»Ein Graf St. Brezan, ein französischer Gesandtschaftsrath, der eine Mission nach Petersburg hat. Er hat meinen kleinen Vetter von Lissabon mit hieher gebracht.«
Graf St. Brezan mochte ein Mann von vierzig Jahren sein, obschon seine schlanke Gestalt, die Leichtigkeit seiner Bewegungen und die sorgsame Wahl seiner einfachen Kleidung ihn jünger erscheinen ließen. Sein dunkelbraunes, reiches Haar, die schönen Hände, das scharf geschnittene Profil gaben ihm ein Recht, noch immer für einen schönen Mann zu gelten, aber ein Ausdruck hochmüthiger Zurückhaltung mußte sein Aeußeres für Jeden unangenehm machen, dem er Freundlichkeit zu zeigen nicht für nöthig erachtete. So kam es, daß die Einen ihn schön und anziehend, die Anderen ihn unschön und abstoßend nannten, daß er die Männer leicht verletzte, die Frauen leicht gewann.
Mit dem Takte des Weltmannes hatte er die Bemerkung der Baronin verstanden. Er nahm an, daß sie um irgend eines Grundes willen Rücksicht auf Friedrich und auf den Doctor zu nehmen habe, und war augenblicklich bereit, die ihm befreundeten Standesgenossen in ihren Absichten und Plänen nach seinen besten Kräften zu unterstützen.
Mit einer geschickten und ganz unmerklichen Wendung brachte er das Gespräch von den deutschen Studenten auf die deutsche Literatur, auf ein Feld, in dem alle Anwesenden, selbst Erich und Friedrich, ihm überlegen sein mußten. Er wußte, wie leicht man Jemand gewinnen kann, der sich uns gegenüber behaglich und als der Gebende empfindet. Für den Grafen beschränkte sich die deutsche Literatur auf Klopstock, Schiller und Goethe. Das Klopstock'sche Deutsch war ihm, wie er offen gestand, vollkommen unverständlich und Klopstock's religiöse' Anschauung dem Verehrer Voltaire's fremd. Schiller, den der Convent würdig geachtet, ein Mitglied der französischen Republik zu sein, hatte von jeher schon um dieses Grundes willen das Mißtrauen des Grafen erregt, und der rücksichtslose Idealismus des Dichters, der über alle Convenienz hinaus den Gedanken freier Menschlichkeit geltend machen wollte, mußte ihm als eine unpraktische Schwärmerei erscheinen, deren Einfluß auf die Jugend er für gefährlich hielt. Goethe allein von allen deutschen Dichtern war ihm ein Gegenstand der Hochachtung.
Mit einer ihm seltenen Wärme pries der Graf den greisen Dichterfürsten als den Dichter der Wirklichkeit, der die Wahrheit und die Schönheit nicht jenseits der Grenzen der Vernunft erblicke. »Was ihn so erhaben macht und was zugleich so wohlthuend, so beruhigend in seinen Schriften wirkt,« sagte er, »das ist die Klarheit, mit der er ›die Welt wie sie ist‹ betrachtet, das richtige Licht, das er über die Gesetze der Gesellschaft verbreitet, in der für Jeden der Platz vorhanden ist, den er einnehmen kann, wenn er eben nur den begehrt, den er auszufüllen bestimmt ist. Er ist der Dichter des Friedens und der Versöhnung, und es ist zweifellos, daß Sie die Weisheit Ihres größten Dichters den wüsten Erfahrungen verdanken, welche unsere unglückliche Revolution ihn machen ließ.«
Trotz der ächt französischen Schlußfolgerung des Grafen, machte sein Lob Goethe's einen guten Eindruck auf den Baron, dessen Anschauungsweise in Betreff der Goethe'schen Werke nahe mit der des Grafen zusammentraf. Er stimmte ihm vollkommen bei, und erklärte, daß der Werther, der Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften für alle Zeiten Musterromane bleiben und vielleicht niemals ihres Gleichen finden würden.
»Für alle Zeiten?« wiederholte der Doctor im Tone des Zweifels, »es giebt Nichts in der Welt, das für alle Zeiten dasselbe wäre!« Diese Worte wurden mit jener Ruhe gesprochen, welche einen Hauptcharakterzug des Doctors machte, dennoch wirkten sie auf Friedrich wie ein Signal zur Befreiung, wie ein Aufruf zu einem Kampfe, an dem Theil zu nehmen er trotz seines Verlangens sich nicht befugt geglaubt hatte.
»Also leugnen Sie, daß es in der Kunst ein Absolutes giebt?« fragte der Baron.
»Unbedenklich!« entgegnete der Doctor. »Das wirklich Große, das, was in seiner Zeit allen Ansprüchen derselben genügte, was ihren ganzen geistigen Gehalt in sich zur Anschauung brachte, das wird, sei es nun ein Werk der Malerei, der Bildhauerkunst oder der Dichtung, für alle Zeiten eine Bedeutung behalten; wir werden darauf fortbauen, es wird maßgebend, lehrreich, begeisternd für uns bleiben, aber ein unbedingtes Muster, das ewig und allein Berechtigte kann es nicht sein. Das hieße den Fortschritt der Menschheit leugnen!«
Der Baron, der den Doctor sehr verehrte, schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann sagte er: »Ich wäre begierig, den Dichter zu kennen, der einst über Goethe hinausgehen wird. Wir werden Muße haben, denke ich, uns an Goethe's Werken zu erfreuen, ehe er sich findet!«
»Er kann sich aber finden,« meinte Friedrich, »wenn die Menschheit im Allgemeinen freier geworden sein wird, als sie es war, da Goethe seine großen Werke schuf!« Diese lebhafte, jugendliche Behauptung stach so auffallend gegen Friedrich's bisherige Zurückhaltung ab, daß die Anderen ihn mit Erstaunen anblickten, während der Doctor ihm zustimmend mit dem Kopfe winkte.
Dadurch ermuthigt und von seinen Empfindungen hingerissen, fuhr er fort: »Bei aller Wahrheit des Werthers, des Meisters, der Wahlverwandtschaften, deren ganze Tiefe ich wohl nicht einmal ermessen kann, weil mir die Kenntniß der Gesellschaft fehlt, in der sie sich bewegen, sind sie doch eben nur das Bild dieses Theils der Gesellschaft, einer Welt der Ausschließlichkeit, ihrer Leiden und Freuden, und« – – fügte er plötzlich stockend, dann aber sich mit einer scheuen Hast zum Sprechen zwingend hinzu – »und es giebt noch eine andere Welt hienieden außer dieser Einen!« –
Friedrich litt von seinen eigenen Worten, während er sie sprach, und doch vermochte er sie nicht zurückzudrängen. Er empfand es, daß er plötzlich der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden sei, und diese Beachtung machte ihn verlegen. Die engen Verhältnisse, in denen er erwachsen war, hatten ihn vor Zersplitterung seiner geistigen Kräfte bewahrt, seinen Gedanken Zeit und Ruhe gegeben, sich aus stiller Tiefe auszubreiten, ruhig fortzuschreiten von Schluß zu Schluß, bis er zu jenen Blicken und Zweifeln gekommen war, die ihn das Unhaltbare der bestehenden staatlichen und geselligen Zustände im Gegensatze zu den natürlichen, berechtigten Forderungen des Menschen ahnen ließen. Jetzt indessen, da er auf dem Punkte stand, diese Ueberzeugung in einem Kreise auszusprechen, dessen Vorrechte sie antastete, erschrak er vor dem Unternehmen. Die anerzogene Ehrerbietung vor den Reichen, den Vornehmen lähmte ihn. Eine dunkle Röthe flog über sein Gesicht, aber es war nicht Scham, welche sie hervorgerufen, sondern der Zorn gegen sich selbst, der Zorn gegen die Verhältnisse, welche ihm eine solche sklavische Befangenheit eingeimpft hatten.
Der Doctor errieth den Zustand, in welchem sich Friedrich befand, und kam ihm theilnehmend zu Hülfe. »Sie haben Recht, Herr Brand!« sagte er, »die Goethe'schen Romane haben darin ihre Schranke, daß sie mehr oder weniger auf die Abstraction vom Leben, auf den schönen Schein des Lebens gearbeitet sind. Sie verhalten sich zur Wirklichkeit, wie die griechischen Götterbilder zur menschlichen Gestalt, wie Rafael's typische Menschengestalten zum individuellen Portrait.«
»Sie werden aber zugeben, lieber Doctor,« fiel ihm der Baron in das Wort, »daß diese Behandlungsweise der Wirklichkeit die edelste und angemessenste, die eigentlich klassische ist, wie ja auch Ihre Hindeutung auf die Antike und auf Rafael dies schon zugiebt.«
»Für eine bestimmte Klasse von Romanen,« entgegnete der Doctor, »ist, oder war vielmehr, jene Darstellungsart nicht nur die berechtigte, sondern die geforderte; für den Roman der Bildungsleiden der bevorzugten Stände, um die sich das Interesse jener Zeit fast ausschließlich bewegte. Die Darstellungsweise der Goethe'schen Romane ist ganz und gar aristokratisch, und sie wird unmöglich, sobald man sich von den Leiden und Freuden des Wohlhabenden, des bevorzugten Menschen, zur Bildungsgeschichte der Menschen im Allgemeinen wendet, wie sie sich in den verschiedenen Persönlichkeiten der Stände darstellt, welche noch andere als Seelenkämpfe zu bestehen haben.«
»Aber glauben Sie, Herr Doctor!« fragte der Graf, »daß jene Kämpfe der niederen Stände um ihr äußeres Dasein, daß jene alltäglichen Miseren überhaupt eine poetische Behandlung zulassen, die sich über die Art der skizzenhaften Beleuchtung erheben könnte? Was können die Leiden eines armen Handwerkers, einer kleinen Näherin, die mit der harten Wirklichkeit um ihr täglich Brot zu ringen haben, für eine große, poetische Bedeutung bieten? Goethe hat das wohl gefühlt, und deshalb, dünkt mich, die Behandlung von Motiven vermieden, welche einer Idealisirung, wie die Kunst sie erheischt, nicht fähig waren. Im Kampfe um das tägliche Leben liegt keine Schönheit, keine Poesie.«
Ein Blick des Zornes leuchtete in Friedrich's Augen, und mit fester Stimme sagte er: »Die vornehme Welt, in der die Goethe'schen Romane sich bewegen, weiß freilich von der Sorge um das tägliche Brot noch weniger, als die leichtlebenden Götter Homer's, die denn doch das mühselige Ringen des Erdgebornen wenigstens ihrer Theilnahme nicht für unwerth hielten.«
Und während er das sprach, begegneten sich die Blicke des Studenten und des Grafen mit einem Ausdruck der Abneigung, welche diese beiden durch ihr Alter und ihre Stellung so weit getrennten Männer, seit dem ersten Augenblicke gegen einander empfunden hatten. Es war etwas Unvereinbares zwischen Friedrich's unterdrücktem Selbstgefühl und dem scharf hervortretenden Hochmuthe des Grafen, und der sichtliche Antheil, den die Baronin und ihre Töchter, trotz ihres Schweigens, an dem Jünglinge zu nehmen begannen, trug nicht dazu bei, den Grafen gegen den Freimuth desselben, den er als eine unberechtigte Anmaßung tadelte, milder zu stimmen.
Und wieder war es der Doctor, der die Vermittlung zwischen Friedrich's Worten und den Ansichten des Grafen übernahm. »Ich glaube, Ihr Irrthum, Herr Graf,« sagte er, »besteht darin, daß Sie übersehen, wie die Stimmung und das Interesse unserer Zeit sich gerade den Leiden der Stände zuzuwenden beginnt, welche Sie von demselben ausgeschlossen glauben. Damit aber ist die Aufgabe und die Bedeutung des Romanes eine wesentlich verschiedene geworden. Sobald der Roman sich aus dem Bereich des befriedigten Bedürfnisses in den Bereich des zu befriedigenden wendet, wird der Roman des schönen Scheins, die typische Behandlung desselben, zu einer Unmöglichkeit, der Roman der harten Wirklichkeit und der scharfen Individualisirung zur Nothwendigkeit.«
»Es ist etwas Wahres darin,« pflichtete die Baronin, welche bis dahin eine stumme Zuhörerin geblieben war, dem Doctor bei, »denn wir sehen in den Goethe'schen Compositionen, wie sehr er es vermieden hat, das Bedürfniß an seine Helden und Figuren herantreten zu lassen, um die reine Atmosphäre vornehmer Ruhe zu erhalten, in der sich Alles und Jeder bewegt.«
»Das kannst Du nicht sagen,« wendete der Baron ein. »Du findest den Architekten, Du findest Gärtner, Bauern, Schauspieler, den Harfner und viele andere Gestalten in den Dichtungen, denen die Sorge um des Lebens Nothdurft nicht fremd geblieben sein kann!«
»Aber bei allen diesen Menschen ist das Bedürfniß in dem Augenblicke, in dem wir sie vor uns handelnd erblicken, befriedigt, lieber Vater!« bemerkte Erich, der sich zu den Ansichten des Doctors und seines neuen Freundes neigte.
»Doch nicht bei den Schauspielern und dem Harfner,« wendete der Baron ein.
»Gewiß nicht!« sagte der Doctor, »aber gerade aus der Wahl dieser Gestalten können Sie sehen, wie Goethe es zu vermeiden wußte, die Noth bitter erscheinen zu lassen. Jene Architekten, Bauern, Gärtner, deren Sie erwähnten, sind, wie Erich richtig bemerkte, Alle wohlversorgt im Dienste großer Herren; der Harfner ist ein Geisteskranker, der stumpf geworden ist gegen die äußere Noth des Lebens, und die Schauspieler wissen sich durch Schuldenmachen und Nichtbezahlen vor eigentlichem Mangel zu schützen. So tief Goethe als Mensch für die Noth seiner Mitmenschen empfand, so sehr er in seinem Amte als Minister ihr stets abzuhelfen suchte, so entschieden hat er die Welt der Dichtkunst in der Welt der satten Bildung gesucht, und darin liegt sein Zusammenhang mit der romantischen Schule, die Anschauung, welche ihn in gewissem Sinne von den Bestrebungen der Nachwelt trennen könnte.«
Der Baron gab das, wenn auch mit Bedingungen zu, und die Baronin, welche stets einen ausgleichenden und versöhnenden Abschluß der Unterhaltung herbeizuführen liebte, sagte: »Was Sie auch gegen die Goethe'schen Schöpfungen, als Musterromane, einzuwenden haben, so werden sie dieselben doch als ewige Vorbilder eines klassischen Styls stehen lassen müssen.«
»Unbedenklich!« rief der Graf; und der Doctor sagte: »Dieser abstracte klassische Styl wird aber für den Roman eine Unmöglichkeit werden, wenn wir anfangen, das allgemeine Leben zum Vorwurf des Romans zu benutzen. Die Harmonie des gleichmäßigen Styls, der hochgebildeten Sprechweise, wie wir ihr in allen Figuren Goethe's begegnen, hört auf, sobald der Ungebildete in den Kreis der Dichtung gezogen wird.«
»Dadurch wird der Styl also buntscheckig werden,« meinte der Baron, »und einen untergeordneten Ton annehmen müssen.«
»Ja und nein!« sagte der Doctor. »Die Wirklichkeit hat gegen das Ideal anscheinend oft etwas Untergeordnetes, die Sprechweise des Arbeiters, der Bürgersfrau etwas Unschönes, wenn wir sie mit der glatten, durch keine persönliche Unart unterbrochenen Schönheit des Goethe'schen Styls vergleichen, und doch wird man diesen nicht überall anwenden, jene nicht entbehren können; aber ein strenges Maßhalten wird die Buntscheckigkeit und Kleinlichkeit, die Sie fürchten, leicht vermeiden lassen. Faßt der Dichter die Menschen mit jener großen Anschauung auf, mit welcher die Rafael, Tizian, Van Dyk, Murillo ihre Portraits erschufen, so wird das Bild jedes Menschen eine ewige Wahrheit und selbst das scheinbar Unbedeutende, Unschöne bedeutend und erfreulich; während das tägliche Leben uns überall Karikaturen bieten würde, wenn man kleinlich jede Art und Unart, jedes Fleckchen und jede Warze der Originale festzuhalten suchte.«
»Diese Dinge zugegeben,« meinte der Baron, »so wird aber Ihr humaner Roman der Zukunft eine maßlose Ausdehnung haben müssen, wenn er alle Stände in seinen Bereich ziehen will, und wir werden wieder zwölfbändige Werke wie die alten englischen erleben, wenn Sie sie nicht in zwei bestimmte Klassen, in aristokratische und Volksromane scheiden wollen.«
»Was sicher nothwendig sein wird, wenn sie haltbar und in sich abgeschlossen, das heißt ein Kunstwerk sein sollen,« fügte der Graf hinzu.
»Keinesweges!« meinte der Doctor. »Im Roman eine Trennung der Stände aufstellen, die im Leben immer mehr und mehr zu verbannen unser Bestreben ist, wäre kein richtiger Grundsatz, und die Länge eines Romans wird durch das Zusammenwirken der Stände so wenig bedingt, als seine künstlerische Einheit dadurch gehindert. Beschäftigt sich der Roman, wie es seine Aufgabe ist, mit der psychologischen Entwickelung einzelner Charaktere, so ist dem Zufall jeder Spielraum in demselben genommen. Er ist bedingt durch den Charakter der Helden, und mögen dann auch, wie im Leben selbst, Personen der verschiedensten Klassen an den Helden herantreten und zu seiner Bildung mitwirken, mag er sich in den entgegengesetztesten Sphären bewegen, dem Roman wird in dem Raume eines solchen Bildungsprocesses immer eine Schranke gesetzt sei, die ihn vor übermäßiger Länge bewahrt. Beschäftigt der Roman sich aber mit Vorgängen, macht er die Entwickelung spannender Ereignisse zu seiner Hauptaufgabe, so sinkt er zur Erzählung herab, hat keine innere Nothwendigkeit und kann so unermeßbar werden, als die Möglichkeit der Ereignisse selbst.«
(Fanny Lewald: Wandlungen 1. Band, 5. Kapitel)
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