»Liebste Fennimore, du weißt Gott sei Dank nicht, was du sagst, aber du bist ungerecht gegen die Frauen, gegen dich selbst; ich glaube an die Reinheit des Weibes.«
»Die Reinheit des Weibes, was meinst du mit der Reinheit des Weibes?«
»Ich meine – – – – – ja...«
»Du meinst, ich will es dir sagen, du meinst nichts, denn das ist auch so eine von diesen inhaltlosen Feinheiten. Eine Frau kann nicht rein sein, sie soll es nicht sein, wie sollte sie es können! Welche Unnatur ist das! Hat die Hand unseres Herrgotts sie dazu bestimmt, es zu sein? Antworte mir! – Nein, und zehntausendmal nein. Was ist das für ein Wahnsinn? Weshalb wollt ihr uns mit der einen Hand zu den Sternen emporheben, wenn ihr uns mit der andern doch hinabziehen müßt? Könnt ihr uns nicht auf Erden an eurer Seite gehen lassen, Mensch neben Mensch, und nichts weiter? Es ist doch unmöglich für uns, auf der Prosa sicher aufzutreten, wenn ihr uns mit eurem Irrwisch von Poesie blind macht. Laßt uns doch in Ruhe, laßt uns doch um Gotteswillen in Ruhe.«
Sie setzte sich hin und weinte.
Niels begriff vieles; Fennimore wäre unglücklich gewesen, wenn sie gewußt hätte wieviel; es war ja zum Teil die alte Geschichte vom Festgericht der Liebe, das nicht tägliches Brot werden will, sondern fortfährt, Festgericht zu sein, nur fader, Tag für Tag widerlicher, immer weniger nahrhaft. Und der eine kann das Wunder nicht vollbringen, und der andere kann es auch nicht, und da sitzen sie nun noch in ihren Hochzeitskleidern und fahren fort, einander zuzulächeln und feierliche Worte zu gebrauchen, aber im Innern leiden sie Qualen von Hunger und Durst, und ihre Blicke fangen an, einander zu fürchten, denn der Groll beginnt in ihren Herzen zu sprießen. [...]
Sie tat Niels so leid, aber er ließ sie in Ruhe, wie, sie es wollte.
Es war so hart, sie leiden zu sehen, nicht helfen zu dürfen, weit fort zu sitzen, und sie in dummen Träumen glücklich zu träumen, oder mit kaltem, ärztlichem Scharfsinn abzuwarten und zu berechnen, und sich so traurig, und ruhig sagen zu müssen, daß früher keine Linderung eintreten werde, als bis ihre alte Hoffnung auf den feinen, funkelnden Reichtum des Lebens sich gänzlich verblutet, und ein träger Lebensstrom seinen Weg durch alle Adern ihres Lebens gefunden, und sie stumpf genug gemacht haben würde, um zu vergessen; schwerfällig genug, um zufrieden zu sein, [...]
An einem Sonntagnachmittag gegen Ende August ruderte Niels über den Fjord. Er fand Fennimore allein zu Hause; als er kam, lag sie im Eckzimmer auf dem Sofa und stieß bei jedem Atemzug jenes kurze, regelmäßige Stöhnen aus, das unsere Schmerzen zu erleichtern scheint, wenn wir krank sind. Sie habe fürchterliche Kopfschmerzen, sagte sie, und es sei niemand zu Hause, um ihr zu helfen. [...]
Niels tröstete sie, so gut er konnte; er sagte, sie solle stilliegen, die Augen zumachen und nicht sprechen; er brachte ein dickes Tuch, in das er ihre Füße wickelte, holte Essig aus dem Büfett und richtete einen kalten Umschlag her, den er auf ihre Stirn legte. Dann setzte er sich still ans Fenster und sah dem Regen zu. [...]
»Sag doch,« begann sie plötzlich, »du hast mir nie von Erik als Knaben erzählt. Wie war er eigentlich?«
»Alles, was gut und schön war, Fennimore. Prächtig, brav, in jeder Beziehung eines Knaben Ideal von einem Knaben, nicht gerade das Ideal einer Mutter oder eines Lehrers, aber jenes andere, das soviel besser ist.«
»Wie kamt ihr zusammen aus? Hieltet ihr viel voneinander?«
»Ja, weißt du, ich war ganz verliebt in ihn, und er hatte nichts dagegen, – so ungefähr war es; wir waren so verschieden, mußt du wissen; ich wollte immer Dichter und berühmt werden; aber weißt du, was er eines Tages antwortete, als ich ihn fragte, was er am liebsten werden möchte? – Ein Indianer, ein echter, roter Indianer mit Kriegszeichen und allem, was dazu gehört! Ich erinnere mich noch, daß ich es durchaus nicht verstehen konnte; ich begriff nicht, daß man wünschen konnte, ein Wilder zu sein; so zivilisiert war ich!«
»Aber ist es nicht sonderbar, daß er dann Künstler werden konnte?« sagte Fennimore, und es lag etwas Kaltes, Feindliches in dem Ton, mit dem sie fragte.
Niels merkte es und stutzte. »Ach nein,« sagte er dann, »es ist selten, daß Leute in ihrer ganzen Natur Künstler werden. Und gerade solche frischen, lebensfrohen Menschen wie Erik haben oft eine unendliche Sehnsucht nach dem, was zart und sein ist: das Feine, jungfräulich Kalte, das süß Erhabene, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Nach außen hin können sie robust und vollblütig genug sein, ja, sogar grob können sie sein, und niemand ahnt, was für wunderliche, romantische und gefühlvolle Geheimnisse sie mit sich herumtragen, weil sie so verschämt sind, seelisch verschämt; ich meine diese großen, schwertrabenden Mannsleute, so daß kein bleiches, junges Mädchen schamhafter in seiner Seele sein kann als sie. [...] Sei nicht böse, Fennimore, aber ich fürchte, daß du und Erik nicht so recht gut gegeneinander seid. Kann es nicht anders werden? Denk nicht daran, wer recht hat, oder an die Größe des Unrechts, du sollst nicht gerecht gegen ihn sein, denn wohin kämen die besten unter uns mit der Gerechtigkeit, nein, sondern denk an ihn, wie er war in der Stunde, wo du ihn am meisten geliebt; glaube mir, er ist es wert. Du darfst nicht messen, nicht wägen. Ich weiß, es gibt in der Liebe Augenblicke voll strahlender, feierlicher Ekstase, in denen man sein Leben für den Geliebten hingeben würde, wenn es sein müßte. Nicht wahr? Denk daran, Fennimore, vergiß es nicht, sowohl um seinet- wie um deiner selbst willen.«
Er schwieg. –
Auch sie sprach nicht, sie lag still da mit schwermütigem Lächeln auf den Lippen, bleich wie eine Blüte.
Dann erhob sie sich und streckte Niels die Hand entgegen.
»Willst du mein Freund sein?« sagte sie.
»Das bin ich, Fennimore,« und er nahm ihre Hand.
»Willst du, Niels?«
»Immer,« entgegnete er und führte ehrerbietig ihre Hand an die Lippen.
Dann erhob er sich, aufrechter dünkte es Fennimore, als sie ihn je gesehen.
Bald darauf kam Trine und meldete, daß sie zurück sei, und dann gab es Tee und schließlich eine Ruderfahrt in dem trübseligen Regen.
Am hellen Morgen kam Erik nach Hause, und als Fennimore ihn in dem kalten, wahrheitsliebenden Tageslicht sah, wie er sich auf das Schlafengehen vorbereitete, schwer und unsicher vom Trunk, glasäugig vom Spiel und schmutzigbleich von der durchwachten Nacht, da erschienen die schönen Worte, die Niels zu ihr gesprochen, ihr ganz phantastisch, und die freundlichen Gelübde, die sie in ihrem stillen Sinn getan, schwanden erbleichend vor dem zunehmenden Tag, nichts als Traumgaukelei und Gedankentand: eine edle Schar von Lügen. [...]
Je weiter der Herbst vorrückte, desto häufiger wurden Eriks Fahrten zu den Saufgelagen. Was nützte es denn, äußerte er gegen Niels, daß er zu Hause saß und auf Ideen wartete, die nie kamen, bis ihm die Gedanken im Kopf zu Stein wurden, übrigens gewährte ihm Niels Gesellschaft nicht viel Trost, er brauchte Leute, die Leben hatten, Leute, die lärmendes Fleisch und Blut waren, und nicht ein Spielwerk von schwachen Nerven. Niels und Fennimore waren daher oft alleine miteinander, denn Niels begab sich jeden Tag hinüber nach Marianelund."
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)
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