige Minute lang, ein etwas lebhafteres Gefühl, das sich in ihm regte, zu verhehlen verstanden hat. Sage man sich selbst, ob es mir möglich war, meine Liebe zu Frau von Houdetot lange zu verbergen. Unsere Vertraulichkeit fiel auf, wir suchten sie nicht zu verheimlichen. Bei ihrem Charakter hatte sie ein Geheimnis nicht nöthig, und da Frau von Houdetot die zärtlichste Freundschaft für mich hatte, die sie sich nicht zum Vorwurfe anrechnete, und da ich vor ihr eine wahre Hochachtung besaß, deren gerechten Grund niemand so gut als ich kannte, so gaben wir, sie offen, zerstreut, unbesonnen, ich aufrichtig, tölpelhaft, hochmüthig, ungeduldig, leidenschaftlich, uns in unserer trügerischen Sicherheit noch weit mehr Blößen, als wir, hätten wir uns schuldig gefühlt, gethan hätten. Wir gingen mit einander nach der Chevrette; wir trafen uns dort häufig und hatten daselbst mitunter sogar verabredete Zusammenkünfte. Wir führten dort unser gewohntes Leben, indem wir täglich allein mit einander spazieren gingen und dabei von der Liebe eines jeden von uns, von unseren Pflichten, von unserem Freunde und von unsern unschuldigen Plänen sprachen, und das thaten wir ganz offen im Park, nach dem die Fenster des Zimmers der Frau von Epinay hinausführten, aus denen sie nicht unterließ uns unaufhörlich zu beobachten; und in dem Wahne, daß wir es ihr nur zum Trotze thaten, erfüllte das, was ihre Augen erblickten, ihr Herz nur mit immer größerer Wuth und Entrüstung. [...]
Ich war von meiner Leidenschaft so in Anspruch genommen, daß ich nur Sophie sah, (dies war einer der Namen der Frau von Houdetot) und deshalb nicht einmal merkte, daß ich das Gespött des ganzen Hauses und seiner Besucher geworden war. Zur Zahl der letzteren gehörte der Baron von Holbach, der, so viel ich weiß, vorher nie nach der Chevrette gekommen war. Wäre ich damals so mißtrauisch gewesen, wie ich es später geworden bin, so würde der Verdacht in mir aufgestiegen sein, daß Frau von Epinay diese Reise veranstaltet hätte, um ihm das ergötzliche Schauspiel des verliebten Bürgers vorzuführen. Allein ich war damals so dumm, daß ich nicht einmal sah, was aller Welt offen vor Augen lag. Gleichwohl hielt mich alle meine Dummheit nicht von der Wahrnehmung zurück, daß des Barons Miene zufriedener und heiterer war als sonst. Statt mich nach seiner Gewohnheit düster anzublicken, überflutete er mich mit mir völlig unverständlichen spöttischen Redensarten. Ich riß die Augen weit auf, ohne etwas zu erwidern; Frau von Epinay hielt sich die Seiten vor Lachen; ich begriff nicht, was mit ihnen vorgegangen war. Da noch nichts die Grenzen des Scherzes überschritt, so hätte ich mich ruhig zur Zielscheibe hergeben sollen. Aber allerdings sah man durch die spöttische Heiterkeit des Barons eine boshafte Freude hindurchleuchten, die mich vielleicht beunruhigt haben würde, hätte ich sie schon damals eben so gut bemerkt, wie ich mich ihrer in der Folge erinnerte.
Als ich eines Tages Frau von Houdetot, die wieder einmal von Paris zurückgekehrt war, in Eaubonne besuchte, fand ich sie traurig und bemerkte, daß sie geweint hatte. Ich mußte mich beherrschen, weil Frau von Blainville, die Schwester ihres Gatten, zugegen war, sobald sich jedoch ein günstiger Augenblick darbot, sprach ich ihr meine Unruhe aus. »Ach,« sagte sie seufzend zu mir, »ich befürchte sehr, daß mich Ihre Thorheiten die Ruhe meines Lebens kosten. Saint-Lambert ist unterrichtet und übel berichtet. Er läßt mir Gerechtigkeit widerfahren, ist aber in höchst verdrießlicher Stimmung und sagt mir, was noch schlimmer ist, nicht alles was sie hervorgerufen hat. Zum Glück habe ich ihm von unserm Verhältnisse, das auf seinen eigenen Antrieb angeknüpft ist, nichts verschwiegen. Meine Briefe waren eben so voll von Ihnen wie mein Herz: nur Ihre unsinnige Liebe, von der ich Sie zu heilen hoffte und die er mir, ohne mit mir davon zu reden, dennoch, wie ich recht gut merke, als Verbrechen anrechnet, habe ich ihm verheimlicht. Man hat ihn gegen uns aufgehetzt, man hat mir Unrecht gethan, aber es hat nichts zu sagen. Lassen Sie uns entweder völlig mit einander brechen, oder benehmen Sie sich, wie man von Ihnen verlangen kann. Ich will meinem Geliebten nichts mehr zu verbergen haben.«
Dies war der erste Augenblick, wo mich die Scham überkam, mich durch das Bewußtsein meines Vergehens vor einer jungen Frau, deren Vorwürfe ich mit Recht verdiente und deren Mentor ich hätte sein sollen, gedemüthigt zu sehen. Der Unwille, den ich gegen mich selbst empfand, hätte vielleicht zur Ueberwindung meiner Schwäche genügt, wenn nicht wieder das zärtliche Mitleid, welches mir das Opfer derselben einflößte, mein Herz erweicht hätte. Ach, war das der Augenblick, es verhärten zu können, während es die Thränen von allen Seiten bis in seine Tiefe durchdrangen? Diese Rührung verwandelte sich bald in Zorn wider die feilen Angeber, die nur das Böse eines verbrecherischen, wenn auch unwillkürlichen, Gefühls bemerkt hatten, ohne sich auch nur die aufrichtige Ehrlichkeit des Herzens, die das Böse vernichtete, denken und vorstellen zu können. Wir blieben über die Hand, von welcher der Schlag ausging, nicht lange in Zweifel.
Wir wußten beide, daß Frau von Epinay mit Saint-Lambert in brieflichem Verkehre stand. Es war nicht der erste Sturm, den sie gegen Frau von Houdetot erregt hatte. Tausendmal hatte sie sich schon bemüht, ihn von ihr loszureißen, und die Erfolge einiger dieser Anstrengungen erfüllten Frau von Houdetot mit Furcht vor den weiteren. [...]
Mein Verdacht gegen Frau von Epinay ging in Gewißheit über, als ich erfuhr, was bei mir zu Hause vorgefallen war. Wenn ich auf der Chevrette war, kam Therese häufig dahin, sei es um mir meine Briefe zu bringen oder mir bei meiner schlechten Gesundheit die nöthige Pflege angedeihen zu lassen. Frau von Epinay hatte sie gefragt, ob wir uns nicht schrieben, Frau von Houdetot und ich. Auf ihr Eingeständnis drang Frau von Epinay in sie, ihr Frau von Houdetots Briefe zu übergeben, indem sie sie so gut wieder zu versiegeln versprach, daß es niemand gewahren könnte. Ohne zu zeigen, wie sehr dieses Ansinnen sie verletzte, und sogar ohne mir davon Mittheilung zu machen, begnügte sich Therese damit, die Briefe, welche sie mir brachte, noch sorgfältiger zu verbergen, eine sehr glückliche Vorsicht, denn Frau von Epinay ließ sie bei ihrer Ankunft überwachen, erwartete sie sogar persönlich einige Male am Wege und trieb die Kühnheit so weit, ihr Busentuch zu durchsuchen. Sie that noch mehr; als sie sich eines Tages mit Herrn von Margency zum Mittagessen auf die Eremitage eingeladen hatte, zum ersten Male, seitdem ich daselbst wohnte, benutzte sie die Zeit, in der ich mit Margency spazieren ging, um mit Mutter und Tochter in mein Arbeitszimmer zu gehen und sie zu bestürmen, ihr die Briefe der Frau von Houdetot zu zeigen. Hätte die Mutter gewußt, wo sie sich befanden, so wären die Briefe übergeben worden; aber zum Glück wußte es die Tochter allein und leugnete, daß ich einen derselben aufbewahrt hätte. Obgleich dies eine Lüge war, so war es doch fürwahr eine Lüge voller Ehrlichkeit, Treue und Edelmuth, während die Wahrheit nur Treulosigkeit gewesen wäre. Als Frau von Epinay einsah, daß sie sie nicht verführen konnte, suchte sie sie durch Eifersucht aufzureizen, indem sie ihr ihre Schwäche und Blindheit vorwarf. »Wie können Sie,« sagte sie zu ihr, »nicht sehen, daß sie ein verbrecherisches Verhältnis unter einander haben? Wenn Sie trotz allem, was Sie vor Augen haben, noch anderer Beweise bedürfen, so helfen Sie doch zu ihrer Erlangung mit. Sie sagen, er zerreiße die Briefe der Frau von Houdetot, sobald er sie gelesen habe. Nun wohl, sammeln Sie sorgfältig die Stücke und geben Sie sie mir; ich übernehme es, sie zusammenzusetzen.« Das waren die Rathschläge, die meine Freundin meiner Lebensgefährtin ertheilte.
Therese hatte die Rücksicht, mir alle diese Versuche lange zu verschweigen; als sie jedoch meine Rathlosigkeit gewahrte, hielt sie sich für verbunden, mir alles zu sagen, damit ich nach Erkennung der Sachlage meine Maßregeln ergreifen könnte, um mich vor den gegen mich geplanten Verräthereien zu schützen. Meine Entrüstung, meine Wuth läßt sich nicht beschreiben. Statt mich gegen Frau von Epinay nach ihrem eigenen Beispiele zu verstellen und List mit List zu bekämpfen, überließ ich mich ohne Maßen der Heftigkeit meiner Natur und rief mit meiner gewöhnlichen Unbesonnenheit einen offenen Ausbruch hervor. [...] Frau von Houdetot hatte mir nichts so sehr ans Herz gelegt als ruhig zu bleiben, ihr die Sorge zu überlassen, sich allein aus der Sache herauszuziehen und besonders für den Augenblick jeden Bruch und jedes Aufsehen zu vermeiden, und ich war auf dem besten Wege, das Herz einer Frau, die schon zum Jähzorn neigte, vollends mit Wuth zu erfüllen. [...] Ich mußte von der Rache einer unversöhnlichen und ränkevollen Frau alles für die befürchten, welche das Ziel derselben werden würde. Um diesem Unglücke vorzubeugen, hatte ich in meinen Briefen nur von einem Verdachte geredet, um der Angabe meiner Beweise überhoben zu sein. Allerdings machte dies meine Heftigkeit noch unverzeihlicher, da einfache Verdachtsgründe mir nicht das Recht verliehen, eine Frau und noch dazu eine Freundin so zu behandeln, wie ich Frau von Epinay behandelt hatte. Aber hier beginnt die große und edle Aufgabe, die ich würdig erfüllt habe, meine heimlichen Fehler und Schwachheiten zu sühnen, indem ich für schwerere Fehler, zu denen ich unfähig war und die ich nie beging, eintrat. [...]
Rousseau ging zu Frau Epinay:
Sie gab nicht die geringste Neugier zu erkennen, genau zu erfahren, was für einen Verdacht ich eigentlich hegte und wie er in mir entstanden wäre, und sowohl von ihrer wie von meiner Seite bestand unsere ganze Versöhnung in der Umarmung bei unserer ersten Begegnung. Da sie, wenigstens der Form nach, die allein Beleidigte war, so schien es mir, daß es nicht mir zukäme, eine Aufklärung herbeizuführen, nach der sie selber nicht trachtete, und ich ging von dannen, wie ich gekommen war. Da ich übrigens fortfuhr, mit ihr wie vorher zu leben, vergaß ich diesen Streit bald völlig und bildete mir thörichterweise ein, auch sie hätte ihn vergessen, weil sie sich seiner nicht mehr zu erinnern schien. [...]
Während ich in Paris war, langte Saint-Lambert, der Urlaub genommen hatte, daselbst an. Da ich nichts davon erfuhr, sah ich ihn erst nach meiner Rückkehr auf das Land, zuerst auf der Chevrette und dann auf der Eremitage, wohin er mit Frau von Houdetot kam, um mich zum Mittagsessen einzuladen. Man kann sich denken, mit wie großer Freude ich sie empfing; aber noch größere empfand ich darüber, ihr gutes Einverständnis zu sehen. Zufrieden, ihr Glück nicht gestört zu haben, war ich selbst glücklich darüber, und ich kann schwören, daß ich ihm Frau von Houdetot während meiner ganzen thörichten Leidenschaft und namentlich in diesem Augenblicke, selbst wenn es in meiner Macht gestanden, nicht hätte nehmen mögen, ja nicht einmal die Versuchung dazu gefühlt hätte. Ich fand sie in ihrer Liebe zu Saint-Lambert so liebenswürdig, wie ich sie mir in ihrer Liebe zu mir selbst kaum hätte vorstellen können, und ohne ihre Verbindung stören zu wollen, war alles, was ich in meiner Schwärmerei in Wahrheit von ihr begehrt habe, daß sie sich lieben ließe. Kurz, von einer wie heftigen Leidenschaft ich auch für sie entbrannt gewesen, war es mir doch ein eben so großer Genuß, der Vertraute ihrer Liebe wie der Gegenstand derselben zu sein, und ich habe nie einen Augenblick ihren Geliebten als meinen Nebenbuhler, sondern stets als meinen Freund betrachtet. Man wird sagen, dies wäre noch nicht Liebe gewesen; mag es sein, aber dann war es noch mehr.
Saint-Lambert selbst betrug sich wie ein ehrlicher und verständiger Mann; da ich der einzige Strafbare war, wurde ich auch allein bestraft und noch dazu mit Milde. Er behandelte mich nicht sehr rücksichtsvoll, aber doch freundschaftlich; ich merkte, daß ich bei ihm etwas an Achtung, aber nichts an Freundschaft verloren hatte. Ich tröstete mich darüber, da ich wußte, daß es mir weit leichter sein würde, die erstere wiederzugewinnen als die letztere, und daß er zu verständig wäre, um eine unwillkürliche und flüchtige Schwäche mit einem Charakterfehler zu verwechseln. Lag in dem Vorgefallenen ein Fehler meinerseits, so war er doch sehr gering. Hatte ich etwa seine Geliebte aufgesucht? Hatte er sie mir nicht selbst zugesandt? Hatte sie mich nicht aufgesucht? War ich im Stande, ihren Besuch abzulehnen? Was konnte ich thun? Sie allein hatten das Unheil angerichtet, und ich hatte darunter gelitten. An meiner Stelle würde er wie ich, und vielleicht noch schlimmer gehandelt haben, denn wie treu, wie achtungswerth Frau von Houdetot auch war, so war sie doch schließlich immer ein Weib. Er war abwesend, an Gelegenheit fehlte es nicht, die Versuchung war stark, und es würde ihr sehr schwer gewesen sein, sich gegen einen unternehmenderen Mann stets mit demselben Erfolge zu vertheidigen. Es war sicherlich für sie wie für mich viel, daß wir uns in einer solchen Lage Schranken zu setzen vermochten, die wir uns nie zu überschreiten gestatteten.
Obgleich ich mir in der Tiefe meines Herzens ein ziemlich ehrenvolles Zeugnis ausstellte, so war doch der Schein so sehr wider mich, daß mir die unüberwindliche Scham, die mich stets beherrschte, in seiner Gegenwart vollkommen die Miene eines Schuldigen gab, was er häufig mißbrauchte, um mich zu demüthigen. Ein einziger Zug wird auf unsere gegenseitige Stellung hinreichendes Licht werfen. Nach der Mahlzeit las ich ihm den Brief vor, den ich im vergangenen Jahre an Voltaire geschrieben und von dem er, Saint-Lambert, gehört hatte. Während des Vorlesens schlief er ein, und ich, einst so hochmüthig, jetzt so eingeschüchtert, wagte nicht einmal, die Lectüre zu unterbrechen und las immer weiter, während er immer weiter schnarchte. So begegnete er mir, so rächte er sich an mir, aber in seinem Edelmuthe übte er seine Rache nur, wenn wir drei allein waren, an mir aus.
Nach seiner Abreise fand ich Frau von Houdetot sehr verändert gegen mich. Ich war darüber erstaunt, als ob ich es nicht hätte erwarten müssen. Ich war davon mehr ergriffen, als ich hätte sein sollen, und dies bereitete mir großes Leid. Mir schien alles, wovon ich Heilung erwartete, den Pfeil nur noch tiefer in mein Herz zu drücken. Ich habe ihn endlich mehr zerbrochen als herausgerissen.
Ich war entschlossen, mich vollkommen zu beherrschen und nichts zu unterlassen, um meine thörichte Leidenschaft in eine reine und dauernde Freundschaft zu verwandeln. Ich hatte zu dem Zwecke die schönsten Vorsätze von der Welt gefaßt, zu deren Verwirklichung ich der Beihilfe der Frau von Houdetot bedurfte. Als ich mit ihr darüber reden wollte, fand ich sie zerstreut, verlegen; ich merkte, daß sie an meinem Umgange nicht mehr Gefallen fand, und erkannte deutlich, daß etwas vorgefallen war, was sie mir nicht sagen wollte und was ich nie erfahren habe. Diese Aenderung, über die es mir unmöglich war Aufklärung zu erhalten, kränkte mich. Sie verlangte ihre Briefe von mir zurück; ich gab sie ihr alle mit einer Treue, die sie beleidigenderweise einen Augenblick in Zweifel zog. Dieser unerwartete Zweifel war mir ein neuer Stich in das Herz, das sie so gut kennen mußte. Sie ließ mir Gerechtigkeit widerfahren, aber nicht auf der Stelle; ich begriff, daß ihr die Durchsicht des Packetes, welches ich ihr zurückgegeben, ihr Unrecht fühlbar gemacht hatte; ich sah sogar, daß sie es sich vorwarf, was mir wieder zum Vortheil gereichte. Sie konnte ihre Briefe nicht zurücknehmen, ohne mir die meinigen zurückzugeben. Sie behauptete gegen mich, daß sie sie verbrannt hätte; ich wagte es meinerseits zu bezweifeln und gestehe, daß ich es auch jetzt noch bezweifle. Nein, man wirft solche Briefe nicht ins Feuer. Man hat denen in der »Julie« nachgesagt, daß sie glühend wären; beim Himmel, wie würde man dann diese erst genannt haben! Nein, nein, nie wird die, welche eine solche Leidenschaft einzuflößen vermag, den Muth haben, die Beweise derselben zu verbrennen. Allein ich befürchte auch nicht, daß sie Mißbrauch mit ihnen getrieben hat; dessen halte ich sie für unfähig, und zum Ueberfluß hatte ich dagegen Vorkehrungen getroffen. Die dumme, aber lebhafte Besorgnis mich dem Spotte ausgesetzt zu sehen, hatte mich diesen Briefwechsel in einem Tone beginnen lassen, der meine Briefe dagegen schützte, anderen mitgetheilt zu werden. Ich trieb die Vertraulichkeit, in die ich in meinem Liebesrausche verfiel, bis zum Dutzen; aber welch ein Dutzen! Sie konnte sich dadurch gewiß nicht gekränkt fühlen. Sie beklagte sich allerdings wiederholentlich darüber, aber ohne Erfolg: ihre Klagen fachten meine Besorgnis nur von neuem an, und ich konnte mich überdies nicht zum Zurückweichen entschließen. Sind diese Briefe noch vorhanden und kommen sie eines Tages zum Vorschein, so wird man erkennen, wie ich geliebt habe.
Der Schmerz, den mir die Erkaltung der Frau von Houdetot und das Bewußtsein, sie nicht verdient zu haben, bereitete, gab mir den sonderbaren Entschluß ein, mich bei Saint-Lambert selbst zu beklagen. Während ich den Erfolg des Briefes, den ich ihm darüber schrieb, abwartete, stürzte ich mich in Zerstreuungen aller Art, die ich eher hätte aufsuchen sollen. Festlichkeiten, für welche ich die Musik componirte, fanden auf der Chevrette statt. Die Freude, bei Frau von Houdetot mit einem Talente, welches sie liebte, Ehre einzulegen, erhöhte meinen Eifer, und noch etwas gab ihm neuen Anreiz, nämlich das Verlangen, den Beweis zu liefern, daß der Dichter und Componist des Dorfwahrsagers Musik verstände, denn schon seit langer Zeit bemerkte ich, daß sich jemand im Geheimen Mühe gab, dies, wenigstens hinsichtlich der Composition, zweifelhaft zu machen. [...]
(9.Buch)

Sait-Lamberts fehlende Reaktion erklärt sich daraus, dass er erkrankt ist. Sein Verhalten gegenüber Rousseau bleibt so achtungsvoll, dass dieser ihn in seinen Bekenntnissen als einen der zwei letzten ihm damals verbliebenen Freunde nennt.

Ich erkannte dabei nicht allein, daß mir Grimms und der Holbachianer Ränke meine alten Bekannten [Anmerkung Rousseaus: In der Einfalt meines Herzens glaubte ich es damals noch, als ich meine Bekenntnisse schrieb.] keineswegs abwendig gemacht hatten, sondern auch, was mir noch schmeichelhafter war, daß die Gefühle der Frau von Houdetot und Saint-Lamberts weniger verändert waren, als ich geglaubt hatte; und ich begriff endlich, daß die Entfernung, in der er sie von mir hielt, mehr die Folge von Eifersucht als von Geringschätzung war. Dies tröstete und beruhigte mich. Ueberzeugt, denen, die ich achtete, kein Gegenstand der Verachtung zu sein, arbeitete ich an meinem Herzen mit größerem Muth und Erfolg. Wenn ich auch nicht dahin gelangte, eine strafbare und unglückliche Leidenschaft ganz zu besiegen, so hielt ich wenigstens ihre letzten Spuren so gut in Ordnung, daß sie mich keinen einzigen Fehler seit jener Zeit begehen ließen. Die Abschriften für Frau von Houdetot, um deren Wiederaufnahme sie mich ersuchte, meine Werke, die ich ihr nach ihrem Erscheinen nach wie vor zusandte, hatten zur Folge, daß ich von ihr noch von Zeit zu Zeit einige zwar gleichgültige, aber höfliche Botschaften und Billets erhielt. Wie man in der Folge sehen wird, that sie sogar mehr, und unser gegenseitiges Benehmen nach Aufhören eines näheren Umganges kann als Muster der Art dienen, in der sich redliche Leute trennen, wenn sie es nicht mehr für passend halten, sich zu sehen. 10. Buch


Fußnoten in der Ausgabe von Gutenberg.de:
1. zu: diesmal erglühte ich in Liebe. Da es die erste und einzige in meinem ganzen Leben war ...
Eine so bestimmte Versicherung, welche auch die von ihm ausgesprochenen Klagen bestätigen, auch nicht ein einziges Mal für einen bestimmten Gegenstand in Liebe erglüht zu sein, vereinigt sich nicht mit dem, was er uns im 7. Buche von der Liebe erzählt, in der er in Lyon für Fräulein Serre entbrannt war und die ihm jenen leidenschaftlichen Brief eingab, den man in seinem Briefwechsel aus dem Jahre 1741 finden wird. Es ergiebt sich daraus, daß in der Zeit, in der Rousseau dies schrieb, diese bald überwundene Liebe in seinem Herzen wie in seiner Erinnerung keine Spur zurückgelassen hatte.
2. zu ihrem Aussehen:
»Sie war nicht nur kurzsichtig und hatte etwas hervortretende Augen,« wie Rousseau sagt, »sondern sie schielte im höchsten Grade. Sie hatte eine sehr niedrige Stirn und dicke Nase. In Folge der Blattern waren ihre Grübchen gelblich geworden, während ihre Poren bräunlich gezeichnet waren. Dies ließ ihren Teint unrein erscheinen. Wie Rousseau gesagt hat, gab sich in allen ihren Bewegungen eine gewisse Unbeholfenheit und auch Anmuth zu erkennen. Ihr Busen war schön, ihre Hände und Arme hübsch, ihre Füßchen niedlich.« So lautet das Zeugnis einer Person, die mit Frau von Houdetot in inniger Freundschaft gelebt hat. Daraus erhellt, daß Rousseau auch ihr Aeußeres unter dem Eindrucke seiner Einbildungskraft betrachtet hatte. Diese Person ist die Vicomtesse von Alard. Man vergleiche les Anecdotes pour servir de suite aux Mémoires de madame d'Epinay, Paris 1818, 8°,
3. zu dem Anlass der Erkaltung von Frau Houdetot
Es ist ein anonymer Brief an Saint-Lambert, dessen Eifersucht man gegen Frau von Houdetot erregte, die man ihm als geneigt darstellte, Jean-Jacques ihre Gunst zu schenken. Diesen Brief hatte Grimm geschrieben und in ihm alle Gefälligkeiten angeführt, die sie Rousseau ohne zu große Unwahrscheinlichkeit erwiesen haben konnte.
4. Zum Verbleib von Rousseaus Briefen
»Da Frau Broutain, die in der Nachbarschaft von Gaubonne wohnte, sich Gewißheit über das Schicksal dieser Briefe verschaffen wollte, erkundigte sie sich darüber eines Tages bei Frau von Houdetot selbst, welche ihr antwortete, daß sie dieselben wirklich verbrannt hätte, mit Ausnahme eines einzigen, den sie nicht den Muth gehabt, zu vernichten, weil er ein Meisterwerk der Beredsamkeit und Leidenschaft gewesen wäre, und den sie Saint-Lambert zugesandt hätte. Frau Broutain ergriff die erste Gelegenheit, um den Dichter nach dem Schicksale dieses Briefes zu befragen. Seine Antwort lautete, er wäre bei einem Umzuge verloren gegangen; er wüßte nicht, was aus ihm geworden wäre.« Das ist alles, was uns nach dem Zeugnisse der Frau Vicomtesse von Allard, die mit Frau von Houdetot dreizehn Jahre lang in vertrauter Freundschaft gelebt hat, Herr von Musset darüber in seiner Broschüre mittheilt, die unter dem Titel Anecdotes pour faire suite aux Mémoires de madame d'Épinay 1818 in Paris in Octav erschien.

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