11 November 2020

Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 19. Kapitel

 Endlich kam der Tag der Trauung heran. Im weißen bräutlichen Gewande, dessen Falten schwer herniederflossen, den Myrthenkranz auf den dunkeln Locken, so führte die Mutter Helene in das Zimmer des Barons. Erich befand sich bereits bei ihm. Er sollte bald nach Helenens Hochzeit seine Reise antreten, und der Vater hatte gewünscht, die beiden Kinder, welche fast zu gleicher Zeit sein Haus verlassen sollten, noch einmal in besonderer Unterredung zu sprechen, ehe sie schieden.

Die Fenster des Gemaches waren geöffnet, die letzten Strahlen der Sonne fielen hinein. Ein starker Blumengeruch drang aus dem Garten empor, in den Blättern des Weinlaubes, das seine Ranken bis in die Fenster hineinbog, zwitscherten die Vögel. Sonst war Alles still, und die schöne Einfachheit, mit der das Zimmer ausgestattet war, gaben ihm in dieser Ruhe das Ansehen einer Kirche, während es zugleich einen würdigen Hintergrund bildete für die edle Gestalt seines Besitzers, der in schwarzer Kleidung, die Brust mit Ordenzeichen bedeckt, der Tochter entgegentrat, ihre beiden Hände erfaßte und sie schweigend eine Weile mit liebevollem Ernst betrachtete. Dann wendete er sich ab, umarmte ihre Mutter und auf die beiden Kinder zeigend sagte er: »Du hast mir treulich geholfen, sie so weit zu bringen, ich danke Dir!

Die Baronin umarmte ihn und küßte dann seine Hand, er ließ es ruhig geschehen. »Noch sind sie unser!« sprach er, »aber nur noch diese Stunde! Noch sind wir für sie verantwortlich! Welch ein Trost liegt darin, verantwortlich zu sein für die Menschen, die man liebt! Welch ein Trost, welch eine Erhebung! und ich darf es mir und Dir in dieser Stunde sagen, wir haben die Jugend unserer Kinder zu einer glücklichen gemacht. Nichts Unedles hat sie berührt, kein übles Beispiel ist ihnen gegeben worden. Mit edlem Namen, mit reiner Ehre und mit reinem Herzen entlassen wir sie bei ihrem Eintritt in die Welt.«

Die Mutter weinte, Helene war vor dem Vater niedergekniet, Erich ihrem Beispiele gefolgt. Da legte er seine Hände auf ihre Häupter, und mit bebender Stimme sagte er leise: »Sei das Gedächtniß an Eure Eltern Eure Schutzwehr gegen jedes Unrecht, und wo mein Auge Euch nicht mehr erreichen, meine Hand Euch nicht mehr leiten kann, da sei Gott mit Euch!«

Die Geschwister richteten sich empor, umarmten die Eltern, umarmten einander. Es war still im Zimmer und der Friede der äußeren Natur erhöhte die Feier dieses Augenblickes.

Als die Erschütterung ausgeklungen hatte, setzte sich der Baron auf seinen Divan und nöthigte die Anderen ebenfalls Platz zu nehmen. »Ihr werdet nun Beide in wenig Tagen in eine Welt gehen,« sagte er, »in der andere Ansichten, andere Begriffe, ja eine andere Ehre herrschen, als die, nach deren Grundsätzen ich Euch erzog. Der Ehrenbegriff der sogenannten großen Welt ist locker und dehnbar. Laßt ihn nie den Euren werden. Wortbruch, Treulosigkeit, Gesinnungslosigkeit, Leichtsinn, Coketterie, ja jeder Verrath lassen sich verbergen unter dem Deckmantel jener Gesellschaftsehre, jener Cavalierehre, die sich zur wahren Ehre eines Edelmannes verhält, wie der Paradedegen eines Hofmannes zu der festen Waffe, die unser Freund ist in der Stunde der Gefahr, wie fremdes Lob zu unserm eigenen Bewußtsein. Was Ihr nicht vertreten könntet hier vor mir zu jeder Stunde, das ist sündhaft und ehrlos, und wenn alle Welt das Gleiche thäte, und wenn alle Welt Euch darum lobte. Ich, der ich Euch erzog, der Euer Gewissen bildete, ich bin und bleibe Euer Richter, denn mir schuldet Ihr den Namen, den Ihr als Eure edelste Mitgift hinaus nehmt in das Leben, mir seid Ihr dafür verantwortlich. Erhaltet ihn rein, er ist der meine! Gebt mir die Hand darauf!«

Helene that es schweigend. Erich aber stand auf und seine Rechte in die des Vaters legend, sagte er: »Ich schwöre Dir, den Namen rein zu erhalten, der mein Stolz ist und den ich Dir als mein höchstes Gut verdanke! Ich schwöre Dir's!«

»So werden Deine Kinder einst Dich segnen, wie Dein Dank mich segnet!« entgegnete der Baron mit hoch erhobenem Haupte, umarmte seine Kinder nochmals, und hatte sie freigesprochen zur Wanderschaft in das Leben.

(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 19. Kapitel)

10 November 2020

Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 18. Kapitel: Helene und Graf St. Brezan

Helene hat sich von ihrer alten Amme die Karten legen lassen. Die verkündet ihr die nächste Nähe ihres Geliebten. Sie denkt an Friedrich. Als ein Wagen eintrifft, ist sie hocherfreut, geht ihm entgegen. Als sie aber den Grafen St. Brezan erkennt, fällt sie in Ohnmacht. Als sie wieder erwacht, bestürmt der sie mit Zärtlichkeiten und sie folgt ihm in seinen Wagen.

Wie sie in den Wagen gekommen war, was der Graf zu ihr auf dem Wege nach dem Schlosse gesprochen, was sie ihm geantwortet hatte, wußte Helene später sich selbst nicht mehr zu sagen. Der Umschwung ihrer Empfindungen war zu plötzlich gewesen, und keiner Ueberlegung, kaum ihrer Sinne mächtig, hatte sie sich willenlos der Zärtlichkeit des Grafen überlassen, dem sie selbst mit ihrem Worte das Recht zu derselben gegeben hatte. Aber jetzt erst, erst in diesem Augenblicke fing sie an zu ahnen, was sie damit gethan, zu ahnen, was es heiße, die Liebesbeweise eines ungeliebten Mannes zu ertragen, und dieser bittere Schmerz reifte in der kindlichen Jungfrau plötzlich das Bewußtsein des Weibes, ohne ihr die Kraft des Weibes zu geben, das selbsthandelnd keine Schwierigkeiten kennt, wo es gilt, sich vor Erniedrigung und Unwahrheit zu schützen.

Verzweiflung im Herzen langte sie auf dem Schlosse an, ohne daß Jemand bemerkte, was in ihrer Seele vorging. Der Graf hielt ihr Schweigen, ihr scheues Wesen, ihre Thränen für die Folgen ihrer Ueberraschung, für eine Schüchternheit, die ihn, den Weltmann, an seiner Braut entzückte. Die Baronin war erfreut, weil St. Brezan's persönliche Ankunft ihren Wünschen begegnete, auch Cornelie hielt es für die Ruhe ihrer Schwester förderlich, daß ihrer hoffnungsvollen Spannung ein Ziel gesetzt ward, und der herzliche Willkomm dieser beiden Frauen ließ den Grafen die Zurückhaltung des Vaters weniger empfinden. 

(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 18. Kapitel)

Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band 16./17. Kapitel: Baron Heidenbruck

 Der Baron, obschon ein aufgeklärter Mann, sah, wie das bei seinen politischen Ueberzeugungen natürlich war, die Familie stets als den Staat im Staate an und hatte es für Pflicht gehalten, in sich, als in dem Oberhaupte derselben, den Seinen ein Urbild strengster Pflichterfüllung aufzustellen. Orthodox in der Politik, aber ein Zögling der Encyklopädisten in Sachen der Religion, hatte er seine Kinder in einer Gleichgültigkeit gegen dieselbe erzogen, welche der Mutter stets schmerzlich gewesen war, ohne daß sie sich erlaubt hätte, den Ansichten ihres Mannes durch die eigene, abweichende Ueberzeugung entgegen zu treten. Ohne den Hinblick auf den Willen Gottes oder auf einen Lohn und eine Strafe in einem jenseitigen Leben, hatte der Vater den Kindern seinen Willen als einzige Autorität in geistigen und leiblichen Dingen hingestellt, und von ihrer ersten Kindheit ab ihnen einzuprägen gestrebt, daß es keine Einwendungen gegen den väterlichen Willen gäbe, daß Gehorsam, unbedingte, schweigende Unterwerfung unter den väterlichen Willen, die höchste Tugend eines Kindes sei.

Lag darin auf der einen Seite eine despotische Härte, so machten die Liebe des Barons für seine Kinder und die makellose Ehrenhaftigkeit seines ganzen Lebens, ihnen den Vater theuer und den Gehorsam gegen ihn in ihrer ersten Jugend leicht. Ein rücksichtsvoller, treuer Gatte, aufopfernd und vorsorglich für seine Kinder, ein gerechter Herr seiner Untergebenen, hülfreich mit Rath und That in weitem Kreise, gemeinsinnig und freundlich gegen den Geringsten, galt er, obschon man seinen Eigenschaften Gerechtigkeit angedeihen ließ, dennoch bei Allen, welche ihn nicht näher kannten, für schroff und stolz, weil jede seiner Handlungen den Stempel der selbstherrlichsten Willkür an sich trug. Dies Gefühl der Selbstherrlichkeit, das sich in seinem Hause geltend machte, gab sich aber auch nach allen anderen Seiten kund. Sich den bureaukratischen Anordnungen der Regierung zu fügen, konnte nur seine Ergebenheit gegen den König ihn vermögen, denn er sah sie meist als Eingriffe in seine Rechte, in seinen freien Willen an, und so kam es, daß er in seinem Verhältnisse als Landforstmeister ein unerbittlich strenger Beamter sein konnte, während er als Gutsbesitzer ein Gegner der Beamtenherrschaft war und sich fast beständig in kleinen Kämpfen gegen die Regierung befand.

(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band 16. Kapitel)


»So lange und so weit Menschen auf der Erde leben, erzeugten sie als die natürlichste Form ihres Zusammenlebens die Herrschaft eines Mannes über die Familie, wie über den Staat, und dies Verhältniß war und blieb überall fördersam, bis die Häupter sich des Vertrauens unwerth machten, das man in sie setzte. Das ist's ja gerade! Könnte eines unserer Kinder mir den Vorwurf machen, daß ich meine oder ihre Ehre, daß ich ihr Bestes nicht gewahrt habe, so würde ich in demselben Augenblicke auf das Recht verzichten, das ich jetzt auf ihr Vertrauen habe. So lange ich es aber noch verdiene, so lange darf und muß ich fordern, daß sie mir gehorchen. [...]

»Aber die Einsicht des Menschen kann sich ja ändern nach der Eidesleistung!« meinte die Baronin.

»Weil sie das kann, so sollte der Mensch nicht Herr werden seines Handelns in einem Alter, in dem er solchen Aenderungen seiner Ansichten noch unterworfen ist. Das ist der Sinn der Vormundschaft, und es ist Thorheit, daß die Gesetze sie für alle Menschen auf dasselbe Lebensalter ausdehnen. Der Unmündige ist unverantwortlich, ich stehe ein für jedes Thun meiner Kinder. Aber jeder Mensch, der Mann vor Allem, den das Gesetz mündig gesprochen hat, der muß sich selbst als reif erklären, indem er sich keine Aenderungen seines Sinnes mehr gestattet, indem er eisern fest hält an seinem Glauben, seiner Ehre, seinem Worte! 

(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band 17. Kapitel)

Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band 14. Kapitel: Der Doctor über Wandlungen

 »Abfall von seinem Glauben erhebt den Menschen nicht!« entgegnete Friedrich.

»Und woran bewährt sich der Charakter des Mannes, als in dem eisernen Festhalten dessen, was er einmal als Recht erkannt!« fügte Erich hinzu.

»Eisernes Festhalten an demjenigen, was man einmal als Recht erkannt hat,« wiederholte der Doctor, indem er das Wort ›einmal‹ stark betonte. »Das kann unter Verhältnissen Schwäche und Verbrechen werden, wenn man eines Besseren belehrt wird, denn wie die Blüthe abfällt, wenn die Frucht sich bildet, so muß man abfallen von seiner alten Ueberzeugung, wenn man eine neue bessere gewonnen hat!«

»Mit dieser Anschauung,« meinte Friedrich, »erheben Sie die Unbeständigkeit zur Tugend, rechtfertigen Sie eine beständige Wandlung der Ansichten, und die Inconsequenz wird höchste Consequenz!«

»Und Talleyrand zu einem Mustermenschen,« lachte Erich.

»Wären die Wandlungen, die man ihn durchmachen sah, eine Folge seiner inneren Ueberzeugungen gewesen,« antwortete der Doctor ernsthaft, »so hätte man ihrer nur lobend zu gedenken. Indeß machen Sie sich die Sache einmal klar. Wir Alle glauben an eine Fortentwickelung der Menschheit, Sie so gut als ich. Wie ist eine solche fortschreitende Entwickelung aber möglich innerhalb unwandelbar gezogener Schranken? Wie denken Sie sich die Fortentwickelung der Menschheit, ohne daß der Einzelne in sich die Wandlungen erlebt, aus denen allein eine fortschreitende Umgestaltung der allgemeinen Ansichten hervorgehen kann? Diejenigen Menschen, die in ihren ererbten und anerzogenen Meinungen unwandelbar geblieben sind, haben die Menschheit nicht gefördert, aber Jesus, der Jude, welcher die national-religiösen Satzungen des Judenthums zerstörte, um eine neue, die ganze Menschheit umfassende Lehre auf den Trümmern der alten zu bauen, Luther, der gläubige Catholik, der abfiel von seinem früheren Glauben und vom Papste, seinem Oberhaupte; Mirabeau, der Edelmann, der seine ererbten Ansichten als Vorurtheile von sich warf, und die Fahne seiner Standesgenossenschaft verließ, um gegen diese seine Standesgenossen und ihre volksbedrückenden Privilegien anzukämpfen, sie Alle sind abgefallen von ihrem Glauben, sie Alle haben Wandlungen erlitten, und diese Wandlungen sind um so auffallender gewesen, je bedeutender die Männer waren, an denen sie geschahen. Ja, ich behaupte, daß ein Mensch, der unwandelbar in seinen ererbten Meinungen oder in seinen einmal gefaßten Ansichten beharrt, vollkommen unfähig ist, der fortschreitenden Menschheit irgend wie zu nützen, und es giebt auch kaum einen Menschen, der sich solcher Unwandelbarkeit anzuklagen hätte. Wir Alle ändern uns! Je größer unsere Fähigkeit, um so sichtbarer unsere Wandlungen, und wenn wir uns nach zehn, nach fünfzehn Jahren einmal wieder sehen sollten, so wird, ich hoffe das zu unserm Besten, Jeder von uns seine großen Wandlungen erlitten haben, ohne daß wir uns deshalb des Verrathes an uns selbst und an unserer Ueberzeugung anzuklagen haben werden. Wir sind, ich sagte es Ihnen schon einmal, Theile eines lebendigen, sich stets verwandelnden, sich stets erneuenden Ganzen, es ist also unsere Aufgabe, uns mit offenen Sinnen, mit sittlichem Ernste der allgemeinen Bewegung zu überlassen, damit sie uns umgestalte nach ihrer Notwendigkeit, nicht uns abzusperren und uns ihr hindernd entgegenzustemmen, aus dem thörichten Glauben, daß es von Stärke zeuge, keine Wandlung in sich zu erfahren. Wollen Sie lebloser sein bei lebendigem Leibe, als Ihr Körper, der selbst nach Ihrem Tode noch lebenzeugende Wandlungen erleidet?«

Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band 14. Kapitel 

08 November 2020

Fanny Lewald: Wandlungen 2. Band 1. Kapitel

 "Noch war kein Jahr verflossen, seit die beiden ältesten Kinder des Barons aus dem Vaterhause geschieden waren, als auch in diesem der Tod sein Opfer gefordert hatte. Die Baronin war nach kurzem Krankenlager gestorben, und das sonst so heitere, gastliche Familienleben dadurch für immer zerstört worden. Bei der Unterordnung, in welcher der Baron selbst die von ihm innig geliebte Gattin zu halten gewohnt gewesen war, hatte er nie bemerkt, welch segensreichen Einfluß sie auf ihn ausgeübt, wie nöthig ihm ihre Milde gewesen, um die Starrheit seiner Grundsätze mit den Ansprüchen und Forderungen des Lebens zu vermitteln. Jetzt, da sie ihm entzogen war, empfand er es um so tiefer, je mehr die Wendung, welche die öffentlichen Zustände in Europa genommen hatten, seinen Ueberzeugungen widersprach.

Den französischen Julitagen waren die Revolution in Belgien und die Erhebung in Polen gefolgt, ganz Süddeutschland befand sich in lebhafter Gährung, das Hambacher Fest hatte es dargethan, wie verbreitet der Wunsch nach einer ständischen Vertretung, wie weit er eingedrungen sei in die arbeitenden Volksklassen. Die Namen Börne's, Siebenpfeifer's, Wirth's waren in jedem Munde und der Unparteiische konnte es sich nicht verbergen, daß es in Hambach nur an entschlossenen Führern gefehlt habe, um die dort versammelten Massen zu einem Unternehmen für die Befreiung Deutschlands von der absoluten Herrschaft zu bewegen. Auch in der Literatur gab sich eine neue frische Richtung kund. Börne, Heine, Wienbarg stachelten jeder auf seine Weise das erwachte Bewußtsein des Volkes zur Empfindung seiner Knechtschaft auf, andere Talente trugen den Gedanken der Freiheit in die gesellschaftlichen und in das Verhältniß der Geschlechter zu einander über, und forderten, wenn auch oft in mißverstandener Weise, die Wiedereinsetzung des Menschen in einen freieren Genuß der Erdenfreuden.

Man wollte nicht mehr entbehren und entsagen, man wollte besitzen und des Besitzes froh werden, man war es müde, in müssigem Weltschmerz darüber zu klagen, daß die Wirklichkeit dem Ideale Hohn sprach, man wollte sie idealischer gestalten, aber man hatte kein allgemeines, kein sittliches Ideal, und Jeder versuchte sich seine Grillen oder Leidenschaften zum Ideale zu erheben. Die Literatur der Selbstbespiegelung und mit ihr der Selbstverschönerung begann. Neben der tiefsten und reinsten Poesie machte der Cynismus sich in ekelerregender Weise breit und verlangte Anbetung vom Volke, weil er individuell und das Recht der Individualität nicht länger zu bestreiten sei. Tagebücher, Reiseskizzen und eine große Anzahl phantastischer Productionen überraschten und verwirrten das Publikum, fesselten die Einen verlockend und zur Nachahmung reizend, stießen die Anderen eben so lebhaft ab, und wie immer in solchen Epochen, bemächtigte sich die Menge der technischen Phrase, um sie, verstanden oder nicht, fanatisch als Parteiwort zu gebrauchen. Während es sich darum handelte, den Geist zu befreien, schwor man auf die Emancipation des Fleisches oder kämpfte wider sie, vergessend, daß der Absolutismus dem Sinnengenusse immer volle Freiheit gewährt hatte, daß die orthodoxeste Hierarchie, der Katholicismus, sich leicht mit ihm verständigte, und daß es nur die Emancipation der Geister war, gegen die man mit Censur und Waffen aller Art zu Felde zog.

Auch that die Lehre von der Emancipation des Fleisches und die Leichtfertigkeit, mit denen man sinnliche Ausschweifungen als Gegenstände der Verherrlichung behandelte, im Grunde wenig Schaden. Sie gaben den träge gewordenen Gemüthern einen Anstoß und wirkten fast das Gegentheil von dem, was man gefürchtet hatte. Der Deutsche besitzt im Allgemeinen nicht den Esprit, der im Franzosen die Frivolität erzeugt. Die Sinnlichkeit schlägt bei ihm in Rohheit oder in Sentimentalität um, und endet meist in Verthierung oder in Askese. Mochten Menschen wie Larssen sich auch behaglich dehnen in der Nebelsonne dieser falschen Aufklärung, mochte der Trotz des Lieutenants Alles mit Leidenschaft ergreifen, was sich gegen die bestehende Ordnung richtete, so schuf es in solchen Naturen doch nichts Neues. Wo aber Jugend und Unschuld mit diesen Lehren in Berührung kamen, da entstand höchstens ein Rausch, von dem der Ernst des Lebens sie bald wieder ernüchterte und zur Besinnung brachte.

Neben diesen zum Lebensgenusse ladenden Elementen, mahnte aber jene Zeit auch vielfach an den Ernst des Daseins und an die Vergänglichkeit des Irdischen. Das Schicksal der zum zweiten Male gestürzten französischen Dynastie, die Leiden und die Verbannung, welche die Mehrzahl des polnischen Adels getroffen hatten, von dem Viele durch Preußen geflohen waren, während Andere dort in tiefer Zurückgezogenheit lebten, trauernd um den Tod der Ihrigen und Stärkung suchend in der Religion, das Alles, und endlich das Hereinbrechen der Cholera mit ihrem furchtbaren memento mori, war ganz dazu gemacht, ernste Gemüther grade im Gegensatze zu der neuen Schule der Genußfordernden in eine dem Genuß entsagende Richtung zu treiben."

(Fanny Lewald: Wandlungen 2. Band 1. Kapitel)


Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 5. Kapitel: Ein Gespräch über Goethes Romane

Fanny Lewald: Wandlungen Roman in 4 Bänden, 1853,  [Digitalisat]
Romantext bei projekt-gutenberg.org (Navigation innerhalb des Romans über "Inhalt" (Link sieh: links oben)


»Ein Graf St. Brezan, ein französischer Gesandtschaftsrath, der eine Mission nach Petersburg hat. Er hat meinen kleinen Vetter von Lissabon mit hieher gebracht.«

Graf St. Brezan mochte ein Mann von vierzig Jahren sein, obschon seine schlanke Gestalt, die Leichtigkeit seiner Bewegungen und die sorgsame Wahl seiner einfachen Kleidung ihn jünger erscheinen ließen. Sein dunkelbraunes, reiches Haar, die schönen Hände, das scharf geschnittene Profil gaben ihm ein Recht, noch immer für einen schönen Mann zu gelten, aber ein Ausdruck hochmüthiger Zurückhaltung mußte sein Aeußeres für Jeden unangenehm machen, dem er Freundlichkeit zu zeigen nicht für nöthig erachtete. So kam es, daß die Einen ihn schön und anziehend, die Anderen ihn unschön und abstoßend nannten, daß er die Männer leicht verletzte, die Frauen leicht gewann.

Mit dem Takte des Weltmannes hatte er die Bemerkung der Baronin verstanden. Er nahm an, daß sie um irgend eines Grundes willen Rücksicht auf Friedrich und auf den Doctor zu nehmen habe, und war augenblicklich bereit, die ihm befreundeten Standesgenossen in ihren Absichten und Plänen nach seinen besten Kräften zu unterstützen.

Mit einer geschickten und ganz unmerklichen Wendung brachte er das Gespräch von den deutschen Studenten auf die deutsche Literatur, auf ein Feld, in dem alle Anwesenden, selbst Erich und Friedrich, ihm überlegen sein mußten. Er wußte, wie leicht man Jemand gewinnen kann, der sich uns gegenüber behaglich und als der Gebende empfindet. Für den Grafen beschränkte sich die deutsche Literatur auf Klopstock, Schiller und Goethe. Das Klopstock'sche Deutsch war ihm, wie er offen gestand, vollkommen unverständlich und Klopstock's religiöse' Anschauung dem Verehrer Voltaire's fremd. Schiller, den der Convent würdig geachtet, ein Mitglied der französischen Republik zu sein, hatte von jeher schon um dieses Grundes willen das Mißtrauen des Grafen erregt, und der rücksichtslose Idealismus des Dichters, der über alle Convenienz hinaus den Gedanken freier Menschlichkeit geltend machen wollte, mußte ihm als eine unpraktische Schwärmerei erscheinen, deren Einfluß auf die Jugend er für gefährlich hielt. Goethe allein von allen deutschen Dichtern war ihm ein Gegenstand der Hochachtung.

Mit einer ihm seltenen Wärme pries der Graf den greisen Dichterfürsten als den Dichter der Wirklichkeit, der die Wahrheit und die Schönheit nicht jenseits der Grenzen der Vernunft erblicke. »Was ihn so erhaben macht und was zugleich so wohlthuend, so beruhigend in seinen Schriften wirkt,« sagte er, »das ist die Klarheit, mit der er ›die Welt wie sie ist‹ betrachtet, das richtige Licht, das er über die Gesetze der Gesellschaft verbreitet, in der für Jeden der Platz vorhanden ist, den er einnehmen kann, wenn er eben nur den begehrt, den er auszufüllen bestimmt ist. Er ist der Dichter des Friedens und der Versöhnung, und es ist zweifellos, daß Sie die Weisheit Ihres größten Dichters den wüsten Erfahrungen verdanken, welche unsere unglückliche Revolution ihn machen ließ.«

Trotz der ächt französischen Schlußfolgerung des Grafen, machte sein Lob Goethe's einen guten Eindruck auf den Baron, dessen Anschauungsweise in Betreff der Goethe'schen Werke nahe mit der des Grafen zusammentraf. Er stimmte ihm vollkommen bei, und erklärte, daß der Werther, der Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften für alle Zeiten Musterromane bleiben und vielleicht niemals ihres Gleichen finden würden.

»Für alle Zeiten?« wiederholte der Doctor im Tone des Zweifels, »es giebt Nichts in der Welt, das für alle Zeiten dasselbe wäre!« Diese Worte wurden mit jener Ruhe gesprochen, welche einen Hauptcharakterzug des Doctors machte, dennoch wirkten sie auf Friedrich wie ein Signal zur Befreiung, wie ein Aufruf zu einem Kampfe, an dem Theil zu nehmen er trotz seines Verlangens sich nicht befugt geglaubt hatte.

»Also leugnen Sie, daß es in der Kunst ein Absolutes giebt?« fragte der Baron.

»Unbedenklich!« entgegnete der Doctor. »Das wirklich Große, das, was in seiner Zeit allen Ansprüchen derselben genügte, was ihren ganzen geistigen Gehalt in sich zur Anschauung brachte, das wird, sei es nun ein Werk der Malerei, der Bildhauerkunst oder der Dichtung, für alle Zeiten eine Bedeutung behalten; wir werden darauf fortbauen, es wird maßgebend, lehrreich, begeisternd für uns bleiben, aber ein unbedingtes Muster, das ewig und allein Berechtigte kann es nicht sein. Das hieße den Fortschritt der Menschheit leugnen!«

Der Baron, der den Doctor sehr verehrte, schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann sagte er: »Ich wäre begierig, den Dichter zu kennen, der einst über Goethe hinausgehen wird. Wir werden Muße haben, denke ich, uns an Goethe's Werken zu erfreuen, ehe er sich findet!«

»Er kann sich aber finden,« meinte Friedrich, »wenn die Menschheit im Allgemeinen freier geworden sein wird, als sie es war, da Goethe seine großen Werke schuf!« Diese lebhafte, jugendliche Behauptung stach so auffallend gegen Friedrich's bisherige Zurückhaltung ab, daß die Anderen ihn mit Erstaunen anblickten, während der Doctor ihm zustimmend mit dem Kopfe winkte. 

Dadurch ermuthigt und von seinen Empfindungen hingerissen, fuhr er fort: »Bei aller Wahrheit des Werthers, des Meisters, der Wahlverwandtschaften, deren ganze Tiefe ich wohl nicht einmal ermessen kann, weil mir die Kenntniß der Gesellschaft fehlt, in der sie sich bewegen, sind sie doch eben nur das Bild dieses Theils der Gesellschaft, einer Welt der Ausschließlichkeit, ihrer Leiden und Freuden, und« – – fügte er plötzlich stockend, dann aber sich mit einer scheuen Hast zum Sprechen zwingend hinzu – »und es giebt noch eine andere Welt hienieden außer dieser Einen!« –

Friedrich litt von seinen eigenen Worten, während er sie sprach, und doch vermochte er sie nicht zurückzudrängen. Er empfand es, daß er plötzlich der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden sei, und diese Beachtung machte ihn verlegen. Die engen Verhältnisse, in denen er erwachsen war, hatten ihn vor Zersplitterung seiner geistigen Kräfte bewahrt, seinen Gedanken Zeit und Ruhe gegeben, sich aus stiller Tiefe auszubreiten, ruhig fortzuschreiten von Schluß zu Schluß, bis er zu jenen Blicken und Zweifeln gekommen war, die ihn das Unhaltbare der bestehenden staatlichen und geselligen Zustände im Gegensatze zu den natürlichen, berechtigten Forderungen des Menschen ahnen ließen. Jetzt indessen, da er auf dem Punkte stand, diese Ueberzeugung in einem Kreise auszusprechen, dessen Vorrechte sie antastete, erschrak er vor dem Unternehmen. Die anerzogene Ehrerbietung vor den Reichen, den Vornehmen lähmte ihn. Eine dunkle Röthe flog über sein Gesicht, aber es war nicht Scham, welche sie hervorgerufen, sondern der Zorn gegen sich selbst, der Zorn gegen die Verhältnisse, welche ihm eine solche sklavische Befangenheit eingeimpft hatten.

Der Doctor errieth den Zustand, in welchem sich Friedrich befand, und kam ihm theilnehmend zu Hülfe. »Sie haben Recht, Herr Brand!« sagte er, »die Goethe'schen Romane haben darin ihre Schranke, daß sie mehr oder weniger auf die Abstraction vom Leben, auf den schönen Schein des Lebens gearbeitet sind. Sie verhalten sich zur Wirklichkeit, wie die griechischen Götterbilder zur menschlichen Gestalt, wie Rafael's typische Menschengestalten zum individuellen Portrait.«

»Sie werden aber zugeben, lieber Doctor,« fiel ihm der Baron in das Wort, »daß diese Behandlungsweise der Wirklichkeit die edelste und angemessenste, die eigentlich klassische ist, wie ja auch Ihre Hindeutung auf die Antike und auf Rafael dies schon zugiebt.«

»Für eine bestimmte Klasse von Romanen,« entgegnete der Doctor, »ist, oder war vielmehr, jene Darstellungsart nicht nur die berechtigte, sondern die geforderte; für den Roman der Bildungsleiden der bevorzugten Stände, um die sich das Interesse jener Zeit fast ausschließlich bewegte. Die Darstellungsweise der Goethe'schen Romane ist ganz und gar aristokratisch, und sie wird unmöglich, sobald man sich von den Leiden und Freuden des Wohlhabenden, des bevorzugten Menschen, zur Bildungsgeschichte der Menschen im Allgemeinen wendet, wie sie sich in den verschiedenen Persönlichkeiten der Stände darstellt, welche noch andere als Seelenkämpfe zu bestehen haben.«

»Aber glauben Sie, Herr Doctor!« fragte der Graf, »daß jene Kämpfe der niederen Stände um ihr äußeres Dasein, daß jene alltäglichen Miseren überhaupt eine poetische Behandlung zulassen, die sich über die Art der skizzenhaften Beleuchtung erheben könnte? Was können die Leiden eines armen Handwerkers, einer kleinen Näherin, die mit der harten Wirklichkeit um ihr täglich Brot zu ringen haben, für eine große, poetische Bedeutung bieten? Goethe hat das wohl gefühlt, und deshalb, dünkt mich, die Behandlung von Motiven vermieden, welche einer Idealisirung, wie die Kunst sie erheischt, nicht fähig waren. Im Kampfe um das tägliche Leben liegt keine Schönheit, keine Poesie.«

Ein Blick des Zornes leuchtete in Friedrich's Augen, und mit fester Stimme sagte er: »Die vornehme Welt, in der die Goethe'schen Romane sich bewegen, weiß freilich von der Sorge um das tägliche Brot noch weniger, als die leichtlebenden Götter Homer's, die denn doch das mühselige Ringen des Erdgebornen wenigstens ihrer Theilnahme nicht für unwerth hielten.«

Und während er das sprach, begegneten sich die Blicke des Studenten und des Grafen mit einem Ausdruck der Abneigung, welche diese beiden durch ihr Alter und ihre Stellung so weit getrennten Männer, seit dem ersten Augenblicke gegen einander empfunden hatten. Es war etwas Unvereinbares zwischen Friedrich's unterdrücktem Selbstgefühl und dem scharf hervortretenden Hochmuthe des Grafen, und der sichtliche Antheil, den die Baronin und ihre Töchter, trotz ihres Schweigens, an dem Jünglinge zu nehmen begannen, trug nicht dazu bei, den Grafen gegen den Freimuth desselben, den er als eine unberechtigte Anmaßung tadelte, milder zu stimmen.

Und wieder war es der Doctor, der die Vermittlung zwischen Friedrich's Worten und den Ansichten des Grafen übernahm. »Ich glaube, Ihr Irrthum, Herr Graf,« sagte er, »besteht darin, daß Sie übersehen, wie die Stimmung und das Interesse unserer Zeit sich gerade den Leiden der Stände zuzuwenden beginnt, welche Sie von demselben ausgeschlossen glauben. Damit aber ist die Aufgabe und die Bedeutung des Romanes eine wesentlich verschiedene geworden. Sobald der Roman sich aus dem Bereich des befriedigten Bedürfnisses in den Bereich des zu befriedigenden wendet, wird der Roman des schönen Scheins, die typische Behandlung desselben, zu einer Unmöglichkeit, der Roman der harten Wirklichkeit und der scharfen Individualisirung zur Nothwendigkeit.«

»Es ist etwas Wahres darin,« pflichtete die Baronin, welche bis dahin eine stumme Zuhörerin geblieben war, dem Doctor bei, »denn wir sehen in den Goethe'schen Compositionen, wie sehr er es vermieden hat, das Bedürfniß an seine Helden und Figuren herantreten zu lassen, um die reine Atmosphäre vornehmer Ruhe zu erhalten, in der sich Alles und Jeder bewegt.«

»Das kannst Du nicht sagen,« wendete der Baron ein. »Du findest den Architekten, Du findest Gärtner, Bauern, Schauspieler, den Harfner und viele andere Gestalten in den Dichtungen, denen die Sorge um des Lebens Nothdurft nicht fremd geblieben sein kann!«

»Aber bei allen diesen Menschen ist das Bedürfniß in dem Augenblicke, in dem wir sie vor uns handelnd erblicken, befriedigt, lieber Vater!« bemerkte Erich, der sich zu den Ansichten des Doctors und seines neuen Freundes neigte.

»Doch nicht bei den Schauspielern und dem Harfner,« wendete der Baron ein.

»Gewiß nicht!« sagte der Doctor, »aber gerade aus der Wahl dieser Gestalten können Sie sehen, wie Goethe es zu vermeiden wußte, die Noth bitter erscheinen zu lassen. Jene Architekten, Bauern, Gärtner, deren Sie erwähnten, sind, wie Erich richtig bemerkte, Alle wohlversorgt im Dienste großer Herren; der Harfner ist ein Geisteskranker, der stumpf geworden ist gegen die äußere Noth des Lebens, und die Schauspieler wissen sich durch Schuldenmachen und Nichtbezahlen vor eigentlichem Mangel zu schützen. So tief Goethe als Mensch für die Noth seiner Mitmenschen empfand, so sehr er in seinem Amte als Minister ihr stets abzuhelfen suchte, so entschieden hat er die Welt der Dichtkunst in der Welt der satten Bildung gesucht, und darin liegt sein Zusammenhang mit der romantischen Schule, die Anschauung, welche ihn in gewissem Sinne von den Bestrebungen der Nachwelt trennen könnte.«

Der Baron gab das, wenn auch mit Bedingungen zu, und die Baronin, welche stets einen ausgleichenden und versöhnenden Abschluß der Unterhaltung herbeizuführen liebte, sagte: »Was Sie auch gegen die Goethe'schen Schöpfungen, als Musterromane, einzuwenden haben, so werden sie dieselben doch als ewige Vorbilder eines klassischen Styls stehen lassen müssen.«

»Unbedenklich!« rief der Graf; und der Doctor sagte: »Dieser abstracte klassische Styl wird aber für den Roman eine Unmöglichkeit werden, wenn wir anfangen, das allgemeine Leben zum Vorwurf des Romans zu benutzen. Die Harmonie des gleichmäßigen Styls, der hochgebildeten Sprechweise, wie wir ihr in allen Figuren Goethe's begegnen, hört auf, sobald der Ungebildete in den Kreis der Dichtung gezogen wird.«

»Dadurch wird der Styl also buntscheckig werden,« meinte der Baron, »und einen untergeordneten Ton annehmen müssen.«

»Ja und nein!« sagte der Doctor. »Die Wirklichkeit hat gegen das Ideal anscheinend oft etwas Untergeordnetes, die Sprechweise des Arbeiters, der Bürgersfrau etwas Unschönes, wenn wir sie mit der glatten, durch keine persönliche Unart unterbrochenen Schönheit des Goethe'schen Styls vergleichen, und doch wird man diesen nicht überall anwenden, jene nicht entbehren können; aber ein strenges Maßhalten wird die Buntscheckigkeit und Kleinlichkeit, die Sie fürchten, leicht vermeiden lassen. Faßt der Dichter die Menschen mit jener großen Anschauung auf, mit welcher die Rafael, Tizian, Van Dyk, Murillo ihre Portraits erschufen, so wird das Bild jedes Menschen eine ewige Wahrheit und selbst das scheinbar Unbedeutende, Unschöne bedeutend und erfreulich; während das tägliche Leben uns überall Karikaturen bieten würde, wenn man kleinlich jede Art und Unart, jedes Fleckchen und jede Warze der Originale festzuhalten suchte.«

»Diese Dinge zugegeben,« meinte der Baron, »so wird aber Ihr humaner Roman der Zukunft eine maßlose Ausdehnung haben müssen, wenn er alle Stände in seinen Bereich ziehen will, und wir werden wieder zwölfbändige Werke wie die alten englischen erleben, wenn Sie sie nicht in zwei bestimmte Klassen, in aristokratische und Volksromane scheiden wollen.«

»Was sicher nothwendig sein wird, wenn sie haltbar und in sich abgeschlossen, das heißt ein Kunstwerk sein sollen,« fügte der Graf hinzu.

»Keinesweges!« meinte der Doctor. »Im Roman eine Trennung der Stände aufstellen, die im Leben immer mehr und mehr zu verbannen unser Bestreben ist, wäre kein richtiger Grundsatz, und die Länge eines Romans wird durch das Zusammenwirken der Stände so wenig bedingt, als seine künstlerische Einheit dadurch gehindert. Beschäftigt sich der Roman, wie es seine Aufgabe ist, mit der psychologischen Entwickelung einzelner Charaktere, so ist dem Zufall jeder Spielraum in demselben genommen. Er ist bedingt durch den Charakter der Helden, und mögen dann auch, wie im Leben selbst, Personen der verschiedensten Klassen an den Helden herantreten und zu seiner Bildung mitwirken, mag er sich in den entgegengesetztesten Sphären bewegen, dem Roman wird in dem Raume eines solchen Bildungsprocesses immer eine Schranke gesetzt sei, die ihn vor übermäßiger Länge bewahrt. Beschäftigt der Roman sich aber mit Vorgängen, macht er die Entwickelung spannender Ereignisse zu seiner Hauptaufgabe, so sinkt er zur Erzählung herab, hat keine innere Nothwendigkeit und kann so unermeßbar werden, als die Möglichkeit der Ereignisse selbst.«

(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 5. Kapitel)


Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 1. - 6. Kapitel

 "Wie die Söhne aller Stände sich unter dem Schutze der alma mater zu einer Corporation zusammenfanden, so begegneten sich Kaufmannschaft, Adel, Militair, Beamte und Handwerker in den Gartenconzerten sowohl als auf den Bällen der Studenten, und die Universität trug auf diese Weise zur Ausgleichung der Standesunterschiede bei, während sich hinwieder das Leben in den verschiedenen Familienkreisen für die Gesittung der Studirenden förderlich bewies. Der Geist der Stadt war aufgeklärt und duldsam. Man hob es gern hervor, daß die kritische Philosophie von hier ihren neuen Aufschwung genommen habe, und von jener kirchlichen, mystischen Richtung, welche später in ganz Deutschland so bedenklich um sich griff, war zu Ende der zwanziger Jahre in dem Orte wenig zu bemerken, der als Handels- und Hafenstadt das Gepräge eines gesunden, tüchtigen Wesens an sich trug. [...]

»Der Heidenbruck ist famos,« meinte in einem Kreise von Litthauern ein schlanker, blonder Student, dessen scharfe Aussprache den Kurländer verrieth. »Er ist ein flotter Tänzer, fest auf der Mensur, ein hübscher Kerl und er hat Geld. Der Brand hingegen – –« »Was hast Du gegen Brand, Ruthenberg?« unterbrach ihn ein Borusse, der die letzten Worte vorübergehend gehört hatte, und stille stand, die Sache aufzunehmen. Ruthenberg hätte einlenken mögen, denn er hatte im Grunde Nichts gegen den Genannten einzuwenden, als daß er einer Partei angehörte, mit der die Litthauer eben erst behufs der Bälle Frieden geschlossen hatten. Indeß der Gedanke, man könne ihm dies Einlenken für Feigheit auslegen, machte ihn trotzig. Mit allem Hochmuthe eines kurländischen Grafensohnes warf er also die Oberlippe unter dem blonden Schnurrbart in die Höhe, und sagte trocken: »Was ich gegen ihn habe? Er gefällt mir nicht!« Kaum aber hatte er die Worte ausgesprochen, als er sie bereute, denn der Borusse sowohl als seine eigene Partei empfanden es übel und wendeten sich mit Heftigkeit gegen ihn. Die Ausdrücke ihres Mißfallens wurden nicht sorgfältig gewählt, der Zorn der Jugend ist rückhaltlos, jeden Augenblick konnte es zu einem Duelle kommen, das der Senior grade jetzt zu vermeiden wünschte; er selbst also nahm lebhaft Partei für den mit großer Stimmenmehrheit erwählten Brand, und fragte gegen den Borussen gewendet: »Glaubst Du, daß Brand die Wahl annehmen wird?« »Warum zweifelst Du daran?« fragte Jener immer noch gereizt. »Weil er Ostern das Examen machen will!« »Heidenbruck will das auch!« entgegnete der Borusse. »Ja!« sagte der Senior, »aber fällt der durch, so fällt er in seines Alten Geld- und Kornsäcke; Brand – –« »Steht im Examen fest wie auf der Mensur, das solltest Du wissen!« fiel ihm Jener in's Wort, und wieder hing eine Forderung in der Luft, als ein Student, bedeutend älter als die Uebrigen, der bisher theilnahmlos auf- und abgegangen war, an den Kreis herantrat. Er zog eine große silberne Uhr aus der Tasche, hielt sie den Andern vor und sagte mit einer starken, aber heisern Stimme: »Wie wäre es, wenn Ihr Brand sein Examen selbst überließet und wir Mittag essen gingen, lieben Söhne! Es ist spät! Schon acht und eine halbe Minute über Eins!« Larssen's Vorliebe für behaglichen Tischgenuß, wie seine zum Gespött gewordene Pünktlichkeit bei demselben, die mit der Unregelmäßigkeit seines übrigen Lebens in grellem Widerspruche stand, rief auch jetzt wieder ein so lautes Gelächter unter den Studenten hervor, daß man des Streites in der Heiterkeit vergaß. [...] 

Larssen war drei Jahre auf der Universität, als sein Vater durch unglückliche Speculation sein Vermögen verlor. Beide Eltern überlebten dies Unglück nur eine kurze Zeit, und der Sohn sah sich plötzlich auf sich selbst gewiesen. Für eine energische Natur wäre der Druck der Verhältnisse eine Triebkraft gewesen, um so schneller und höher zu steigen; nicht so für ihn. Er wollte dem Menschenkreise entgehen, der ihn beklagen konnte, er wollte sich den drohenden, augenblicklichen Entbehrungen entziehen, und eine Hauslehrerstelle in einer adligen Familie, die ein Freund derselben ihm anbot, schien ihm dazu der geeigneteste Ausweg. Betroffen von dem Vertrauen seines Freundes, das nicht zu verdienen er sich bewußt war, hatte Larssen es als eine Ehrensache angesehen, seine Verpflichtungen im Hause des Baron von Heidenbruck mit höchster Pünktlichkeit zu erfüllen. Der älteste Sohn des Barons, Erich, den man eben jetzt zum Entrepreneur der Bälle ernannt hatte, war damals bereits in einem Erziehungsinstitute, und nur Georg noch im Hause gewesen, der bald darauf einem Cadettenhause übergeben worden war. Larssen hatte also nur den wissenschaftlichen Unterricht der Töchter zu besorgen gehabt, der ihn wenige Stunden des Tages beschäftigte. Die ganze übrige Zeit hatte er sich selbst und seinen Neigungen gelebt, die in dem hochgebildeten, gastfreien Hause mit denen der Besitzer glücklich genug zusammenfielen. Seine literarische Bildung, feine guten Umgangsformen, sein Geist und seine Anspruchslosigkeit, seine Theilnahme für jeden Vorgang des menschlichen Lebens, hatten ihn dem Baron und seiner Gattin zu einem angenehmen Hausgenossen gemacht, dem man jede Bequemlichkeit bereitwillig gewährte und manche Unregelmäßigkeit der Sitten verzieh. Fünf Jahre waren für Larssen in diesen Verhältnissen unter dauerndem Wohlbehagen dahingeschwunden, als die Ernennung zum Landforstmeister den Baron nach Königsberg berief, wo man des Hauslehrers für die Töchter nicht mehr benöthigt war. Wohlmeinend drang man in ihn, sich einem Examen zu unterwerfen, der Baron erbot sich, ihm beim Beginne jeder zu erwählenden Laufbahn mit seinem Einflusse förderlich zu sein; Larssen konnte zu keinem Entschlusse kommen. Seine Lässigkeit war in den fünf Jahren des Wohllebens, bei den Studien, die er als Dilettant betrieb, gewachsen, und obschon er dabei dem erstrebten Ziele einer universellen Bildung näher gekommen war, als er selbst es wußte, hatte er alle Kraft verloren, seine Kenntnisse fleißig zum eigenen Besten zu verwerthen." (Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 1. Kapitel)

Larssen über die Töchter Heidenbruck:

»Es sind sonderbar geartete Naturen, diese Mädchen. Beide idealistisch, Beide dem Gewöhnlichen feind, Helene aus Liebebedürfniß, Cornelie aus Verstand und Herzensgüte. Helenens Phantasie trägt sie weit hinaus über die Beengung des conventionellen Lebens, in dem sie erwachsen ist. Sie glaubt an ein Ideal von Liebesglück und möchte dies erreichen, während Cornelie von Kindheit an sich skeptisch verhalten hat gegen Alles, was sie umgab, und von geläuterten Weltzuständen phantasirte, in denen es keine Noth und kein Elend geben sollte. Helene wollte immer einen Feenprinzen heirathen und überirdisch glücklich werden, Cornelie eine Fee sein und alle Armen glücklich machen. Ich habe viel Noth mit ihnen gehabt, bis ich sie zur Wirklichkeit gewöhnte.« »Und ist Dir das gelungen?« fragte Friedrich mit reger Theilnahme. »Allerdings! Es steckt zwar in Beiden noch die eigene Richtung, die ja dem Menschen angeboren ist wie sein Blut und seine Haut, aber sie haben gelernt sich in die Welt zu fügen und vom Leben keine Ideale zu verlangen. Es sind eben vernünftige Frauenzimmer geworden, und die kluge Mutter wird für sie auch die richtigen Lebenswege bahnen. Ich sehe das im Werden!« (1. Band, 5. Kapitel)

Da kam die treue, so oft verspottete Gefährtin unseres Lebens, die Gewohnheit, ihm zu Hülfe. Der Schlag der Thurmuhr schreckte ihn erlösend aus seiner Verzagtheit empor. [...]

Die Jugend hat das Vorrecht, an die Erfüllung ihrer idealen Wünsche zu glauben, darin liegt ihre Kraft und ihr Glück, und wer ein Ideal im Herzen trägt, nach dessen Erlangung er trachtet, hat an demselben einen mächtigen Bundesgenossen gewonnen. [...]

Helene antwortete nicht gleich. Erst nach einer langen Pause sagte sie: »Er selbst, Friedrich, muß der Dichter werden, der das Volk schildert in seiner Schönheit! Wer hat je mit dieser Einfachheit von seinem Leben, mit solcher Liebe von seinen Entbehrungen, mit solcher Schönheit von Schmerz und Leid zu uns gesprochen, als er? Es ist mir überhaupt, als hätte ich heute zum ersten Mal erfahren, wie Menschen zu einander reden sollten, und was es heißt mit einem Menschen sprechen!« [...] 

Ruhiger, als die nur mit dem Herzen lebende Helene, sah Cornelie, mit Angst der Schwester plötzlich auflodernde Liebe für Friedrich, und suchte sie durch den Hinweis auf das arme Mädchen zu zerstreuen. Als aber Helene ihr Lager gesucht hatte, da kniete Cornelie neben demselben nieder, faßte die Hände der Schwester und sagte, das Gesicht an ihre Wange geschmiegt: »Sprich vor Niemand, vor Niemand, Helene! wie Du vorhin zu mir gesprochen hast, und bete um Selbstüberwindung, denn es wäre ein Unglück, hättest Du sie nicht!« (1. Band, 6.Kapitel)