27 Mai 2021

Vischer: Auch Einer (6) - Ein Singspiel und eine Romankorrektur

Der Erzähler findet unter den nachgelassenen Papieren A.E.s einige, die deutlich machen, wie sehr A.E. auf die Tücke des Objekts fixiert war. 

Im folgenden Textausschnitt aus Vischers Roman "Auch Einer" habe ich mir gestattet, einzelne Passagen hervorzuheben, damit deutlich wird, was Aussagen des Erzählers des Romans sind und wo er Vischers Korrekturen (in roter Tinte) wiedergibt. 


"Gesondert vom übrigen teile ich ferner die unvollendete Skizze eines Singspiels mit, die mir beim Blättern in die Hände fiel. Die Ueberschrift bezeichnet dies Produkt als Singtragödie.

Akt I

Szene 1. Schreibzimmer

Personen:

Ein Härchen.
Tinte.
Eine Schreibfeder.
Ein Buch.

Das Härchen, mikroskopisch klein, in einem Tintenfaß befindlich, trägt im dünnsten Sopran eine Arie vor, Text gerichtet an die danebenliegende Schreibfeder, welche den ausgedrückten bösen Absichten Entgegenkommendes in einer Antistrophe spitz vorträgt, hierauf entsprechendes Duett.

Demnächst Rezitativ, Baßstimme, ausgehend von einem Buch auf dem Bücherbrett über dem Schreibtisch. Kichernde Antwort von Geistern in der Tinte. Duett von Tinte und Buch vereinigt sich mit Härchen und Feder zu einem gefühlten Quartett.

Szene 2.

Personen:

Hilario, schöner Jüngling.
Die vorhergehenden.

Man hört Schritte, genannte Geister verstummen. Hilario tritt ein. Monolog. Hilario liebt aufs äußerste eine Jungfrau Adelaide. Ist schüchterner Komplexion, hat noch kein Wort gewagt, beschließt zu schreiben. Tunkt ein.

Härchen und Feder vereinigen sich innig, Hilario wird nach mehreren Versuchen, mit dem verfluchten Pinsel zu schreiben, sehr wild, schreibt Grobheiten statt Zärtlichkeiten.

Neue Feder. Fängt von vorn an. Es geht spießend vorwärts. Beschließt Zitat aus Petrarka. Will den Band herabnehmen, er fällt aufs Tintenfaß, das ganze Schreiben wird schwarz übergossen. Hilario beschließt in Verzweiflung, es doch mit dem lebendigen Worte zu versuchen. Er hofft, der Geliebten im Park zu begegnen, will wagen, sie anzureden.

Hinter ihm her höllischer Lachchor genannter Personen der ersten Szene.

Szene 3. Park

Personen:

Eine Pfütze.
Ein Hühnerauge.

Arie mit einem gewissen klebrigen Etwas in der Tonfärbung vorgetragen von der Pfütze, entsprechend von Instrumenten begleitet.

Ein weißlicher Punkt schwebt herbei; derselbe erweist sich, näher sichtbar, als Hühnerauge (äußerst giftiger Blick und Gesamtausdruck). Arie: hornig harter, friktiv brennender Ton. Text offenbart teuflische Absichten. Verschwörungsduett zwischen beiden.

Akt II

Szene 1

Personen:

Die vorhergehenden.
Hilario.
Adelaide, selbstbewußte Jungfrau.
Vögel.

Hilario tritt auf, heiter gespannt, das Hühnerauge schwebt, einen feurigen Faden durch die Luft ziehend, nach ihm hin, verschwindet in seinem Lackstiefel. Er winselt, hinkt, fällt in die Pfütze, wird sehr dreckig. In diesem Augenblick erscheint Adelaide. Lacht sehr, verhöhnt ihn bitterlich. Beide ab. Triumphchor genannter Objekte, vermehrt durch Vögel, welche von Bäumen zugeschaut.

Dies wird genügen, ein Bild von A. E.s Komposition zu geben; ich darf die Geduld des Lesers nicht durch weiteren Auszug ermüden. Es genügt, noch zu erwähnen, daß die Skizze andeutet, Hilario wisse, durch einen Kampf mit einer Reihe ähnlicher Hindernisse vordringend, endlich doch Adelaidens Liebe zu erringen, eine selige Stunde werde ihm in Aussicht gestellt; dann folgt noch eine um weniges ausgeführtere Szene:

Szene X Apotheke

Personen:

Ein Kolben mit Mandelmilchsirup.
Eine junge Katze.
Ein junger Apotheker.
Hilario.

Arie obgedachten Kolbens: weichlich zäher, doch ungleich tückischer Ton, entsprechender Text. Junge Katze erscheint; kindlich heiterer Gesang. Duett. Sehr eilig eintretend Hilario. Aus dem Nebenzimmer kommt der Apotheker. Hilario bittet sehr dringend um einige Tropfen Laudanum, der Apotheker verlangt ärztlichen Vorweis, und allzu gewissenhaft (– noch junger Gehilfe –), da Hilario solchen nicht besitzt, verweigert er die Bitte. Hilario: »dann Mandelmilch, schnell!« – Apotheker: »dies gern!« holt den Kolben, stolpert über die junge Katze, der Kolben liegt zerschellt am Boden, Hilario rasend ab. Furienhafter, grellgellender Verhöhnungschor der Scherben und der Katze. Trio mit der Jammerstimme des Apothekers.

Hier brach das Fragment mit einem wilden Fahrstriche der Feder ab, die dann wie toll in kratzigen, borstigen Linien auf dem Papier umhergewütet haben, hierauf etliche Male senkrecht aufgestaucht worden sein mußte; dies bewiesen starke, von Spritzaureolen umgebene Tintenkleckse.

Das pathologisch schnelle Abbrechen war mir nicht gerade komisch, es gab an andres, wenn auch noch so Verschiedenes, zu denken.


(Korrekturanmerkungen zum Romantext einer Frau:)


Bei weiterem Durchstöbern stieß ich auf eine Schicht gedruckter Blätter, auf deren Rand ich Anmerkungen mit roter Tinte bemerkte. Das Gedruckte konnte nicht von A. E. verfaßt sein, es war der Anfang eines Romans, dessen Stil und Inhalt weiblichen Ursprung erkennen ließ, das Titelblatt fehlte. Auf einem Beiblatt stand von seiner Hand geschrieben: »Das ist keine Kunst, ideal tun, wenn man alles ungenau nimmt. Wart, Blaustrumpf, wart, Gans, ich will dir's einmal zeigen! Meinst du, die Dinge der Welt laufen nur so glattweg in geölter Kurbel?«

Ich stelle einige Sätze heraus mit den Anmerkungen, um einen Begriff von diesen Korrekturen zu geben:

»Es war ein lachender Morgen Ende Augusts. Wir standen reisefertig. Der gute, liebe Onkel! Es war ihm schwer geworden in seinen Jahren, aber er hatte sich entschlossen; mein Sehnen sollte erfüllt werden, er führte mich nach Paris. Die Koffer waren gepackt –

Anmerkung:
bis auf einen, den Hauptkoffer, wozu der Schlüssel verlegt war –

Die Droschke war bestellt –

Anm.:
und kam nicht.

Endlich steigen wir in den Wagen –

Anm.:
wobei der Onkel fehltrat und umfiel –

Wir sitzen, das Dampfroß schnaubt, die Räder beginnen zu rollen –

Anm.:
das Handgepäck fällt aus dem Netzfach und treibt dem Onkel den Hut an.

Noch ein Gruß an die liebe Schwester Ida, ein Schwenken meines Tuchs –

Anm.:
wobei das Fenster fällt und ihr die Hand einklemmt.

Der Kondukteur coupiert; o, er erschien mir wie ein Götterbote, der meine Seele nach Elysium einlade –

Anm.:
doch der Onkel fand die Billette nicht.

Mir gegenüber – o schöner Anfang! ein junger Mann – in Zivil – hat aber etwas edel Kriegerisches, selbstbewußte Haltung, Blick lebhaft, dabei etwas männlich Herrschendes und doch zugleich so Feines – wohl Gardeoffizier?

Anm.:
worauf besagter Herr den einen und dann den andern Fuß neben den Onkel aufs Polster hinüberlegt und der Onkel sich sanft beschwert und eine sackgrobe Antwort bekommt.

Balsamische Morgenluft weht herein.

Anm.:
Dem Onkel fährt eine Kohlenstaubfaser ins Auge.

Städte und Dörfer im Sonnenglanz fliegen vorüber, die Schwalben schwirren, die Natur taucht, badet, schwimmt beseligt in sich selbst. Ja, die Natur hat Seele, sie ist doch immer seelisch besagend. Die Natur ist Geistflüsterung, der Mensch Geistsprechung, sie ist Geistduftung, der Mensch Geistblitzung. – Dies ist ein Gedanke! Ich zeichne mir ihn in mein Poesiealbum. – Und nun, du Natur der Natur, goldiger Süden, dufte mir labend entgegen!

Anm.:
Sie sucht die mitgenommene Orangentorte, der liebe Onkel hat sie versessen.

Wehe! kann wolkenlos kein Himmel bleiben? Das lachende Antlitz der Natur trübt sich, ein Strichregen beginnt zu fallen, sie sinkt sich selbst als weinendes Kind in die Arme. Aber warum so heftig, deine Tränen netzen mich zu stark! – ›Ja, bitte, edler junger Mann, schließen Sie das Fenster –‹

Anm.:
welches sich nicht schieben lassen will, weswegen der Onkel mithilft. Beide drücken, und da es rasch nachgibt, stoßen sie die Scheibe hinaus.«

Genug und wohl schon allzuviel, der Spaß wäre geradezu langweilig zu nennen, wenn der wunderliche Korrektor nicht auf eine Steigerung losarbeitete. Eine solche lag denn auch im Entwurfe bereit und daneben das Material, woraus er das Hauptmotiv hierzu entlehnte, nämlich einige Blätter aus der Schrift des bekannten Odpropheten von Reichenbach: »Der sensitive Mensch«, auf denen sich das Odleuchten der bei Schnupfen und Katarrh affizierten Körperteile beschrieben findet. Eine große »amplificatio« sollte nun losgehen. Man ist in einen langen Tunnel eingefahren. Die Lampe, angezündet, geht durch irgend einen Zufall wieder aus. Der gute Onkel hat die Reise im Zustand besagter Affektion angetreten. Jetzt, im Dunkel, bemerkt man zuerst, daß beim Husten ganze Lichtgarben, Odlicht der entzündeten Schleimhäute der Mundhöhle, stoßweise seinem Munde entfahren – (diese und alle folgenden Erscheinungen wörtlich nach Reichenbach). Bereits hat auch seine Nase zu leuchten begonnen; sie erscheint in dieser Lichtemanation drei- bis viermal vergrößert, armlang, fußdick, stets intensiver wird das Odglühen, Tausende von roten und gelben Odfünkchen entsprühen dieser furchtbaren Leuchte, dann scheint es wieder, als hänge ein großer Lichtklumpen wie eine baumelnde Laterne von ihr herunter. Aber mehr noch, Entsetzlicheres gelangt zur Wahrnehmung der Insassen des Wagens: durch die Bekleidung hindurch erscheint auf der linken Brust ein handgroßer leuchtender Fleck, – das Herz –, dann etwas tiefer, unter den Rippen, ein schräger Lappen bläulichen Lichts – die Leber des unseligen Greises. Die Augenzeugen wollen zuerst ihren Sinnen nicht trauen; ehe sie Zeit haben, die Häufung dieser wunderbaren Phänomene zu beobachten, hat sich noch andres ereignet. Der Onkel und dann der junge Mann hatten sich in die Scherben der zerbrochenen Scheibe gesetzt; sie schreien erbärmlich auf. Inzwischen sind die genannten Odstrahlungen auf solche Höhe gestiegen, daß der Ruf: Feuer! Feuerjo! mit dem Wehrufe der Verwundeten zusammentrifft. Der Kondukteur erscheint eilig im Wagen (man hat sich die langen Waggons der Schweiz und Amerikas vorzustellen), stürzt alsbald wieder fort und läßt wegen Feuergefahr den Zug stoppen, bringt den Zugführer herein, dieser erkennt in dem jungen Mann einen reisenden Künstler im Fach der natürlichen Magie, der kürzlich in der Hauptstadt aufgetreten ist, fährt ihn an mit Scheltworten über schlechte Charlatankünste; die sämtlichen Passagiere verharren in der Vorstellung, es brenne, der Onkel – ein Greis von chemisch-physikalischer Selbstkenntnis –, ruft dazwischen häufig und vergeblich: »Es ist ja nichts, es ist ja nur Od-positiv!« Die Nichte liegt in Ohnmacht, jetzt ertönt der Schreckensschrei, es komme ein Gegenzug herangebraust –

Bis hierher war dieser schreckliche Hergang skizziert, und hier fand ich das Manuskript abgebrochen. [...]"

(Vischer: Auch Einer, 16. Kapitel)

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