Helene hat sich von ihrer alten Amme die Karten legen lassen. Die verkündet ihr die nächste Nähe ihres Geliebten. Sie denkt an Friedrich. Als ein Wagen eintrifft, ist sie hocherfreut, geht ihm entgegen. Als sie aber den Grafen St. Brezan erkennt, fällt sie in Ohnmacht. Als sie wieder erwacht, bestürmt der sie mit Zärtlichkeiten und sie folgt ihm in seinen Wagen.
Wie sie in den Wagen gekommen war, was der Graf zu ihr auf dem Wege nach dem Schlosse gesprochen, was sie ihm geantwortet hatte, wußte Helene später sich selbst nicht mehr zu sagen. Der Umschwung ihrer Empfindungen war zu plötzlich gewesen, und keiner Ueberlegung, kaum ihrer Sinne mächtig, hatte sie sich willenlos der Zärtlichkeit des Grafen überlassen, dem sie selbst mit ihrem Worte das Recht zu derselben gegeben hatte. Aber jetzt erst, erst in diesem Augenblicke fing sie an zu ahnen, was sie damit gethan, zu ahnen, was es heiße, die Liebesbeweise eines ungeliebten Mannes zu ertragen, und dieser bittere Schmerz reifte in der kindlichen Jungfrau plötzlich das Bewußtsein des Weibes, ohne ihr die Kraft des Weibes zu geben, das selbsthandelnd keine Schwierigkeiten kennt, wo es gilt, sich vor Erniedrigung und Unwahrheit zu schützen.
Verzweiflung im Herzen langte sie auf dem Schlosse an, ohne daß Jemand bemerkte, was in ihrer Seele vorging. Der Graf hielt ihr Schweigen, ihr scheues Wesen, ihre Thränen für die Folgen ihrer Ueberraschung, für eine Schüchternheit, die ihn, den Weltmann, an seiner Braut entzückte. Die Baronin war erfreut, weil St. Brezan's persönliche Ankunft ihren Wünschen begegnete, auch Cornelie hielt es für die Ruhe ihrer Schwester förderlich, daß ihrer hoffnungsvollen Spannung ein Ziel gesetzt ward, und der herzliche Willkomm dieser beiden Frauen ließ den Grafen die Zurückhaltung des Vaters weniger empfinden.
(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 18. Kapitel)
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