»Abfall von seinem Glauben erhebt den Menschen nicht!« entgegnete Friedrich.
»Und woran bewährt sich der Charakter des Mannes, als in dem eisernen Festhalten dessen, was er einmal als Recht erkannt!« fügte Erich hinzu.
»Eisernes Festhalten an demjenigen, was man einmal als Recht erkannt hat,« wiederholte der Doctor, indem er das Wort ›einmal‹ stark betonte. »Das kann unter Verhältnissen Schwäche und Verbrechen werden, wenn man eines Besseren belehrt wird, denn wie die Blüthe abfällt, wenn die Frucht sich bildet, so muß man abfallen von seiner alten Ueberzeugung, wenn man eine neue bessere gewonnen hat!«
»Mit dieser Anschauung,« meinte Friedrich, »erheben Sie die Unbeständigkeit zur Tugend, rechtfertigen Sie eine beständige Wandlung der Ansichten, und die Inconsequenz wird höchste Consequenz!«
»Und Talleyrand zu einem Mustermenschen,« lachte Erich.
»Wären die Wandlungen, die man ihn durchmachen sah, eine Folge seiner inneren Ueberzeugungen gewesen,« antwortete der Doctor ernsthaft, »so hätte man ihrer nur lobend zu gedenken. Indeß machen Sie sich die Sache einmal klar. Wir Alle glauben an eine Fortentwickelung der Menschheit, Sie so gut als ich. Wie ist eine solche fortschreitende Entwickelung aber möglich innerhalb unwandelbar gezogener Schranken? Wie denken Sie sich die Fortentwickelung der Menschheit, ohne daß der Einzelne in sich die Wandlungen erlebt, aus denen allein eine fortschreitende Umgestaltung der allgemeinen Ansichten hervorgehen kann? Diejenigen Menschen, die in ihren ererbten und anerzogenen Meinungen unwandelbar geblieben sind, haben die Menschheit nicht gefördert, aber Jesus, der Jude, welcher die national-religiösen Satzungen des Judenthums zerstörte, um eine neue, die ganze Menschheit umfassende Lehre auf den Trümmern der alten zu bauen, Luther, der gläubige Catholik, der abfiel von seinem früheren Glauben und vom Papste, seinem Oberhaupte; Mirabeau, der Edelmann, der seine ererbten Ansichten als Vorurtheile von sich warf, und die Fahne seiner Standesgenossenschaft verließ, um gegen diese seine Standesgenossen und ihre volksbedrückenden Privilegien anzukämpfen, sie Alle sind abgefallen von ihrem Glauben, sie Alle haben Wandlungen erlitten, und diese Wandlungen sind um so auffallender gewesen, je bedeutender die Männer waren, an denen sie geschahen. Ja, ich behaupte, daß ein Mensch, der unwandelbar in seinen ererbten Meinungen oder in seinen einmal gefaßten Ansichten beharrt, vollkommen unfähig ist, der fortschreitenden Menschheit irgend wie zu nützen, und es giebt auch kaum einen Menschen, der sich solcher Unwandelbarkeit anzuklagen hätte. Wir Alle ändern uns! Je größer unsere Fähigkeit, um so sichtbarer unsere Wandlungen, und wenn wir uns nach zehn, nach fünfzehn Jahren einmal wieder sehen sollten, so wird, ich hoffe das zu unserm Besten, Jeder von uns seine großen Wandlungen erlitten haben, ohne daß wir uns deshalb des Verrathes an uns selbst und an unserer Ueberzeugung anzuklagen haben werden. Wir sind, ich sagte es Ihnen schon einmal, Theile eines lebendigen, sich stets verwandelnden, sich stets erneuenden Ganzen, es ist also unsere Aufgabe, uns mit offenen Sinnen, mit sittlichem Ernste der allgemeinen Bewegung zu überlassen, damit sie uns umgestalte nach ihrer Notwendigkeit, nicht uns abzusperren und uns ihr hindernd entgegenzustemmen, aus dem thörichten Glauben, daß es von Stärke zeuge, keine Wandlung in sich zu erfahren. Wollen Sie lebloser sein bei lebendigem Leibe, als Ihr Körper, der selbst nach Ihrem Tode noch lebenzeugende Wandlungen erleidet?«
Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band 14. Kapitel
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