09 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Kindheit und Jugend

Die Eltern
"[...] er konnte diese ewige Poesie nicht ertragen, er sehnte sich nach dem festen Boden des Alltags wie ein Fisch, der in der heißen Luft erstickt, sich nach der klaren, frischen Kühle der Wogen sehnt. Es mußte aufhören, es mußte von selbst aufhören; Bartholine stand dem Leben und den Büchern nicht mehr unerfahren gegenüber, sie war ebenso vertraut damit wie er; er hatte ihr alles gegeben, was er erhalten hatte, und jetzt sollte er immer noch geben; weiter und weiter, das war unmöglich, er hatte nichts mehr; – sein einziger Trost war, daß Bartholine sich Mutter fühlte. [...]
Der Befreiungsversuch, der hierin lag, mißglückte. Sie versank wieder in ihre Träume, Träume aus der Mädchenzeit; aber es bestand der Unterschied, daß nun keine Hoffnung aus ihnen hervorleuchtete; [...]
So verschieden waren des kleinen Niels Lyhne Vater und Mutter, die beiden freundlichen Mächte, die ohne es zu wissen, einen Kampf um seine junge Seele kämpften, von dem Augenblick an, wo sich nur ein Schimmer von Intelligenz zeigte, mit der etwas anzufangen war; und je älter das Kind wurde, desto heftiger wurde der Kampf, denn um so reicher wurde die Auswahl unter den Waffen. [...]

Kindheit
Niels war jetzt ein großer Knabe, zwölf Jahre alt, ging ins dreizehnte und brauchte nicht mehr auf Disteln und Kletten loszuschlagen, um seinen Ritterphantasien zu genügen, ebensowenig wie er seine Entdeckerträume zum Segeln in Muschelschalen auszusetzen brauchte; ein Buch und eine Sofaecke reichten jetzt, und reichten sie nicht, wollte ihn das Buch nicht an eine Küste tragen, die ihm lieb, so suchte er Frithjof auf und erzählte ihm die Geschichte, die das Buch nicht erzählen wollte. [...]
Oben am offenen Fenster der Dachkammer saß Niels und starrte ihm nach. Er hatte das ganze Gespräch von Anfang bis Ende mitangehört; seine Züge drückten Erschrecken aus, und ein nervöses Zittern ging durch seinen Körper. Zum erstenmal hatte er Furcht vor dem Leben empfunden, zum erstenmal wirklich begriffen, daß, wenn es einen verurteilt hat zu leiden, dieses Urteil weder erdichtet noch angedroht ist; nein, dann wird man zur Folterbank geschleppt, dann wird man gefoltert, und es kommt keine abenteuerliche Befreiung im letzten Augenblick, kein plötzliches Erwachen wie aus einem bösen Traum. Das war es, was er in ahnungsvoller Angst begriff. [...]
Es wurde still in ihm. Sein Glaube hatte sich in blindem Flug gegen die Tore des Himmels geworfen, und nun lag er mit gebrochenen Flügeln auf Edeles Grab. [...]

Dann lernt er Frau Boye kennen.
»Wie wunderlich es ist, wenn man Sehnsucht nach sich selbst hat!« sagte sie, sich langsam aus ihren Träumen losringend und mit ihrem Blick in die Wirklichkeit zurückkehrend, »ich sehne mich so oft, so oft nach mir, wie ich als junges Mädchen war, und ich liebe dieses Mädchen wie ein Wesen, dem ich innerlich nahe gestanden, mit dem ich Leben und Glück und alles geteilt, und das ich dann verloren habe, ohne auch nur das Allergeringste dagegen tun zu können. [...]
man will uns in das Ideal des Mannes hineinzwingen. [...] Ich nenne das eine Vergewaltigung unserer Natur. Ich nenne es Dressur. Die Liebe des Mannes dressiert. Und wir beugen uns; selbst die, die niemand liebt, beugen sich mit, verächtliche Schwächlinge, die wir sind.« [...]
Er liebte, er sagte es laut vor sich hin, daß er liebte. Viele Male. Es lag ein so wundervoller Klang von Würde in diesen Worten, und sie bedeuteten so viel. Sie bedeuteten, daß er nicht länger Gefangener in der Gewalt jener phantastischen Einflüsse der Kindheit sei, nicht länger ein Spielball zielloser Sehnsucht und nebelhafter Träume, daß er sich aus jenem Elfenland gerettet hatte, das mit ihm und um ihn aufgewachsen war, ihn mit hundert Armen umschlungen und ihm die Augen mit hundert Händen zugehalten hatte. Er hatte sich diesen Fesseln entrungen und sich selbst gewonnen; [...]

Er liebte sie und kniete voll Verlangen vor ihr, er bettelte zu ihren Füßen um all diese berauschende Schönheit. Wirf dich von deinem Thron herab zu mir; mach dich zu meiner Sklavin, leg selbst die Sklavenkette um deinen Hals, aber nicht im Spiel; ich will an der Kette zerren, es soll Gehorsam in allen deinen Gliedern, Unterwerfung in deinen Blicken liegen. [...] nur ich allein will dein Herr sein, und ich würde deinen Willen entgegennehmen, der gebrochen in deinen demütig ausgestreckten Händen liegt. Du solltest meine Königin und ich dein Sklave sein, aber mein Sklavenfuß müßte auf deinem stolzen Königinnennacken stehen; was ich begehre, ist nicht Wahnwitz, denn das ist doch Frauenliebe, stolz und stark zu sein und sich zu beugen; das weiß ich schon, daß lieben heißt, schwach zu sein und zu herrschen. [...]"
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne Kapitel 2 - 7)

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