Zwei Arten von Liebe
Ich kenne zwei Arten von sehr verschiedener und doch sehr wahrhafter Liebe, die fast nichts gemein haben, obgleich die eine wie die andere sehr heiß ist, und alle beide sich von der zärtlichen Freundschaft unterscheiden. Mein ganzes Leben lang bin ich zwischen diesen beiden so verschiedenartigen Liebesarten getheilt und sogar von beiden gleichzeitig erfüllt gewesen; denn zum Beispiel in der Zeit, von welcher ich rede, hatte ich, während ich Fräulein von Vulson so öffentlich und so tyrannisch in Beschlag nahm, daß ich die Annäherung keines Mannes an sie duldete, zwar ziemlich kurze, aber ziemlich vertrauliche Zusammenkünfte mit einem kleinen Fräulein Goton, bei welchen sie die Gewogenheit hatte, die Schulmeisterin zu spielen, und dies war alles. [...]Jeder dieser beiden Personen gehörte ich gleichsam ganz und so vollkommen an, daß ich bei der einen nie an die andere dachte. Uebrigens hatten die Gefühle, mit denen sie mich erfüllten, keine Aehnlichkeit mit einander. Ich würde mein ganzes Leben an Fräulein von Vulsons Seite zugebracht haben, ohne je an eine Trennung von ihr zu denken; aber wenn ich zu ihr kam, war meine Freude ruhig und blieb stets von aller Erregung frei. Ich liebte sie besonders in großer Gesellschaft; die Scherze, die Neckereien, die Eifersüchteleien sogar hatten etwas Anziehendes, etwas Fesselndes für mich. Stolzer Triumph beseelte mich, wenn sie mich vor erwachsenen Nebenbuhlern, die sie zu quälen schien, bevorzugte. Ich empfand wohl Qualen, aber sie waren mir lieb. Die Beifallserweisungen, die Ermuthigungen, das Gelächter entflammten mich und feuerten mich an. Ich wurde erregt, ich wurde witzig; in einer Gesellschaft kannte meine Liebe keine Schranken; mit ihr allein würde ich gezwungen, kalt, vielleicht gelangweilt gewesen sein. Gleichwohl hatte ich eine zärtliche Zuneigung zu ihr, ich litt, wenn sie krank war, ich würde meine Gesundheit dahingegeben haben, um die ihrige wiederherzustellen, und das will viel sagen, wenn man bedenkt, daß ich aus Erfahrung sehr wohl wußte, was Krankheit, und was Gesundheit zu bedeuten hat. Fern von ihr, dachte ich an sie, sie fehlte mir; war ich bei ihr, thaten ihre Liebkosungen meinem Herzen wohl, erregten aber nicht meine Sinnlichkeit. Ich war ohne Nachtheil vertraulich mit ihr. Meine Einbildungskraft ging über das, was sie mir gewährte, nicht hinaus; allein ich hätte nicht ertragen können, sie anderen eben so viel erweisen zu sehen. Ich liebte sie wie ein Bruder, war aber eifersüchtig auf sie wie ein Liebhaber.
Auf Fräulein Goton würde ich es ebenfalls gewesen sein und zwar wie ein Türke, wie ein Rasender, wie ein Tiger, wenn ich mir nur hätte vorstellen können, sie wäre im Stande einem Andern die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen, die sie mir gewährte; denn selbst dies war eine Gnade, die man auf den Knien erbitten mußte. Dem Fräulein von Vulson näherte ich mich mit aufrichtiger Freude, aber ohne Verlegenheit, während ich, sobald ich Fräulein Goton nur erblickte, nichts mehr sah; alle meine Sinne waren verwirrt. Zu der ersten war ich zutraulich ohne Vertraulichkeit; der anderen gegenüber war ich dagegen selbst inmitten der größten Freiheiten eben so schüchtern wie aufgeregt. Ich glaube, bei einem allzu langen Zusammensein mit ihr wäre ich gestorben; mein Herzklopfen würde mich erstickt haben. Ich fürchtete in gleicher Weise ihnen zu mißfallen, aber gegen die eine war ich zuvorkommender und gegen die andern folgsamer. Um nichts in der Welt hätte ich Fräulein von Vulson wehe thun mögen; aber hätte Fräulein Goton mir befohlen, mich in die Flammen zu stürzen, so bin ich überzeugt, daß ich ihr augenblicklich gehorcht hätte. [...] (1. Buch)
Rousseaus Frauengeschmack
Ueberdies hatten Nähterinnen, Kammermädchen, Krämerinnen nichts Verführerisches für mich, nach hochgestellten jungen Damen stand mein Sinn. Jeder hat sein Gefallen, und das genannte ist stets das meinige gewesen; ich theile den Geschmack des Horaz in diesem Punkte nicht. Was mich anzieht, ist jedoch keineswegs der nichtige Stand und Rang, sondern die besser gepflegte Gesichtsfarbe, die schöneren Hände, der geschmackvollere Putz, die über die ganze Person ausgebreitete Zierlichkeit und Sauberkeit, die anmuthigere Weise sich zu kleiden und auszudrücken; das feinere und besser sitzende Kleid, die niedlichere Fußbekleidung, die Bänder, die Spitzen, die besser geordneten Haare. Ich würde der weniger Hübschen, die von dem allen etwas mehr hätte, stets den Vorzug geben. Ich finde diese Vorliebe selbst höchst lächerlich, aber ich fühle mich einmal wider meinen Willen dazu getrieben. (4. Buch)
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