28 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Herbst

"[...] Wenn Niels hinüberkam und Erik fort war, so machten sie fast immer, ob es nun regnete oder stürmte, weite Spaziergänge durch den Wald, der an den Garten stieß. Sie hatten sich in diesen Wald verliebt, und je mehr sein Sommerleben zu Ende ging, desto lieber wurde er ihnen. Es waren ja dort auch tausende von Dingen zu sehen. Zuerst wie das Laub rot und gelb und braun wurde, dann wie es abfiel, an einem windigen Tage in gelben Wirbeln stiebend, wenn es still war, Blatt für Blatt auf Blatt leise zwischen den steifen Asten und den schwankenden, braunen Asten herabraschelnd. Und wie nun das Laub von Bäumen und Büschen fiel, wie kamen da nicht die verstecktesten Geheimnisse des Sommers ans Licht, was lag und saß da nicht umher an zierlichen Sämereien, und farbenreichen Beeren, braunen Nüssen, blanken Eicheln und niedlichen Eichelnäpfchen, Korallenbüscheln an den Berberitzen, schwarzglänzenden Schlehen und scharlachroten Urnen an den Hagebuttensträuchern. An den blätterlosen Buchen saßen dicht bei dicht stachlichte Bucheckern, und die Ebereschen beugten sich unter den schweren, roten Trauben, deren Duft säuerlich war wie Apfelmost. Späte Brombeeren lagen schwarz und braun im feuchten Laub am Wege, im Heidekraut wuchsen Preißelbeeren, und die wilden Himbeeren trugen zum zweitenmal ihre mattroten Früchte. Das Farnkraut hatte wohl hundert Farben, jetzt da es verwelkte; und nun erst das Moos, das war eine förmliche Entdeckung; nicht nur das kräftige Erdmoos an Abhängen und in den Gründen, das Ähnlichkeit hatte mit Tannen und Palmen und Straußfedern, sondern auch das seine Moos an Baumstämmen, das so aussah, wie man sich die Kornfelder der Elfen vorstellen mag, das in seinen, seinen Halmen, mit dunkelbraunen Knospen an den Spitzen wie Ähren aufschoß.
Eifrig wie Kinder durchschweiften sie den Wald kreuz und quer, um seine Schätze und Merkwürdigkeiten zu entdecken. Wie Kinder auch wohl zu tun pflegen, hatten sie sich in ihn geteilt, so daß das, was an der einen Seite des Fahrwegs lag, Fennimore gehörte, und das an der andern Seite Niels; oft verglichen sie ihre Reiche miteinander und stritten darüber, wessen Herrlichkeit die größte sei. Auch hatte alles seinen Namen, Klüfte und Hügel, Pfade und Zauntritte, Graben und Dämme. Und wenn sie hier und da einen besonders prächtigen Baum fanden, so bekam der auch seinen Namen. So hatten sie den Wald in jeder nur erdenklichen Weise in Besitz genommen, und so hatten sie sich eine kleine Welt für sich selbst geschaffen, die kein anderer kannte, und in der niemand sich bewegen konnte als sie – und doch hatten sie nicht ein Geheimnis miteinander, das nicht die ganze Welt hätte hören können. [...]"
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)


Die genauen Beobachtungen und die evozierten Farben faszinieren mich bei Jacobsen.
Deshalb sind mir diese Herbstschilderung und die Frühlingsschilderung am Anfang des Romans die liebsten Passagen. Doch auch die Menschenbeobachtung geht weit über das dichterische Normalmaß hinaus. 

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