Außerdem dachte ich seit einiger Zeit über ein Erziehungssystem nach, mit dem Frau von Chenonceaux, der das von ihrem Manne gegen ihren Sohn angewandte Entsetzen einflößte, mich gebeten hatte, mich zu beschäftigen. Die Macht der Freundschaft hatte zur Folge, daß mir dieser Gegenstand, obgleich er mir an sich weniger angenehm war, doch mehr am Herzen lag als alle andere. Auch ist dieses das einzige von allen so eben erwähnten Themata, das ich wirklich ausgeführt habe. Der Zweck, den ich mir bei Bearbeitung dieses Stoffes vorgenommen, hätte dem Verfasser, wie nur scheint, ein anderes Loos zu bereiten verdient. Greifen wir jedoch diesem traurigen Gegenstande nicht vor. Ich werde im Verlaufe dieser Schrift nur allzu sehr gezwungen sein, davon zu reden. [...] (9. Buch)
Nachdem ich von dem Emil, seitdem ich ihn der Frau von Luxembourg übergeben, lange nichts vernommen hatte, hörte ich endlich, daß der Kaufvertrag darüber zu Paris mit dem Buchhändler Duchesne und durch ihn mit dem Amsterdamer Buchhändler Réaulme abgeschlossen war. Frau von Luxembourg sandte mir die beiden Abschriften meines Vertrages mit Duchesne zur Unterzeichnung. Ich erkannte, daß die Schrift von derselben Hand herrührte, von der diejenigen Briefe des Herrn von Malesherbes waren, die er nicht eigenhändig schrieb. Diese Gewißheit, daß mein Vertrag mit der Zustimmung und unter den Augen der Behörde zu Stande gekommen war, ließ mich ihn mit Vertrauen unterzeichnen. [...]
Der »Contrat social« wurde ziemlich rasch gedruckt. Mit Emil, auf dessen Erscheinen ich wartete, um mich meinem Plane gemäß zurückzuziehen, war es nicht der Fall. Duchesne schickte mir von Zeit zu Zeit Druckproben zur Auswahl; hatte ich sie getroffen, so begann er doch nicht, sondern schickte mir noch wieder andere. Als wir endlich über Format und Buchstaben einig waren, und er schon einige Bogen gedruckt hatte, begann er in Folge einer unbedeutenden Veränderung, die ich bei der Correctur vorgenommen hatte, alles von neuem, und nach sechs Monaten waren wir noch nicht so weit gelangt wie am ersten Tage. Während dieses versuchsweisen Vorgehens bemerkte ich deutlich, daß das Werk in Frankreich wie in Holland gedruckt wurde, und man gleichzeitig zwei Ausgaben veranstaltete. Was konnte ich thun? Ich war nicht mehr Herr meines Manuscripts. An der Ausgabe in Frankreich hatte ich nicht nur keinen Antheil gehabt, sondern mich ihr auch stets widersetzt; aber da sie wohl oder übel nun doch einmal gemacht wurde und der andern als Vorbild diente, so durfte ich sie auch nicht aus den Augen lassen und mußte die Correcturbogen durchsehen, um mein Buch nicht verstümmeln und entstellen zu lassen. Uebrigens geschah der Druck des Werkes so vollkommen mit der Genehmigung des Censors, daß er die Unternehmung gewissermaßen leitete, sehr häufig an mich schrieb und mich sogar in Bezug darauf besuchte, bei einer Gelegenheit, von der ich gleich reden werde.
Während Duchesne mit Schildkrötenschritten vorwärts ging, machte Néaulme, den er zurückhielt, noch langsamere Fortschritte. Man schickte ihm die Bogen nicht so regelmäßig zu, wie sie gedruckt wurden. Er glaubte in der Handlungsweise Duchesnes, das heißt Guys, der die Geschäftsführung besorgte, Unredlichkeit zu bemerken, und sobald er sich überzeugte, daß man den Vertrag nicht inne hielt, schrieb er mir Briefe über Briefe voller Klagen und Beschwerden, für die ich noch weniger Abhilfe herbeiführen konnte als für meine eigenen. Sein Freund Guérin, der mich damals sehr oft besuchte, redete mit mir unaufhörlich von diesem Buche, aber stets mit größter Zurückhaltung. [...] Damals war meine Sicherheit so vollständig, daß ich über den bedächtigen und geheimnisvollen Ton, den er bei dieser Angelegenheit anschlug, wie über eine bei Ministern und Beamten, in deren Amtsstuben er häufig zu finden war, vorkommende lächerliche Angewöhnung lachte. Sicher, hinsichtlich dieses Werkes in Ordnung zu sein, vollkommen überzeugt, daß es nicht nur die Billigung und den Schutz des Censors besäße, sondern auch verdiente und sogar von dem Ministerium mit günstigen Augen betrachtet würde, beglückwünschte ich mich wegen meines Muthes, recht zu handeln, und lachte meine kleinmüthigen Freunde aus, die sich um meinetwillen zu beunruhigen schienen. Duclos war einer von ihnen, und ich gestehe, daß mir mein Vertrauen zu seiner Geradheit und Einsicht gleiche Besorgnis wie ihm hätte einflößen müssen, wenn ich ein geringeres auf die Brauchbarkeit des Werkes und auf die Redlichkeit seiner Beschützer gesetzt hätte. Während der »Emil« unter der Presse war, kam er von Herrn Baille zu mir, und redete mit mir von dem Buche. Ich las ihm das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars vor; er hörte es in tiefster Ruhe und, wie es mir schien, mit großem Vergnügen an. Als ich geendet hatte, sagte er zu mir: »Wie, Bürger, das ist ein Abschnitt aus einem Buche, das man in Paris druckt?« – »Ja,« erwiderte ich, »und man sollte es im Louvre auf Befehl des Königs drucken.« – »Ich gebe es zu,« versetzte er, »thun Sie mir indessen den Gefallen, niemandem zu erzählen, daß Sie mir diesen Abschnitt vorgelesen haben.« Diese auffallende Art, sich auszudrücken, überraschte mich, ohne mich zu erschrecken. Ich wußte, daß Duclos oft Herrn von Malesherbes sah.
Es war mir schwer begreiflich, wie er über denselben Gegenstand so abweichender Meinung sein konnte. [...] Seit einiger Zeit quälten mich unbestimmte und düstere Ahnungen, ohne daß ich wußte worüber. Ich erhielt ziemlich sonderbare anonyme Briefe und sogar unterschriebene Briefe, die es kaum weniger waren. [...] Diese Voraussicht machte mich sogar selbst mehrmals schwankend, ob nicht auch ich ein Asyl außerhalb des Landes suchen sollte, ehe die dem Anscheine nach es bedrohenden Unruhen hereinbrachen. Allein im Hinblick auf meine Unbedeutendheit und mein friedfertiges Wesen beruhigt, glaubte ich, daß in der Einsamkeit, in der ich zu leben gedachte, kein Sturm bis zu mir dringen könnte. Nur das betrübte mich, daß sich Herr von Luxembourg bei diesem Stande der Dinge zu Diensten hergab, die ihn in seiner Statthalterschaft von manchem Guten zurückhalten mußten. Ich hätte gewünscht, daß er sich dort für jeden Fall eine Zuflucht sicherte, wenn die große Maschine wirklich zusammenbrach, wie es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge zu befürchten stand, und noch jetzt scheint es mir zweifellos, daß, wären nicht endlich alle Zügel der Regierung in eine einzige Hand gefallen, die französische Regierung jetzt in den letzten Zügen läge.
Während sich mein Zustand verschlimmerte, wurde der Druck des »Emil« immer langsamer und endlich ganz unterbrochen, ohne daß ich den Grund erfahren konnte, ohne daß mich Guy einer Anzeige oder einer Antwort gewürdigt, ohne daß mich jemand benachrichtigt oder darüber aufgeklärt hätte, was eigentlich vorginge, da sich Herr von Malesherbes gerade auf dem Lande aufhielt. Nie wird mich ein Unglück, welches es auch sein möge, verwirren oder niederschlagen, falls ich weiß, worin es besteht; aber ich habe eine natürliche Angst vor dem Dunkeln; das Schaudrige in demselben fürchte und hasse ich. Das Geheimnisvolle beunruhigt mich stets, es steht in zu grellem Gegensatze zu meiner bis zur Unbesonnenheit offenen Natur. Der Anblick des gräßlichsten Ungeheuers würde mir, wie ich glaube, wenig Angst einjagen; aber würde ich nachts undeutlich eine Gestalt in einem weißen Laken erblicken, so würde mich Furcht befallen. So malte mir denn meine durch das lange Schweigen erhitzte Einbildungskraft lauter Schreckbilder vor. [...] Unglücklicher Weise vernahm ich um dieselbe Zeit, daß der Pater Griffet, ein Jesuit, vom »Emil« geredet und daraus sogar Stellen angeführt hatte. Augenblicklich fährt es mir wie ein Blitzstrahl durch den Kopf, und das ganze Geheimnis der Nichtswürdigkeit steht enthüllt vor mir da: ich sah ihr allmähliches Fortschreiten so klar, so unwiderleglich, als wäre es mir offenbart worden. Ich bildete mir ein, die Jesuiten hätten sich, wüthend über den verächtlichen Ton, in dem ich über ihre Schulen gesprochen, meines Werkes bemächtigt; sie wären es, die die Herausgabe hinderten; sie wollten, von ihrem Freunde Guérin über meinen gegenwärtigen Zustand unterrichtet und meinen nahen Tod, an dem ich nicht zweifelte, voraussehend, den Druck bis dahin verzögern in der Absicht, mein Werk zu verstümmeln und abzuändern und mir, um ihre Zwecke zu erreichen, fremde Ansichten unterzuschieben. [...] Ueberall sah ich nur Jesuiten, ohne zu bedenken, daß sie am Vorabende ihrer Vernichtung und von ihrer eigenen Verteidigung vollständig in Anspruch genommen, anderes zu thun hatten, als sich wegen des Druckes eines Buches, in dem es sich gar nicht um sie handelte, etwas zu schaffen zu machen. Ich habe Unrecht zu sagen, ohne daran zu denken, denn ich dachte sehr wohl daran, und Herr von Malesherbes hat sich sogar, als er von meinem Wahne hörte, die Mühe gegeben, mir den Einwurf zu machen; aber in Folge eines andren Unverstandes bei einem Manne, der aus der Tiefe seiner Zurückgezogenheit über in Geheimnis gehüllte wichtige Staatsangelegenheiten, von denen er nichts versteht, urtheilen will, war es mir unmöglich zu glauben, daß die Jesuiten wirklich in Gefahr waren, und ich betrachtete das Gerücht, das sich darüber verbreitete, als eine von ihrer Seite angewandte List, um ihre Widersacher einzuschläfern. [...]
Ich fühlte mich todtkrank; es ist mir schwer faßlich, wie diese Thorheit mir nicht vollends den Rest gab, so furchtbar war mir der Gedanke, daß nach meinem Tode mein Andenken gerade durch mein würdigstes und bestes Buch entehrt werden sollte. Nie habe ich mich so sehr zu sterben gefürchtet, und ich glaube, wäre ich unter diesen Verhältnissen gestorben, hätte ich in Verzweiflung meine Augen zugedrückt. Selbst heute, wo ich die schwärzeste, schändlichste Verschwörung, die je gegen das Gedächtnis eines Mannes angezettelt worden ist, widerstandslos auf ihr Ziel losgehen sehe, werde ich viel ruhiger sterben, sicher, in meinen Schriften ein Zeugnis über mich zu hinterlassen, welches früher oder später über die Verschwörungen der Menschen triumphiren wird.(11. Buch)
Endlich erschien der »Emil«, ohne daß ich von Auswechselblättern oder einer andern Schwierigkeit noch reden gehört hätte. [...]
Die Veröffentlichung dieses Buches erregte nicht den Beifallssturm, mit dem alle meine übrigen Schriften begrüßt waren. Nie erhielt ein Werk so großes Lob von Einzelnen und einen so geringen öffentlichen Beifall. Was mir die urtheilsfähigsten Leute darüber sagten und schrieben, bestätigte mir, daß es nicht nur die beste, sondern auch die bedeutendste meiner Schriften wäre. Dies alles wurde aber mit der seltsamsten Vorsicht gesagt, als ob das Gute, welches man darüber dachte, die Bewahrung des größten Geheimnisses erforderte. Frau von Boufflers, die versicherte, der Verfasser dieses Werkes verdiente Bildsäulen und die Huldigungen aller Sterblichen, bat mich am Ende ihres Billets ohne Umstände, es ihr zurückzuschicken. D'Alembert, der mir schrieb, dieses Werk entschiede meine Ueberlegenheit und müßte mich an die Spitze aller Gelehrten stellen, unterzeichnete seinen Brief nicht, obgleich er doch alle, die er bisher an mich gerichtet, unterschrieben hatte. Duclos, ein zuverlässiger Freund, ein wahrer, aber vorsichtiger Mann, der diesem Buche einen hohen Werth beilegte, vermied, mir seine Ansicht darüber schriftlich mitzutheilen; La Condamine wies auf das »Glaubensbekenntnis« hin und machte allerlei Umschweife; Clairaut beschränkte sich in seinem Briefe auf den nämlichen Abschnitt, scheute sich aber nicht, die tiefe Bewegung zu schildern, in die er bei der Lectüre versetzt worden wäre; er gestand, um seine eigenen Worte zu wiederholen, diese Lectüre hätte seine alte Seele wieder erwärmt. Von allen, denen ich mein Buch geschickt hatte, war er der Einzige, der alles Gute, was er davon dachte, jedermann laut und offen sagte. [...] Herr von Blaire besaß in Saint-Gratien ein Landhaus, und Mathas, sein alter Bekannter, besuchte ihn dort bisweilen, wenn er gehen konnte. Er ließ ihn den »Emil« vor seinem Erscheinen lesen. Als ihm Herr von Blaire denselben zurückgab, sagte er zu ihm folgende Worte, die mir noch an demselben Tage mitgetheilt wurden: »Herr Mathas, dies ist ein sehr schönes Buch, von dem aber binnen kurzem mehr geredet werden wird, als es dem Verfasser zu wünschen ist.« Als er mir diese Aeußerung anvertraute, lachte ich nur darüber und erblickte darin nichts Anderes als die Wichtigthuerei eines richterlichen Beamten, der bei allem etwas Geheimes wittert. [...]
Ich blieb ruhig. Das Gerücht nahm zu und änderte bald den Ton. Das Publikum und namentlich das Parlament schienen durch meine Ruhe gereizt zu werden. Nach Verlauf einiger Tage wurde die Aufregung furchtbar; die Drohungen wechselten jetzt den Gegenstand und richteten sich unmittelbar gegen mich. Man hörte Mitglieder des Parlaments ganz offen sagen, mit dem Verbrennen der Bücher käme man nicht weiter, man müßte ihre Verfasser verbrennen. Gegen die Buchhändler ließ man sich nichts verlauten. Als mir diese Aeußerungen, die eines Inquisitors von Goa würdiger waren als eines Senators, zum ersten Male zu Ohren kamen, zweifelte ich nicht daran, daß es eine Erfindung der Holbachianer wäre, die darauf ausgingen, mich in Schrecken zu setzen und zur Flucht zu bewegen. [...] Eines Morgens jedoch, als ich mit Herrn von Luxembourg allein war, sagte er zu mir: »Haben Sie in dem »Contrat social« von Herrn von Choiseul etwas Nachtheiliges gesagt?« – »Ich?« erwiderte ich, vor Ueberraschung zurückfahrend, »nein, das kann ich beschwören; ich habe ihm im Gegentheile und noch dazu mit einer Feder, der alle Lobhudelei fremd ist, das glänzendste Lob gespendet, das je einem Minister zu Theil geworden ist,« und sofort sagte ich ihm die Stelle her. »Und im Emil?« fuhr er fort. »Nicht ein Wort,« versetzte ich; »er enthält nicht ein einziges Wort, das sich auf ihn bezieht.« – »Ach,« sagte er mit größerer Lebhaftigkeit als sonst, »Sie hätten es im andern Buche eben so machen sollen oder deutlicher sein müssen.« – »Ich glaubte es zu sein,« entgegnete ich, »meine Achtung vor ihm war dazu hoch genug.« Er wollte weiter reden; ich sah ihn im Begriff, sich ganz gegen mich auszusprechen, als er sich plötzlich bezwang und schwieg. Unglückselige Höflingspolitik, die in den besten Herzen selbst über die Freundschaft die Oberhand gewinnt.
Diese, wenn auch kurze, Unterredung klärte mich doch, wenigstens in gewisser Beziehung, über meine Lage auf und ließ mich erkennen, daß man doch an mich wollte. Ich beklagte dieses unerhörte Verhängnis, das alles, was ich gutes sagte und that, zu meinem Nachtheil ausschlagen ließ. Da ich aber hierbei in Frau von Luxembourg und Herrn von Malesherbes einen Schild zu haben glaubte, sah ich nicht ein, wie man es anfangen wollte, sie bei Seite zu schieben und mir zu Leibe zu gehen, denn im Uebrigen begriff ich jetzt recht gut, daß man sich nicht mehr um Billigkeit und Gerechtigkeit kümmern und es sich nicht groß anfechten lassen würde, erst zu prüfen, ob ich denn wirklich Unrecht hätte oder nicht. [...] Frau von Boufflers schien weniger ruhig. Sie kam und ging mit erregter Miene, machte sich viel zu schaffen und betheuerte mir, der Prinz Conti gäbe sich ebenfalls viel Mühe, den Schlag abzuwenden, der gegen mich im Schilde geführt würde, und den sie immer nur den gegenwärtigen Verhältnissen zuschrieb, unter denen es dem Parlamente darauf ankäme, sich von den Jesuiten nicht religiöser Gleichgültigkeit zeihen zu lassen. Sie schien indessen wenig auf den Erfolg der Schritte des Prinzen wie ihrer eigenen zu rechnen. Ihre mehr beunruhigenden als beruhigenden Mittheilungen hatten sämmtlich den Zweck, mich zur Flucht zu bewegen. Sie rieth mir beständig, mich in England niederzulassen, wo sie mir viele Freunde in Aussicht stellte, unter andern den berühmten Hume, der seit langer Zeit der ihrige war. Als sie wahrnahm, daß ich immer in meiner Ruhe verblieb, wandte sie einen Kunstgriff an, der geeigneter war, mich zu erschüttern. Sie gab mir zu verstehen, wenn ich verhaftet und verhört würde, käme ich in die Nothwendigkeit, Frau von Luxemburg zu nennen, und ihre Freundschaft für mich verdiente doch wohl, daß ich mich nicht der Gefahr aussetzte, sie bloßzustellen. Ich erwiderte, daß sie in einem solchen Falle völlig ruhig sein könnte, da ich sie gewiß nicht in die Angelegenheit verwickeln würde. Sie erwiderte, daß dieser Entschluß leichter zu fassen als auszuführen wäre, und darin hatte sie ja Recht, namentlich bei mir, der entschlossen ist, vor dem Richterstuhle nie falsch zu schwören oder zu lügen, welche Gefahr es auch immer nach sich ziehen könnte, die Wahrheit zu sagen.[...]
Weit davon entfernt, mich zu fürchten und verborgen zu halten, ging ich jeden Morgen nach dem Schlosse und machte Nachmittags meinen gewöhnlichen Spaziergang. Am 8. Juni, dem Vorabende des Haftbefehls, machte ich ihn mit zwei Professoren von den Oratorianern, dem Pater Alamanni und dem Pater Mandard. [...] Da ich an diesem Abende wacher als sonst war, setzte ich meine Lectüre länger fort und las das ganze Buch aus, das am Ende von dem Leviten von Ephraim erzählt. Es ist, wenn ich mich nicht irre, das Buch der Richter, denn seit jener Zeit habe ich es nicht wiedergesehen. Diese Geschichte regte mich sehr auf, und ich beschäftigte mich gerade in einem traumartigen Zustande mit ihr, als ich mit einem Mal durch Geräusch und Licht aus ihm gerissen wurde. Therese, die es trug, leuchtete Herrn La Roche, der, als er sah, wie ich mich rasch in die Höhe richtete, zu mir sagte: »Erschrecken Sie nicht; ich komme von der Frau Marschall, die Ihnen schreibt und einen Brief des Prinzen Conti sendet.« In der That fand ich in dem Briefe der Frau von Luxembourg den inneliegend, den ihr so eben ein besonderer Bote von dem Prinzen gebracht hatte; er theilte ihr darin mit, daß man trotz aller seiner Anstrengungen entschlossen wäre, mit aller Strenge gegen mich vorzugehen. »[...] morgen früh sieben Uhr wird der Haftbefehl gegen ihn erlassen werden, und man wird seine Verhaftung sofort vollstrecken lassen. Ich habe durchgesetzt, daß man ihn nicht verfolgen wird, wenn er sich entfernt; will er sich jedoch durchaus verhaften lassen, so wird er gefänglich eingezogen werden.« La Roche beschwor mich im Namen der Frau Marschall aufzustehen und mich zu einer Berathung zu ihr zu begeben. Es war zwei Uhr; sie hatte sich bereits niedergelegt. »Sie erwartet Sie,« fügte er hinzu, »und will nicht einschlafen, ehe sie Sie nicht gesehen hat.« Ich kleidete mich schnell an und eilte zu ihr.
Sie kam mir aufgeregt vor. Es war das erste Mal. Ihre Unruhe rührte mich. In diesem Augenblicke der Ueberraschung, mitten in der Nacht, war ich selbst von Aufregung nicht frei. Als ich sie aber sah, vergaß ich mich selbst, um nur an sie und die traurige Rolle zu denken, die sie spielen würde, wenn ich mich verhaften ließ; denn fühlte ich auch genug Muth in mir, um nichts als die Wahrheit zu sagen, sollte sie mir auch schaden und mich verderben, so fühlte ich doch nicht genug Geistesgegenwart, noch genug Gewandtheit und vielleicht nicht einmal genug Festigkeit in mir, um sicher zu sein, daß ich die Frau Marschall nicht bloßstellen würde, wenn man mich einem scharfen Verhöre unterzog. Dies bestimmte mich, meinen Ruhm ihrer Ruhe zu opfern, bestimmte mich, bei dieser Gelegenheit für sie das zu thun, was nichts in der Welt von mir erzwungen hätte, für mich selbst zu thun. [...] Herr von Luxembourg schlug mir vor, einige Tage incognito bei ihm zu bleiben, um zu überlegen und meine Maßregeln in größerer Muße zu treffen. Ich ging nicht darauf ein, auch nicht auf den Vorschlag, mich im Geheimen nach dem Temple zu begeben. Ich bestand darauf, noch an demselben Tage abreisen zu wollen, viel lieber als hier noch länger irgendwo versteckt zu bleiben.
Ueberzeugt, daß ich im Königreiche geheime und mächtige Feinde hatte, war ich der Ansicht, daß ich trotz meiner Vorliebe für Frankreich es doch verlassen müßte, wollte ich in Frieden leben. [...] Entschlossen, noch den nämlichen Tag abzureisen, war ich von früh an für jeden abgereist, und La Roche, durch den ich mir meine Papiere holen ließ, wollte nicht einmal Therese sagen, ob ich es wäre oder nicht. [...] Der Herr Marschall sagte nicht eine Silbe; er war leichenblaß. [...]
Als ich das Berner Gebiet betrat, ließ ich anhalten; ich stieg aus, warf mich nieder, breitete die Arme aus, küßte die Erde und rief in meinem Freudentaumel: »Himmel, Beschützer der Tugend, ich preise dich; ein freies Land betritt mein Fuß!« So habe ich mich, voll Blindheit und Zuversicht auf meine Hoffnungen, beständig für das begeistert, was mein Unglück hervorrufen sollte. [...] (11. Buch)
[...] Deshalb war ich völlig überzeugt, mit rother Tinte in die Listen des Königs von Preußen eingetragen zu sein; und da ich überdies annahm, daß er die Grundsätze, die ich ihm zuzuschreiben gewagt hatte, wirklich besäße, konnten ihm meine Schriften und ihr Verfasser schon lediglich um deswillen nur mißfallen, denn man weiß, daß mich die Bösen und die Tyrannen, auch ohne mich zu kennen, auf die bloße Lectüre meiner Schriften hin stets gehaßt haben.
Gleichwohl wagte ich mich in seine Gewalt zu begeben und war überzeugt, wenig Gefahr zu laufen. Ich wußte, daß die niedrigen Leidenschaften nur über schwache Menschen Herr werden und über Seelen von hartem Schlage, und für eine solche hatte ich die seinige erkannt, nichts vermögen. Ich glaubte fest, daß seine Regierungskunst es von ihm verlangte, sich bei einer solchen Gelegenheit hochherzig zu zeigen, und daß sein Charakter groß genug wäre, es wirklich zu sein. Ich war überzeugt, daß eine niedrige und leicht auszuübende Rache nicht einen Augenblick die Ruhmliebe in ihm überwiegen könnte, und wenn ich mich an seine Stelle dachte, hielt ich es nicht für unmöglich, daß er die Gelegenheit benutzen würde, um den Mann, der es gewagt hatte, von ihm schlecht zu denken, durch das ganze Gewicht seines Edelmuths niederzubeugen. So übersiedelte ich denn nach Motiers mit einer Zuversicht, deren Werth ich ihn einzusehen für befähigt hielt, und sagte zu mir: »Wird sich Friedrich, wenn sich Jean-Jacques neben Coriolan erhebt, niedriger zeigen als der Feldherr der Volsker?« (12. Buch)
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