23 Mai 2021

Vischer: Auch einer (5) - Pfahlbauerzählung: Vortrag des Barden

 Vortrag des Barden: Archäologische Erkenntnisse und darauf gründende Zukunftsvision

"Angus stellte jetzt den älteren der zwei Ehrengäste, Feridun Kallar, den Versammelten vor und bat ihn, die Kanzel zu besteigen.

Ernst und doch freundlich ließ der Mann, wie er nun oben stand, die Augen auf der harrenden Gemeinde verweilen, ein mildes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, die hohe, von krausen grauen Locken umgebene Stirne verkündigte einen Mann des Sinnens und Forschens, die etwas gelbliche Gesichtsfarbe störte nicht im mindesten den Ausdruck von Güte und feiner Laune, der auf diesen Zügen lag, sondern ließ nur schließen, daß anhaltende Geistesarbeit die Verrichtung der Leber etwas beeinträchtigt haben dürfte.

Er begann: »Hochwürdiger Herr Druide! Hochachtbare Gemeindeältesten, achtbare und ehrsame Mannen! Pfahlbürger! Pfahlkerle, Pfahlekarlier! (Bravo!) Ihr habt mir die Ehre erwiesen, mich zu einem Vortrag über die merkwürdigen Fünde einzuladen, die euer Seegrund zutage gefördert hat. Glücklicherweise bin ich nun in der Lage, euch melden zu können, daß an unsrem See, nur ein paar Stunden von Turik entfernt, gerade dieselbe Entdeckung gemacht worden ist; nämlich an der Stelle, wo jetzt die ehrenwerte Gemeinde Milun auf ihren Pfählen wohnt, legte die große Dürre einen Teil des Grundes trocken, man sah uralte schwarze Stümpfe hervorragen, Kinder fanden Scherben von Töpfen, brachten sie nach Hause, die Alten wurden aufmerksam auf die rohe Form, die arme und ungeschickte Art der Verzierung – es waren, wie ihr es hier gefunden, bloße Reihen von Eindrücken mit Fingernägeln, während man jetzt doch einige feinere Linien, ein Zickzackornament einritzt oder aufmalt –, ebenso auf den zerbrechlichen Ton, der nicht mit feinem Staub aus hartem Gestein verdichtet war, wie man es jetzt tut; man grub weiter, fand in Milun wie in Robanus Knochen von unbekannten ungeheuern Tieren, insbesondere einen Stoßzahn von einem fürchterlichen Geschöpf, das wie ein trampelnder Berg ausgesehen haben muß; Enden vom Geweih des Riesenhirsches Schelch, Wirbel und Schenkelknochen des Ur fehlten so wenig, daß man leicht sah, die beiden gewaltigen Tiere müssen damals weniger selten gewesen sein als jetzt, wo man ihre Gehörne und Köpfe, bringt einmal das Glück die rare Beute, an die Rathaustüre nagelt, wie man das in Turik tut und ich heut auch hierorts gesehen habe. Die menschliche Kunst, – das konnte man leichtlich schließen, – muß damals noch weit zurückgewesen sein; wir haben jetzt angefangen, unsre Flintswaffen glatt zu schleifen; deren fanden sich nur roh gespaltene; man entdeckte keine Spur von Weberei, die Leute von damals werden wohl nur das Gerben verstanden haben, also in lauter Pelz und Leder dahergestiegen sein, und da das Zeug im Sommer doch arg heiß gibt, so mußten sie entweder sehr schwitzen oder sie gingen um diese Jahreszeit eben fast nur so um, wie Selinur den Menschen erschaffen hat. Doch ohne Putz müssen sie nicht gewesen sein, denn von jenem Rötel, womit sich jetzt nur noch wenige alte Leute das Gesicht malen –« (Gelächter – man hört leiser, dann lauter den Namen Urhixidur nennen – Angus blickt finster) – »von jenem Rötel hat man auch dort gar viele Stückchen entdeckt. Und das läßt schließen, daß es an allerlei anderm Schmuck, wie Federn auf dem Kopf, buntem Pelzbesatz an Kleidern und Mützen nicht werde gefehlt haben. Nähen und ein bißchen Steppen und Sticken konnte man schon, aber man sieht aus den Stichen, daß die Nadeln, die wir jetzt aus Vogel- und Mausbeinchen, Fischgräten, ja aus Erz so fein herzustellen und handzuhaben wissen, noch sehr grob gewesen sein müssen. Auch Halsschnurkugeln und Wirtel aus Ton hat man gefunden, sogar mit eingeritzten, freilich sehr uranfänglichen Verzierungen. Man hat keine Wagenreste entdeckt, sie werden nur grobe Schlitten zum Lastführen gebraucht haben; daß aber keine Trümmer von Pflügen vorkamen, das kann nicht beweisen, daß jene unsre Ahnen kein Getreide bauten, kein Brot aßen, das wißt ihr, denn auch bei euch hat man ja die groben Pumpernickel gefunden, wie dort. Und endlich führte man im alten Milun kein so armseliges Leben, daß es nicht so gut wie im alten Robanus schon Schnitzli gegeben hätte. (Heiterkeit.)

»Nun aber, hochwürdige, hochachtbare und achtbare Zuhörer, ist das eigentlich kein so gar besonderer, sondern ein ganz einfacher Fall, und hättet ihr keines auswärtigen Gelehrten bedurft, ihn euch zu erklären, wenn sonst nichts dabei wäre. Ich kann euch weiter nichts Neues sagen, als daß wir in Turik durch unsre vergleichenden Knochenmessungen herausgebracht haben, die Haustiere: Rind, Ziege, Schwein, Hund, müssen dazumal dieselben gewesen sein wie jetzt. Es haben eben vor uns Menschen mit allerhand Getier zusammengelebt wie wir auch, Menschen, die aber nicht so weit waren wie wir; daran ist ja nichts Wunderbares. Wie lang es her ist, wer weiß es? So eine Seeschlammschichte von drei, vier und mehr Fuß Dicke, die braucht schrecklich lange, bis sie fertig ist. Viel Hunderte von Jahren kann's her sein, daß das alte Pfahldorf tief unter dem jetzigen über dem damaligen Seespiegel stand. Es muß verbrannt sein, vielleicht durch Zufall, vielleicht durch Feindeshand. Still flutete dann der See darüber und ungezählte Zeitläufe lang schien die flammende Sonne und der sanfte Mond auf seine Wasser, und still war alles und stumm und öde, während in der Tiefe langsam, langsam eine dünne Lage Schlammes um die andre sich ansetzte und tiefer und tiefer die Zeugen eines untergegangenen Lebens begrub. Da kamen einmal Leute, die suchten sich – wir wissen nicht warum: vielleicht war denen auch irgendwo ihr Pfahldorf abgebrannt – suchten sich einen stillen, guten, fischreichen Platz zum Wohnen, und wählten die Stelle von Milun und wußten nicht, was da unten begraben sei, und schlugen Pfähle und vermehrten Jahr um Jahr ihre Familien und Häuser, und gaben sich Mühe, ihre Geräte, Waffen, Kleider immer besser und feiner, ihre Speisen immer schmackhafter zu bereiten, und lernten auch von Mannen aus andern Städten und Dörfern, mit denen sie im Verkehr waren, und so ist es hier in Robanus auch gegangen und in Turik selbst wohl auch und anderwärts auch, und so sind wir nun miteinander auf der Höhe der Bildung angekommen, auf der wir stehen.

»Nun aber hier kommt der Punkt. Die Sache ist eben nicht wichtig, aber das ist wichtig, was sie zu denken gibt, und hievon zu reden ist nun freilich der Mühe wert und will ich's versuchen, so gut ich kann.

»Auf der Höhe der Bildung habe ich gesagt. Ja, wir glauben, darauf zu stehen, ihr glaubt's auch, nicht wahr? So recht auf der Spitze, dem Giebel, Gipfel, Wipfel der Bildung, und lächelt über die Geschlechter, deren arme Ueberbleibsel wir nun zu Gesicht bekommen haben?

»Seid versichert: genau dasselbe glaubten jene Geschlechter auch und sie standen auch auf dem Gipfel, denn die Höhe, worauf sie standen, war für sie Gipfel. (Stimmen: ›Oho!‹)

»Ihr stutzt. Jetzt wartet, jetzt wollen wir einmal vorwärtsschauen! Vor kurzer Zeit haben wir unsre Webstühle ungleich kunstreicher als früher gebildet, wir weben die schönen gemusterten Stoffe. Feiner schleifen wir den Flintstein für unsre Aexte, Speer und Pfeilspitzen. Noch viel Wichtigeres hat sich ereignet. Wir haben durch Austausch und Verkehr mit den Seen der Nachbarstämme vor kurzem den neuen Stoff, das Erz, kennen gelernt, von dem ihr seit gestern erst wißt, da Odgals Vetter Sachen davon hergebracht hat. Es wird nicht mehr lang anstehen, so wird man alles Geräte, Schmuck, Waffen daraus bilden. Ein andres, ganz absonderliches Ding hat euch wohl der Gast auch schon gezeigt: die kleinen Erzstückchen, die künftig im Handel und Wandel für Tauschware gelten sollen. (Lachen rechts und im Zentrum, Stimmen: ›Lumpenzeug! Windige Bröcklein!‹)

»Man lacht; aber ich bitte: möchtet ihr nicht die Güte haben, darüber nachzudenken, welche Umständlichkeiten euch dadurch erspart werden? Stier, Ochs, Kuh, Kalb dahertreiben, um so und so viel Getreide, gegerbte Häute, Waffen dafür zu bekommen; geht's nicht kürzer und leichter mit Stückchen Erz, deren einer leicht ein paar Hundert im Rucksack trägt? (Stimmen: ›Tür und Tor für Betrug! Werden leicht nachzumachen sein!‹) Ei, habt ihr nicht gesehen, daß man den Stückchen sehr künstliche Stempel gibt, die nicht leicht jemand nachmacht? Und noch dient zu wissen: die fremden Männer haben geheimnisvoll herumgeflüstert, daß sie noch ganz andre Wunderdinge bald bringen werden: Tauschstücke aus einem weiß und aus einem hochgelb glänzenden Körper, der aus den Tiefen der Erde gegraben wird, aber so selten, daß ein Stückchen davon in Form gebracht wirklich ganz wohl so viel Wert hat, als ein Hammel, eine Kuh, die man dagegen eintauscht. – Nun, ich sehe wohl, daß euch das Ding noch zu fremd ist, überlassen wir's der Zukunft, aber noch etwas andres laßt mich erwähnen. Denkt! schon haben die wandernden Männer von jenseits der Alpen, die uns das Erz gebracht und gezeigt haben, wie man es aus Kupfer und Zinn bereitet, uns erzählt, man sei auf einen andern noch besseren Stoff gekommen, der sich fertig in den Bergen finde, nur mit allerhand Erde vermischt, so daß er durch Feuer aus diesen Zusätzen herausgeschieden werden müsse; der gebe, wenn man ihn tüchtig schmiede, Waffen und Geräte, die noch weniger leicht brechen, als die von Erz, er sei zäher und lasse sich doch aufs Aeußerste härten. Er sehe nicht so schön gelb aus, nur schlicht grau, blinke aber doch, wenn er geglättet sei, in einem Glanze, daß man ihm seine Tugend wohl ansehe. Sein Name sei Eisen. Bereits haben auch die fremden Händler Sachen aus diesem Stoffe an den See Leman gebracht, deren einige zu uns herübergelangt sind. Ich hab' etwas hier.« [...] 

Die Zeit und die Leute bleiben nie stehen und immer die folgenden haben die Augen weiter offen und kommen ihnen die Vergangenen vor wie junge Katzen, die noch nicht sehen. Und so haben wir immer neue Gipfel der Bildung, und weil es immer neue gibt, so gibt es keinen. Dazu hab' ich aber noch etwas zu sagen. Es ist gar wohl möglich, daß vor vielen tausend Jahren da oder dort Geschlechter gelebt haben, die in allen Künsten schon so weit waren, als man von jetzt an in vielen tausend Jahren sein wird, und daß all ihr Reichtum und ihre Pracht und feinen Werke dann in Wildnis versunken sind, und daß über dem Schutt die Menschen wieder haben vorn anfangen müssen. Wär' es so gegangen, so hätten wir also einen Weg, auf dem die Wesen ziehen und wandern, der ginge nicht immer bergauf, sondern auch bergab und bergauf. Aber hin wie her, es ist eben ein Weg, eine Bahn, eine Bewegung! [...]

Das alles hat Taliesin gestiftet und mit dem allem will er euch gescheit und gut machen. Er meint's wohl und freundlich und hat niemand mit Fluch bedroht, als die, welche sich selbst verfluchen, weil sie Holzköpfe und steinhart und horndumm bleiben wollen; und wahnsinnig, ja schändlich und scheußlich ist es, zu glauben, er halte die Menschen an, den schrecklichen Gott der Kriegswut und Pfnüsselverstörung zu ehren mit Menschenopfern, und nun sagt einmal, ihr Pfahlmannen, ihr Pfählmannen, die ihr Ketzer und Kriegsgefangene pfählt, kreuzigt, metzget, lebendig verbrennt, wo steht ihr, auf welcher Höhe befindet ihr euch, daß ihr glaubt, herabzusehen auf die Ahnen, deren Reste ihr ausgegraben und bei denen vielleicht, wie roh sie auch waren, doch die grause Sitte der Menschenopfer noch nicht aufgekommen war? Ist das der Gipfel, Giebel, die Zwiebel, der Spitzgipfel, Gipfelspitz und Zipfel eurer Aufklärung?« [...]"

(Vischer: Auch einer, Kapitel 9)


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