Dies war indessen nicht der ganze Mann.
Die Bildung, die er empfangen, brachte es mit sich, daß er sich außerhalb von Fragen rein praktischer Natur auf fremdem Boden befand; aber deshalb verachtete er nicht, was er nicht verstand, machte auch kein Geheimnis daraus, daß er sich nicht darauf verstand, und noch viel weniger fiel es ihm ein, mitzureden oder Achtung für sein Geschwätz zu verlangen, nur weil er ein älterer, praktisch erfahrener und hochbesteuerter Bürger war. Im Gegenteil, er konnte mit einer fast rührenden Andacht dasitzen und auf das Gespräch junger Damen und Herren über solche Gegenstände lauschen, nur hie und da mit umständlichen Entschuldigungen eine bescheidene Frage stellen, die fast stets mit der größten Bereitwilligkeit beantwortet wurde. Dann dankte er für die Antwort mit der ganzen Verbindlichkeit, die der Ältere so schön in seinen Dank an Jüngere zu legen weiß.
Im ganzen genommen hatte Konsul Claudi in einzelnen glücklichen Momenten etwas überraschend Zartes, einen sehnsuchtsvollen Blick in den klaren braunen Augen, ein wehmütiges Lächeln um den starken Mund, einen suchenden, erinnerungsvollen Tonfall in der Stimme, – als sehnte er sich nach einer in seinen Augen besseren Welt als jene war, der seine Freunde und Bekannten ihn mit Haut und Haar verfallen glaubten.
Zwischen jener besseren Welt und ihm war seine Frau die Vermittlerin. Sie war eine jener bleichen, zarten, jungfräulichen Naturen, die nicht den Mut oder vielleicht auch nicht den Instinkt haben, ihre Liebe auszulieben, bis in der tiefsten Tiefe ihrer Seele nichts mehr von ihrem Selbst übrig ist. Auch nicht während eines flüchtigsten Moments werden sie so ergriffen, daß sie sich blind betört unter den Triumphwagen ihres Abgotts werfen. Das können sie nicht; aber sonst vermögen sie alles für den, den sie lieben. Sie können die schwersten Pflichten erfüllen, sie sind zu den schmerzlichsten Opfern bereit und sie scheuen vor keiner Demütigung zurück. So sind die besten von ihnen.
So große Anforderungen wurden nun nicht an Frau Claudi gestellt, aber ganz ohne Kummer war ihre Ehe auch nicht hingegangen; es war nämlich ein offenes Geheimnis, daß Konsul Claudi, bis vor einigen Jahren wenigstens, nicht der allertreueste Ehemann gewesen, und daß er sowohl in der Stadt wie auf dem Lande mehrere illegitime Kinder habe. Natürlich war das ein großer Schmerz für sie gewesen, und es war ihr nicht leicht gefallen, ihr Herz zu bezwingen, daß es aushielt, und nicht nachgab in jenem Aufruhr von Eifersucht, Verachtung und Zorn, Scham und lähmenden Schreck, der den festen Grund unter ihren Füßen hatte schwanken lassen. Nicht nur, daß kein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen kam, sie verhinderte auch jedes Bekenntnis von seiten des Mannes, jede deutliche Bitte um Verzeihung und alles, was wie ein reuevolles Versprechen aussehen konnte. Sie fühlte, wenn es zu Worten käme, würden diese sie mit fortreißen, von ihm fortreißen. Schweigend sollte es getragen werden, und in diesem Schweigend suchte sie sich zur Mitschuldigen des Mannes zu machen, indem sie sich wegen der Selbstverschanzung anklagte, die aufzugeben ihre Liebe nicht stark genug gewesen war. Es gelang ihr, ihre Sünde so groß zu machen, daß sie einen unbestimmten Drang nach Vergebung empfand, und im Laufe der Zeit kam sie so weit mit sich selbst, daß das Gerücht entstehen konnte, für die Mädchen, die Konsul Claudi verführt habe, und ihre Kinder würde noch anderweitig gesorgt als durch Geld; es müsse eine verborgene Frauenhand sein, die sie schütze, ihnen alles Böse fernhalte, sie aufrecht erhalte und führe.
So kam es, daß die Sünde sich zum Guten wandte, und ein Sünder und eine Heilige einander besser machten." ( Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 10. Kapitel)
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