Es ist schwer vorstellbar, dass Vischer diese Einzelüberlegungen und Aphorismen in seinen Roman aufgenommen hat, ohne dabei an Goethes Vorbild in den Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meister (Makariens Archiv) zu denken. Dabei kann er in der Schwebe lassen, ob es Gedanken des Autors Vischer oder seiner Figur A.E. handelt. Manches - wie zum Beispiel der Bezug auf die "Pfahldorfgeschichte" - ist freilich eindeutig Aussage von A.E.
Es hat daher wenig Sinn, Gedanken von unserem heutigen Standpunkt als fragwürdig zu kennzeichnen, wenn nicht klar ist, ob nicht Vischer damit seine Figur A.E. charakterisieren und kritisieren will (z.B. bei allen Aussagen über "das Weib").
"Wißt es, ihr Köpfe, mit meinen Fehlern und mit meinem Wahnsinn hab' ich so gut ein Recht, zu existieren, wie ihr mit euren Fehlern und mit eurem Kahlsinn!"
"Stehe oft und gern nachts auf einer der kleinen Brücken, sehe hinab auf den dunkeln Kanal, da und dort von Lichtschein überblitzt. Wenn dann eine Gondel durchfährt, so ganz still, nur selten der Ruf: Sta li! sonderbar, dann ist mir oft, als liege ich, der da oben zusieht, zugleich tot in der Gondel, und der Tote freue sich zugleich der stillen Nachtfahrt."
"Was aber nun tun? Nachdem die Pfahldorfgeschichte fertig ist? Die Reiseerinnerungen niederschreiben? Gar drucken lassen? Pah! Diese Flut vermehren, unter die Schmierer gehen, die nichts leben können, ohne es zu schreiben? Wieder etwas komponieren? einen Roman, Drama? Pah! als ob dazu dein Talent reichte!"
"Ferner: du darfst kein Menschenverächter werden, weil du nie wissen kannst, wer aus der schlechten Mehrheit fähig, empfänglich ist, in die Minderheit heraufgehoben zu werden. Die Grenze zwischen beiden ist flüssig. Man kann also heiter bleiben trotz der Weltlumperei, und man braucht diese Stimmung, eben um jene Grenze flüssig zu erhalten. Umgekehrt soll man auch der Festigkeit der Grenze von oben nach unten nicht trauen. Zählst du dich zur guten Minderheit: du magst recht haben, aber zupfe dich an der eignen Nase, besinne dich auf die Blindheit deiner Jugend, falle nicht in Sicherheit und Dünkel, insbesondere prüfe dich daran, ob du aktiv bist. Hochmut kommt vor dem Fall."
"Nichts schadet ja dem großen Geiste mehr, als wenn man den guten Leuten zumutet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern; [...]"
"Von der Dichtkunst erwartet die Mehrheit der Menschen, sie solle ihnen ihre gewöhnlichen Vorstellungen, nur mit Flittern von Silber und Goldpapier ausgeputzt, angenehm entgegenbringen. Da sie in Wahrheit das gemeine Weltbild vielmehr auf den Kopf stellt, so wäre kein großer Dichter je berühmt geworden, wenn nicht die wenigen, welche wissen, was Phantasie ist, allmählich einen Anhang gesammelt und denselben mehr und mehr erweitert hätten. Sie haben Stein auf Stein in das stehende Wasser der Meinung geworfen, bis die Wogenkreise den ganzen Spiegel in Bewegung setzten. Wäre dies nicht, so stände heute noch Wieland, Iffland, ja gar Kotzebue in der Blüte der öffentlichen Gunst, Goethe und Schiller gälten für Phantasten. Man würde sich nur größere Dosis von Schauer ausbitten, als die alten Lieblinge boten, und in diesem Punkt eine Beimischung aus den Ritterromanen vorziehen; [...]
"Das Ideale stellt die gemeine Ansicht von Welt und Leben auch dann auf den Kopf, wenn es die Dinge ganz naturgemäß geschehen läßt. Echtes Kunstwerk hat mitten im klaren doch immer Traumcharakter, ist von »Geisterhauch umwittert«."
"Die meisten Menschen wissen sich nicht zu behandeln, daher stehen sie mit sich selbst auf so schlechtem Fuße."
"Das Weib ist schamhafter als der Mann, weil es weniger unschuldig ist. Das Mädchen weiß das Geschlechtliche weit früher als der Knabe, lernt früh, wenn auch noch unbeteiligt, das ganze Listgetriebe des Männerfangspiels kennen, das Weib ist sich des Geschlechts weit bewußter als der Mann und hat dies Wissen zu verbergen, daher muß es mehr Scham haben. Dies ist im geringsten keine Schande für das Weib. Es erhebt sie. Sie ist mehr Naturwesen als der Mann, und wird sittliches Wesen, indem sie es verhüllt, mit Bildungsleben zudeckt. Bedarf übrigens der Mann weniger Schamhaftigkeit, so ist das lange kein Freibrief für Schamlosigkeit. Ich halte an meinem alten Spruch, den ich mir damals in den norwegischen Bergen eingezeichnet: Scham verloren u. s. w. Wer gemein ist, mag noch manches leisten, aber er ist eben gemein. Den Mann, der darin richtig bestellt ist, wird man besonders daran erkennen, daß er gut unterscheidet, wo Zynismus berechtigt ist, wo nicht, und daß er gut erkennt: der gröbste Zynismus ist unschuldiger als der feinste Obszönismus. Darin liegt eine große Schwäche des Weibs, daß es im Gespräch so gern Nebenbeziehungen findet, Anspielungen, Stiche, Ausfälle, wo davon keine Spur ist. Der Mann redet gewöhnlich einfach und ehrlich auf die Sache los und denkt nicht daran, was man dabei sonst und nebenher noch denken könnte. [...]
Die Hohenstaufengräber in der Kathedrale kann ich nicht zum zweitenmal sehen. Hic situs est magni nominis Imperator et rex Siciliae Fredericus II. – – Kann nicht zur reinen Anschauung, nicht zur ungeteilten Stimmung gelangen vor dem Porphyrsarg. Der Hohenstaufen schiebt sich mir in die Bildkammer der Phantasie herein, wie ich ihn einst gesehen, in Formen so schön, als stände er nicht neben deutscher Alb, – kahl, matt rötlich beleuchtet von der Abendsonne. Verliere mich in die Frage, ob es geschichtliche Notwendigkeit gewesen, daß diese großen Kaiser Stiefväter ihrem Heimatland waren. Erwäge das vielbesprochene Für und Wider. Es gräbt, bohrt, sticht in mir, daß unsre Geschichte Gipfel hat, die keine Gipfel für unsre Nation sind. Alte Pein, einem belächelten Volk anzugehören, wacht auf. Werde mir nun selber bös, daß ich angesichts des großen Gegenstandes Auge und Gefühl nicht rein gegenständlich stimmen, meinen Vorsatz, die Politik zu lassen, nicht halten kann. Also eben fort, hinaus wieder an den Hafen, meinem Liebling, meinem Herzblatt gegenüber, dem Monte Pelegrino!"
(Vischer: Auch Einer Kapitel 25)
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