"Sie hatte der Blider schwarze, strahlende Augen mit den feinen, schnurgeraden Brauen, sie hatte ihre stark ausgebildete Nase, ihr kräftiges Kinn und ihre schwellenden Lippen. Auch den seltsamen, schmerzlich sinnenden Zug um die Mundwinkel und die unruhigen Kopfbewegungen hatte sie geerbt; ihre Wange aber war bleich und weich wie Seide war ihr Haar, das sich glatt und leicht um die Form des Kopfes legte.
So waren die Bliders nicht; ihre Farben waren Rosen und Bronze. Ihr Haar war struppig und kraus, wie eine Mähne so dicht; und tiefe, volle, biegsame Stimmen hatten sie, seltsame Zeugnisse für die Überlieferungen ihrer Familie – von lärmenden Jagdfahrten, feierlichen Morgenandachten und den tausend Liebesabenteuern ihrer Vorfahren.
Aber ihre Stimme war matt und klanglos.
Ich erzähle von ihr, wie sie als Siebzehnjährige war; ein paar Jahre später, als sie verheiratet war, hatte ihre Stimme mehr Fülle, die Farbe der Wangen war frischer, und das Auge zwar matter, zugleich aber größer und dunkler geworden.
Mit siebzehn Jahren aber war sie sehr verschieden von ihren Geschwistern, und es bestand auch eigentlich kein nahes Verhältnis zwischen ihr und ihren Eltern. Die Bliders nämlich waren ein praktisches Geschlecht und nahmen das Leben so, wie es war; sie taten ihre Arbeit, schliefen ihren Schlaf und verlangten nie nach anderen Vergnügungen als nach dem Erntefest und drei, vier Weihnachtsschmäusen. Religiös bewegt waren sie nicht; aber es hätte ihnen ebenso leicht einfallen können, ihre Steuern nicht zu zahlen, als Gott nicht zu geben, was Gott gebührte; und deshalb sprachen sie ihr Abendgebet, gingen an hohen Feiertagen in die Kirche, sangen am Weihnachtsabend ihren Choral und nahmen zweimal im Jahr das heilige Abendmahl. Sie waren auch nicht wißbegierig, aber ihr Sinn war durchaus nicht unempfänglich für kleine, sentimentale Lieder, und wenn der Sommer kam, und das Gras dicht und üppig auf den Wiesen wuchs, und die Ähren auf den weiten Äckern wogten, dann sagten sie wohl zueinander, daß die Zeit schön sei, um über Land zu fahren; aber sie waren keine besonders poetischen Naturen; Schönheit berauschte sie nicht, sie hatten keine unbestimmte Sehnsucht, kannten keine wachen Träume.
Aber mit Bartholine war es anders; sie hatte durchaus kein Interesse für die Ereignisse im Stall und auf den Feldern, kein Interesse für Meierei und Haushalt – nicht das geringste.
Sie liebte Gedichte. [...]
Und warum sollte man nicht selbst solch ein Mädchen sein können? Diese sind so – und jene so – sie selbst aber wissen es nicht; weiß ich denn, wie ich bin? und die Dichter sagen ausdrücklich, dies sei das Leben, und leben bedeute nicht nähen und stricken, den Haushalt führen und dumme Besuche machen.
Eigentlich lag, genau genommen, in all dem nur der ein wenig krankhafte Trieb, sich selbst zu fühlen, das Streben, sich selbst zu finden, das so oft bei einem jungen, mehr als gewöhnlich begabten Mädchen erwacht; schlimm aber war, daß sich in ihrer Umgebung keine einzige überlegene Natur befand, an der sie ihre eigene Begabung hätte messen können; nicht einmal eine verwandte Natur gab es, und so kam sie dazu, sich selbst als etwas Merkwürdiges, Einzigartiges, als tropisches Gewächs zu betrachten, das unter rauhem Himmelsstrich emporgeschossen nur kümmerlich seine Blätter zu entfalten vermag, während es in wärmerer Luft, unter einer heißeren Sonne schlanke Stengel mit einem wunderbar reichen, strahlenden Blumenflor getrieben hätte. Das, meinte sie, sei ihr eigentliches Wesen, und das hätte rechte Umgebung aus ihr machen können, und sie träumte tausend Träume von diesen sonnigen Gegenden, verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihrem wahren, reichen Ich und vergaß, was zu vergessen so nahe liegt, daß selbst die schönsten Träume, das tiefste Sehnen den menschlichen Geist nicht um einen Zoll fördern. [...]"
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 1. Kapitel)
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