13 November 2020

Fanny Lewald: Wandlungen 3. Band Kapitel 4 und 5: Sidonies Tugendherrschaft Kapitel 6: Das Gespräch der Freunde

4. Kapitel 

Als Sidonie sich mit Erich verlobt hatte und dem alten Baron zum ersten Male als Braut seines Sohnes begegnet war, hatte seine Erschütterung ihn fortgerissen, und sie segnend hatte er die Worte ausgesprochen: »Möchtest Du berufen sein, der Mutter Deines Erich's ähnlicher zu werden, als ihre Töchter, und Zucht und Sitte wiederzubringen in unser Haus, das sie zum ersten Male entbehrt!« – Dabei hatte er sie zärtlich umarmt, und Sidonie, welche ihren Vater kaum gekannt, hatte sich mit aufwallender Liebe dem Greise zur Tochter und zur festen Stütze gelobt, der ihr von Erich und von ihrer Mutter stets als der Inbegriff höchster Würdigkeit dargestellt worden war. Ihre Erziehung hatte ihr die strengsten Begriffe von Sittlichkeit und Pflichterfüllung eingeimpft, und nie war eine junge Frau mit besseren Vorsätzen in das Haus ihres Gatten eingetreten als Sidonie. Aber von ihrer Mutter grundsätzlich in vollkommener Abhängigkeit erhalten, mußte die Selbständigkeit ihr gefährlich werden, in die sie sich durch ihre Heirath wie mit einem Zauberschlage versetzt gesehen hatte. In der wohlmeinenden Absicht, das Glück der jungen Gatten durch ihr Dazwischentreten nicht zu hindern, hatte Frau von Verdeck nach Sidoniens Vermählung eine Reise nach Italien angetreten. Die junge Frau sah sich also plötzlich aus einem Zustande, in dem Alles für sie vorbereitet und jede praktische, mit der Außenwelt zusammenhängende Frage von der Mutter entschieden worden war, in einen Wirkungskreis versetzt, der Anforderungen an ihre Einsicht machte; und gleichzeitig ward sie aus dem geselligen Leben der Residenz in ländliche Einsamkeit verpflanzt. Sie hatte Erich bisher nur in den Stunden seiner Muße gekannt, in denen er, der angenehmste Gesellschafter ihres Kreises, für sie allein gelebt. Jetzt, da er am Tage viel beschäftigt und Abends dann bisweilen müde, oder mehr zur ruhigen Lectüre, als zur Unterhaltung geneigt war, erschien er ihr verändert. Sie fand ihn kalt geworden. Der Gedanke, daß seine frühere Verbindung mit Regine ihn gleichgültig gegen sie mache, ließ ihr keine Ruhe. Sie hätte wissen mögen, worin der Reiz jenes Verhältnisses bestanden habe? Sie hatte so oft in verhüllter Rede davon sprechen hören, daß die Ehe die Männer abstumpfe gegen die Liebe ihrer Frauen, daß nur das Verbotene, das Unerlaubte sie fessele. Ohne sich zu fragen, worin der Grund dieser sich oft wiederholenden Erfahrung liege, hatte sie Erich der Wandelbarkeit und Oberflächigkeit angeklagt, und einen noch tiefem Abscheu vor jenen Frauen und Verbindungen gefaßt, welche die Männer unempfindlich machen sollten gegen die heilige dauernde Ruhe des ehelichen Beisammenseins. Das Bild einer nie endenden, gleichmäßigen und ausfüllenden Befriedigung hatte ihr vorgeschwebt, so oft sie als Mädchen der Ehe gedachte. Dies Glück hatte sie in ihrem Hause nicht gefunden, und zu stolz und auch zu scheu, sich über dasjenige zu beklagen, was sie in traurigem Irrthum für eine Vernachlässigung, für eine Schuld ihres ihres Mannes hielt, hatte sie beschlossen, wenigstens von ihrer Seite niemals einen Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben. Sie wollte Erich und dem Baron in jeder Weise genügen, um der Erziehung ihrer Mutter Ehre zu machen, um dem Baron und ihrem Manne zu halten, was sie ihnen zu sein gelobt hatte.

Bald hatte sie von Augusten die Art der häuslichen Verwaltung erlernt, die auf dem Schlosse üblich war, und mit einer nie wankenden Pünktlichkeit lag sie ihrem Amte als Hausfrau ob. Aber grade diese starre, unwandelbare Regelmäßigkeit, so hoch er sie anschlug und so sehr er Sidonie dafür rühmte, mußte etwas Beängstigendes und Unerfrischendes haben für Erich's bewegliche Natur. Wird der Mensch doch selbst des blauen Aethers und der strahlenden Sonne überdrüssig, wenn sie in immer unveränderter Klarheit auf ihn hernieder scheinen.

Hätte Sidonie Schwächen, kleine Launen, üble Angewohnheit besessen, hätte Erich ihr Etwas nachzusehen, ihr Etwas zu verzeihen, vorkommende Streitigkeiten durch freundliche Versöhnungen auszugleichen gehabt, er würde glücklicher gewesen sein. Männer wie Erich hängen sich am festesten an solche Wesen, welche ihre Nachsicht und ihre Hülfe am meisten nöthig haben. Er würde ihr dadurch wieder in der liebenswürdigen Seite seines Wesens, in seiner Güte erschienen und ihr Verhältniß ein innigeres geworden sein. Ihre Tadellosigkeit ward ihr Unglück. Erich wußte seine Frau zu schätzen, er achtete, er ehrte sie, aber was haben solche, der tarnenden Gerechtigkeit entsprossenen Empfindungen mit der Liebe gemein? Er sah den Werth seiner Gattin von allen Leuten gepriesen, er war stolz auf sie, glücklich war er nicht mit ihr. Unfähig jedoch, sie deshalb anzuklagen, kam er dahin, wie Sidonie es gethan, die Schuld in seinem früheren Verhältnisse zu Regine zu suchen und sich allein die Unbefriedigung zuzuschreiben, die er innerlich empfand.

Er bedauerte Sidonie, daß alle ihre Vorzüge, alle ihre Tugenden ihn nicht zufrieden stellten. Er fühlte sich im Unrecht gegen sie, er glaubte sich ihrer Verzeihung bedürftig, und Sidonie bestärkte sich sehr bald durch diese seine Ansicht in ihrer Auffassung der Verhältnisse, denn wir impfen unserer Umgebung nur zu leicht die Meinung über uns ein, welche wir selbst von uns hegen. Es war kein Jahr seit ihrer Hochzeit vergangen, als die Baronin schon eine unumschränkte Herrschaft über ihren Mann gewonnen hatte, weil er die Schwäche besessen hatte sie über sich zu stellen.

In einer Stunde zärtlicher Hingebung hatte sie Erich alle näheren Umstände seines Verhältnisses zu Regine abzulocken gewußt. Es war dies von ihrer Seite nicht leere Neugier gewesen. Der Wunsch, das Uebel zu kennen, dem zu begegnen ihre Pflicht war, hatte sie dazu vermocht, aber die unwillkürliche Wärme, mit welcher Erich von der Verlassenen gesprochen, war ein Gift gewesen für sein Weib, und bald mußte Erich das Vertrauen bereuen, zu dem sich seine Hingebung verleiten lassen.

Sidonie, auferzogen in dem Gedanken an die Ausschließlichkeit der Liebe, hatte, als sie Erich heirathete, sich mit der Ueberzeugung getröstet, jenes Verhältnis ihres Verlobten habe in einer Aufwallung der Sinnlichkeit seine Quelle gehabt, und Liebe habe er nie gefühlt, als nur für sie allein. Jetzt hatte sie in Regina eine Nebenbuhlerin entdeckt, deren Erinnerung auszulöschen sie mit dem Instincte weiblichen Scharfgefühls als eine Unmöglichkeit erkannte. Sie vermochte es sich nicht wegzuleugnen, daß die Verhaßte in gewissem Sinne noch in Erich's Herzen lebe. Das aber war, nach ihrer Ansicht, ein Treubruch von Seiten ihres Mannes, ein Verkennen seiner Pflichten, ein Verkennen der Heiligkeit der Ehe und dessen, was sie selber werth war. Sie durfte, sie wollte das nicht dulden. All ihr Sinnen und Streben war darauf gerichtet, Erich zu überzeugen, auf welch gefährlichem Wege er wandle. Sie verdammte ihn nicht, aber sie beklagte ihn und seine Schwäche, sie bedauerte die irreligiöse Richtung seines Vaterhauses, der sie auch Helenens und Corneliens Verirrungen zur Last legte. Sie wollte durch ihre makellose Reinheit, durch unerbittliche Strenge gegen sich und gegen jede Uebertretung der Sitten, die in ihrer Nähe sich bemerklich machte, Erich auf indirectem Wege der gleichen Anschauung zurückgewinnen. Solche innere Vorgänge und Erlebnisse konnten dem Auge ihres Schwiegervaters nicht wohl verborgen bleiben. Je mehr Sidonie ihm sympathisch war, je mehr er in ihr die würdige Vertreterin seines Hauses anerkannte, um so geneigter hatte er sich finden lassen, ihren Einwendungen gegen seine Freisinnigkeit, gegen seinen Voltaire'schen Atheismus Gehör zu schenken, als nach der Geburt ihres Sohnes die Unterredung sich häufig auf die Grundsätze der Erziehung richtete. Mit jener Dialektik, welche den Frauen niemals fehlt, wenn sie für ihre eigne Sache kämpfen, hatte sie dem Baron zu beweisen gewußt, daß die ihm schmerzliche Lebensrichtung seiner Töchter und seines jüngern Sohnes nur darum möglich geworden sei, weil die Ehr- und Sittenbegriffe, welche er ihnen eingeflößt, nur in weltlichen Rücksichten, nicht in der Religion ihre Wurzel gehabt hätten, weil er sie nur im Hinblick auf ihren leiblichen Vater, nicht im Hinblick auf Gott erzogen habe. Während sie ihn beschwor, ihr bei der Leitung ihres Sohnes freie Hand zu lassen, wagte sie es, den Baron anzuklagen, daß er einst einen Mann, wie Larssen, zum Hauslehrer seiner Kinder, einen Atheisten, wie den Doctor, zu seinem Umgange gemacht, und Helene mit einem Franzosen verheirathet habe, dessen Charakter ihm doch durch seinen Abfall von dem angestammten Herrscherhause selbst verdächtig gewesen sei. Niemals gewohnt sich im Unrecht zu glauben, hatten die Vorwürfe seiner Schwiegertochter den Baron sehr tief getroffen. Wie ein Kämpfer, der sich überlistet und auf dem eigenen Felde mit seinen eignen Waffen angegriffen sieht, hatte er vor dem schwächern aber dreisten Gegner, der sich in seinem vollen Rechte fühlte, die langbewahrte Überlegenheit nicht festzuhalten gewußt, bis unter dem Bestreben, ihren Sohn zu erziehen, Sidonie zur Herrschaft über seinen Vater und seinen Großvater gelangt war. Und wie Erich und der Baron sich den kirchlichen Formen des Christenthumes fügten, weil Sidonie dies als ein nothwendiges Beispiel für den Knaben ansah, so wurden Beide mehr und mehr in Sidoniens ganze Anschauungsweise hineingezogen, während der Adelstolz und die Starrheit des Barons die junge Frau nachtheilig beeinflußten.

Bald geschah auf dem Gute nicht die geringste Veränderung, ohne daß man Sidoniens Meinung dabei zu Rathe zog. Sie gewann die Thätigkeit lieb. Sie wußte zuweilen mit schnellem Blicke eine glückliche Entscheidung zu treffen, einen Ausweg zu finden, wo irgend ein Streit zwischen dem Baron und Erich sich aufgethan hatte. Dadurch ermuthigt, hatte sie angefangen, sich auch in die Angelegenheiten der Landleute und Gutsangehörigen nicht nur in berathender, sondern auch in erziehender Weise einzumischen.

Eine Weile war das ohne Anstoß fortgegangen. Man hatte sich ihrem Urtheile gefügt, man hatte es gern gesehen, wenn die stattliche Herrin bald in diesem, bald in jenem Hause vorgesprochen, wenn die Bauerfrauen in das Schloß gerufen und mit guten Lehren oder noch besseren Geschenken entlassen worden waren. Was ihm bequem ist, das nimmt Jeder an. Indeß Niemand hält eifersüchtiger auf sein gutes Recht und seine Willkür als der Bauer, und schon nach kurzer Zeit war es den Alten im Dorfe zu viel geworden, wenn die Frau Baronin ihnen mit Vorschlägen und mit Ermahnungen zu strengerer Zucht der Kinder und des Gesindes in den Weg gekommen war. Dennoch hatten sie geschwiegen, bis nach Friedrich's Verheirathung auch Auguste, von der Baronin angeregt, ihren Einfluß als Frau des Seelsorgers geltend zu machen und in gleicher Weise wie Sidonie zu verfahren begonnen hatte.

Vor Allem war es die Nachsichtslosigkeit der beiden Frauen, welche Anstoß und Widerwillen gegen sie erregte, und trotz Friedrich's und Erich's Vorstellungen war es grade in dieser Zeit zu einem beklagenswerthen Vorfalle gekommen, der eine gerechte Erbitterung im Dorfe hervorgerufen hatte.

Erich's Inspector, ein noch junger unverheiratheter Mann, hatte durch lange Zeit einen Liebeshandel mit der einzigen, ebenfalls unverheiratheten Tochter des Hofmanns unterhalten. Niemand hatte sonderlich Arg daran gehabt, bis das Mädchen Mutter geworden war. Das hatte Anfangs harte Vorwürfe, böse Stunden und Thränen gegeben, denn das Mädchen war der Liebling der alten Eltern. Da der Inspector sich aber erboten, für sein Kind zu sorgen, so hatten die Eltern, eben weil sie die Tochter liebten, sich beruhigt, und als er vollends zugesagt, ihr, wenn sich ein Mann für sie fände, etwas zur Einrichtung zu geben, waren Eltern und Tochter beruhigt gewesen. Die schöne Katharine hatte nach wie vor unter den Mädchen des Dorfes gearbeitet, die Burschen hatten sich nicht von ihr abgewendet. Es hatte vielmehr zu erwarten gestanden, daß sich ein Ehemann für sie finden und Alles in's Gleiche kommen werde, sobald sie ihres Kindes genesen war; denn die Landleute betrachten im Grunde diese sich immer wiederholenden Vorfälle meist ohne jene tiefe Entrüstung, mit denen die größere Civilisation und die höhere Bildung sie in ihrem Kreisen aufzunehmen gewohnt sind.

Kaum aber hatten Sidonie und Auguste von dem Ereignisse gehört, als sie die junge Person zu sich kommen ließen, die im Schlosse und in der Pfarre wohl gelitten, und zu manchen Hülfsleistungen benutzt worden war, und sie so lange mit Vorstellungen ihrer Schande, mit Hinweisung auf ihre zeitliche und himmlische Verlorenheit bestürmten, bis sie in eine Art von Tiefsinn versunken, den Versuch des Selbstmordes gemacht hatte. Entsetzt über die Verblendung der Armen, war Friedrich zu ihr geeilt, ihr klar zu machen, wie es grade in dem Zustande, in dem sie sich befinde, ihre Pflicht sei, ihr Leben und damit das Leben ihres Kindes zu erhalten, indeß seine Ermahnungen hatten Nichts bewirkt, als einen Aufschub ihrer That. Von Jugend auf an das Schloß gewöhnt, konnte sie es nicht ertragen, von Sidonie und Auguste verstoßen, und nach dem Beispiel der Herrinnen von der weiblichen Dienerschaft des Schlosses und der Pfarre mit abweisender Geringschätzung behandelt zu werden. Die Schwermuth hatte tiefe Wurzel in ihr geschlagen, und kaum war die junge Mutter so weit genesen, daß sie das Haus verlassen konnte, als sie ihrem Leben im Mühlenteich ein Ende gemacht hatte.

Je seltener und unerwarteter ein solcher Vorfall auf dem Lande war, um so heftiger zeigte sich der Schmerz der Eltern, um so größer die Entrüstung und das Mitleid im Dorfe, um so lauter war die Empörung gegen die Baronin und die Pfarrerin gewesen. Wohin man kam, konnte man es hören, daß es den Reichen und Vornehmen schlecht anstände, an dem Armen zu verdammen, was sie selbst noch schlimmer machten. Der junge Herr Baron, das wisse man von Alters her durch den Unteroffizier, den Sohn der alten Anna, der junge Herr Baron sei seiner Zeit in der Residenz auch kein Tugendspiegel gewesen. Er habe es mit allerlei Frauenzimmern gehalten, und die Fräuleins wären erst recht ihre absonderlichen Wege gegangen. Es hätte ja Niemand daraus klug werden können, warum das jüngste Fräulein mit einem Male ganz allein vom Schlosse fortgefahren, und nie mehr wiedergekommen sei, und was dergleichen üble Bemerkungen mehr waren.

Nichts aber wächst dem Menschen schneller über den Kopf, als ein Uebelwollen gegen seine Nebenmenschen, in dem er sich gehen läßt. Und da die Abneigung einen bestimmten Gegenstand haben will, gegen den sie sich wendet, vor Allem aber einen Gegenstand, den sie mit ihren Waffen treffen kann, so richtete der Haß der Leute sich plötzlich gegen den Inspector, den man als die Quelle alles Uebels auch für dasselbe entgelten lassen wollte.

Wohin er sich wendete, überall stieß er mit seinen Anordnungen und Befehlen auf Hindernisse und auf Ungehorsam. Die Arbeit litt darunter. Er mußte Erich's Beistand fordern, und die Frauen nahmen daraus Veranlassung, über die Widerspenstigkeit und Sittenlosigkeit der Dorfbewohner zu klagen, welche so weit gingen, daß sie eine Ermahnung zur Zucht als einen Eingriff in ihre Rechte betrachteten. Auf solche Weise ermuthigt, wagte der Inspector gegen Auguste die Bemerkung, daß die Frechheit der Bauern sich selbst unsaubern Tadel gegen die Herrschaft zu Schulden kommen lasse, und durch Auguste schnell davon benachrichtigt, hatte Sidoniens sittliche Empörung keine Grenzen mehr gekannt. Sie hatte von Erich gefordert, daß er selbst mit Friedrich sprechen, daß er ihn zur Strenge in seinem Amte, zu einer Strenge anhalten solle, welche allein auf einem so demoralisirten Boden Rettung bringen könne. Vor Allem jedoch hatte sie die Entfernung des Hofmanns sowohl als des Inspectors begehrt. [...]

5. Kapitel

Noch an demselben Nachmittage ging Friedrich auf das Schloß. Er hatte Auguste gebeten, ihn zu begleiten, weil er wünschte, daß sie bei der Auseinandersetzung, die er seinem Freunde zu machen vorhatte, gegenwärtig sein möchte. [...]

Die sonntägliche Stille, die Frische des Saales, in dem man das leise Summen einzelner Insecten hörte, welche sich aus dem sonnigen Garten in das schattige Zimmer verirrt hatten, der Duft der Blumen, die in großen chinesischen Vasen auf den Tischen standen, und vor Allem die Stattlichkeit der drei Schloßbewohner machten einen Eindruck des Friedens und der Schönheit. Auch schienen der alte Baron und seine Schwiegertochter heiter und wohl zufrieden zu sein. Nur auf Erich's Stirn lagerte unverkennbar ein Zug von Mißmuth, als er dem Freunde mit den Worten entgegentrat: »Du kommst grade recht, mir in einem Streite beizustehen, der sich über Weidewut's, über meines Sohnes Erziehung zwischen uns erhoben hat!«

»Einen Streit?« wiederholte Sidonie ablehnend, »wie magst Du eine Unterredung, in der es sich für's Erste einzig um eine theoretische Meinungsverschiedenheit handelt, nur als einen Streit bezeichnen?«

»Theoretische Auseinandersetzungen, beste Sidonie! sind bei vernünftigen Menschen die Vorläufer der praktischen Konsequenzen, und gegen diese wünsche ich bei Zeiten zu protestiren!«

Er sagte das lächelnd. Die Baronin lächelte auch, aber der oberflächlichste Beobachter konnte bemerken, daß hinter dieser lächelnden Außenseite sich ein tiefer Ernst verbarg.

»Ihr müsset dem Herrn Pfarrer wohl vor allen Dingen sagen, um was es sich hier handelt!« meinte der alte Baron, ein strenger Beobachter der Form.

»Es handelt sich einfach darum,« erklärte Erich, »daß mein Junge systematisch zum Egoisten, zu einem Sonderwesen erzogen wird, was sein Unglück machen muß in Zeiten wie die unseren. Das hat angefangen schon mit dem Tage seiner Geburt, schon mit dem Namen Weidewut, den jetzt kein Mensch mehr führt als er, und mit dem ihn zu nennen, die Bitten meiner Frau mich leider damals bestimmten.«

»Weidewut ist der schöne altpreußische Name Eures Ahnherren,« wendete die Baronin ein, »und ich fand es so erhebend, unsern Sohn sein Leben lang daran zu erinnern, in wie ferne Vorzeit sein Ursprung zurückreicht!«

»Es haben ihn auch alle Heidenbrucks geführt. Du selbst heißest Weidewut!« bekräftigte der Baron.

»Aber ich bin nicht so genannt worden, und je älter der Junge wird, je lästiger wird es ihm fallen, sich mit einem Namen rufen zu hören und zu unterzeichnen, der in unserer Welt so fremd und so auffallend ist, wie die Auerochsen, aus deren Hörnern dieser unser Ahnherr seinen Meth getrunken hat.«

Erich hielt inne, während Sidonie lächelte, und fuhr dann fort: »Das ist indeß eine Nebensache. Mag der Junge sich umtaufen, wenn es ihm einst nöthig scheint. Wogegen ich aber protestire, das ist gegen seine fortdauernde Einsamkeit. Wir Alle haben mit den Kindern im Dorfe gespielt, ich habe meine besten Stunden mit ihnen verlebt, und –«

»Mein Sohn!« unterbrach ihn der Baron, »es ist nicht nöthig, daß die Kinder alle Irrthümer der Eltern wiederholen! Du brauchst bei der Erziehung unseres Knaben die Fehler nicht nachzumachen, zu denen meine, von mir selbst jetzt sehr beklagte Vorliebe für die französischen Encyklopädisten mich verleitete.«

»Klagen Sie sich nicht an, theurer Vater!« meinte Sidonie. »Sie theilten die Irrthümer Ihrer Zeit. Diese Art von Erziehung à la Jean Jacques Rousseau, die Erziehung zur bürgerlichen Gleichheit, galt ja damals für ein Meisterstück, als eine Wohlthat für die Menschheit!«

»Ja! sie galt dafür,« sagte der Baron, »aber sie kann nicht länger dafür gelten, seit wir die Früchte sehen, welche die Freiheit, die sie lehrte, sowohl für die Staaten, als für die Familien getragen hat. Sie ist mir auch neu und befremdlich Deine Liebe für diese Freiheit der Erziehung, Erich! Deine Liebe für die Freiheit überhaupt!«

»Meine Liebe? Ich liebe eine Feuersbrunst nicht, und doch werde ich Weidewut turnen lernen lassen, damit er sich erretten kann aus Feuersnoth!«

»Aus dem Contacte mit der sogenannten Freiheit kann man nicht unversehrt hervorgehen, wie aus einem Feuer!« meinte der Baron. »Sieh Dich in unserm eigenen Hause um, und frage Dich dann, ob Du eine sogenannte freisinnige Erziehung vor Dir und Deinen Kindern zu vertreten wagst.«

»So unbedenklich,« rief Erich, »daß, falls ich nicht eine vollständige Aenderung aller Erziehungsgrundsätze für ihn erlangen kann, ich ihn schon von seinem nächsten Geburtstage ab einem öffentlichen Institute übergebe, obschon ich ihn sehr schwer vermissen werde!«

»Du bist Herr über Dein Kind!« sagte Sidonie mit einer Ruhe, welche neben ihres Mannes Ungeduld etwas sehr Edles hatte, »aber Du wirst mich nicht hindern, es als ein Unglück zu betrachten, wenn ein Knabe mit seinem siebenten Jahre den Segen der Mutterliebe und des Vaterhauses entbehren soll!«

Der Baron schüttelte beruhigend das Haupt. »Unbesorgt, Sidonie! Erich thut das nicht!« tröstete er.

Aber gerade die Zuversichtlichkeit seines Vaters, die fast einem Verbote gleich zu kommen schien, reizte Erich. »Ich müßte nicht von Dir erzogen sein, bester Vater!« rief er, »wenn ich nicht empfände, daß jeder Mann allein verantwortlich für seine Kinder ist, daß jeder Vater Herr über sie sein und nach seiner Einsicht für sie sorgen muß!«

»Unbedenklich!« meinte der Baron, »es dünkt mich jedoch, daß der Rath und die Erfahrung des Mannes nicht unbenutzt zu bleiben brauchen, der ihren Vater zu seiner eignen Selbstherrlichkeit erzogen hat.«

»Lieber Vater!« sagte Erich mit mühsam unterdrückter Ungeduld, »Deine Erfahrungen, Sidonien's Wünsche in allen Ehren, aber sie helfen uns nicht. Schlösset Ihr Euch nicht so absichtlich, so vollständig ab gegen Alles, was unsere Tage, was die neuere Literatur von Zeichen der Zukunft in sich tragen –« [...]

Diese Annäherung war mit der Herrschaft gewachsen, welche die Baronin über die Cousine ihres Mannes gewonnen. Ihr Einfluß auf Auguste war unverkennbar. Während sie das Selbstgefühl derselben untergrub und sie vollständig unterjochte, rühmte sie sich in ruhiger Ueberzeugung, daß sie Auguste für eine höhere Lebensauffassung erziehe. Sie behauptete, die Pfarrerin zu jener demüthigen Resignation angeleitet zu haben, ohne die kein Mensch sich glücklich fühlen, Niemand zur Zufriedenheit mit seinem Schicksale gelangen, Niemand sich neidlos denjenigen unterordnen könne, welchen der Wille Gottes bevorzugtere Verhältnisse angewiesen habe. Erich's Vorwurf, daß sie Auguste durch Demüthigungen erniedrige, lehnte Sidonie eben so bestimmt ab, als Auguste es bestritt, wenn Friedrich die Baronin der Herrschsucht anklagte und Augusten ihre knechtische Unterwürfigkeit gegen dieselbe tadelnd vorhielt. Auguste behauptete neben der Freigeisterei ihres Mannes den sittlichen Halt nicht entbehren zu können, den die Charakterfestigkeit und Religiosität der Baronin ihr gewährten. Sie hatte in Sidonie ihren Meister gefunden, denn Frauen wie Auguste, fügen sich nur den Menschen, werden nur von denjenigen erzogen, die ihnen eine harte Hand auflegen und ein schweres Joch. Herrschsucht und Knechtessinn bedürfen, suchen und finden einander, sich gegenseitig zu verderben. [...]

6. Kapitel [Das Gespräch der Freunde]

Sie waren noch nicht lange in Erichs Bibliothek gewesen, deren Fensterthüren sich nach dem Garten öffneten, als sie in's Freie hinausschritten, und umhergehend und plaudernd wieder auf ihre früheren Gespräche über Erziehung im Allgemeinen, und auf die des Knaben im Besonderen zurückkamen.

»Ich befinde mich Sidonien gegenüber«, sagte Erich, »in einem sonderbaren Zwiespalt. Ich stimme mit ihr in allen ihren Ueberzeugungen zusammen. Ihre religiösen Ansichten sind die meinen. Ich theile ihre Liebe für das Vaterland und das Herrscherhaus, die geradezu einen poetischen Charakter bei ihr hat. Ihr Festhalten an dem Alten, Hergebrachten hängt so untrennbar mit der Treue und Tiefe ihres Wesens zusammen, daß ich nicht den Muth habe, ihren kleinen Vorurtheilen entgegen zu treten, aus der natürlichen Scheu, sie in ihrem innersten Empfinden zu verletzen. Selbst ihr strenges Urtheil in moralischer und sittlicher Hinsicht ist mir achtenswerth, weil es aus ihrer wundervollen Reinheit und aus ihrer echt deutschen Weiblichkeit entspringt – –« Er stockte plötzlich und schwieg.

»Dieser Vordersatz fordert seinen Nachsatz,« bemerkte Friedrich, »der mit ›dennoch‹ beginnen muß.«

»Dennoch,« sprach der Baron nachdenklich, »dennoch gehen wir vollkommen auseinander, sobald es auf die praktische Ausführung unserer Ueberzeugungen ankommt.«

Wie der Bildhauer es lernt, die Stärke der Meißelschläge dem Materiale anzupassen, indem er arbeitet, so hatte die Erfahrung seines Amtes Friedrich gelehrt, die Menschen zu behandeln. Denn wie es Unverstand wäre, wollte der Bildhauer dem spröden Alabaster bieten, was er dem festen Marmor zumuthen darf, so ist es Unbarmherzigkeit und Rohheit, allen Naturen mit jener rückhaltslosen Wahrheit zu begegnen, mit der man sich allein genug thut, während man denjenigen, dem sie gelten sollte, nur zu oft damit verwundet, ohne ihm mit dem Schmerze zu nützen oder ihm zu helfen. Ueberhaupt geht man meist mit leblosen Dingen verständiger und vorsichtiger um, als mit dem Menschen, weil ein geistiger Schade, den man anrichtet, nicht gleich so ersichtlich ist, wie ein Riß in einem Stoffe oder ein Bruch in einem Gefäße.

Friedrich kannte die verehrende Liebe seines Freundes für Sidonie, und dies benutzend, sagte er: »Sidonie ist Eins in sich, darin liegt ihre Gewalt. Ihr Glaube an einen persönlichen Gott ist die Basis ihres Wesens, ihrer Anschauungen, und da sie phantasielos ist, so ist sie unbestechlich!«

»Ja!« rief Erich, »sie ist unter allen Frauen, die ich kannte, die Einzige, deren Herz eben so unbestechlich ist, als ihr Verstand!«

»So mußt Du,« fiel ihm der Freund in's Wort, »Dich ihr gegenüber leicht im Nachtheil finden, denn Dein Herz ist mächtig in Dir, Du bist viel weicher als Sidonie!«

Der Baron gab das mit Zögern zu, und Friedrich fuhr fort: »Ich glaube überhaupt, lieber Erich! der Zwiespalt, dessen Du erwähnst, liegt nicht zwischen Dir und Deiner Frau, sondern in Dir selber, in Dir allein. Dein Verstand und Dein Empfinden sind getrennt. Du möchtest die Verstandesüberzeugung unserer Tage mit den Dir lieb und ehrwürdig gewordenen Traditionen der Vergangenheit vereinen. Das aber ist unmöglich, lieber Freund! und daran leidest Du Sidonien gegenüber.«

Erich fand sich getroffen. »Es ist wahr,« sagte er, »ich fühle es wie einen doppelten Menschen in mir. Ich kann meine Einsicht nicht blind machen, welche den Sturz unserer ganzen socialen Zustände oft nahe vor sich erblickt, welche die Unhaltbarkeit der bestehenden Verhältnisse begreift – und doch hänge ich an dem Alten. Ich sehe für Europa Revolutionen voraus, die nicht nur die Monarchien und mit ihnen den Adel vernichten, sondern alle Bedingungen des Besitzes verändern können, aber grade darum fühle ich mich wieder gedrungen, an dem Untergehenden festzuhalten, an das so vieles Erhabene und Schöne uns bindet.« [...]

»Wenn die Axt des Siedlers in den Urwald kommt, muß sie zerstören, ehe sie bauen kann,« sagte Friedrich. »Du könntest mich mit gleichem Rechte fragen, was hat des Siedlers Axt geschaffen, das mit der Herrlichkeit jener schützenden Bäume, das mit der Nährkraft der Palmen, das mit der Schönheit der Lianen zu vergleichen wäre? Was können die öde Fläche, die niedergebrannten Gräser, die verkohlten Wurzeln bieten? Aber wenn die Hütten sich erheben, wenn sie zu Häusern, zu Städten erwachsen, in denen freie Menschen ein gesichertes Dasein führen, in denen die Bruderliebe den Verfolgten willkommen heißt, den Andersdenkenden ehrt, dem Thätigen Raum für seine Thatkraft bietet, dann zeigt sich die Schöpferkraft der Zerstörung! Dann zeigt es sich, daß die scharfe Axt und das verzehrende Feuer kostbarere Früchte zu bringen vermögen, als der uralte Baumwuchs, den sie gefällt.« Es lag etwas Seherisches in der Begeisterung, mit der er diese Worte gesprochen hatte. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, als erspähe er das Urbild seines innern Schauens. Erich war in Gedanken versunken, auch Friedrich schwieg lange. Endlich hob er von Neuem an. »Als ich mein Amt antrat,« sagte er, »war mein Glaube an die Dogmen schon erschüttert, aber ich wurzelte fest in dem Glauben an einen persönlichen Gott. Auf diesen gestützt, hoffte ich mein Lehramt segensreich durchführen zu können. Ich hoffte eine Versöhnung zu finden zwischen der Natur des Menschen, den Lehren der Religion und den Gesetzen des Staates. Ich glaubte durch Erziehung die Kluft ausfüllen, und vorbeugen zu können, wo das unmöglich war. Ich sah mein Amt als einen Beruf an, das Feindliche, das Widerstrebende zu versöhnen. Aber der Einblick in das Leben, in das Herz, in die Natur des Menschen, haben meine Hoffnung auf die Möglichkeit einer solchen Versöhnung vernichtet, meinen Glauben an eine Vorsehung, meinen Glauben an die absolute Sündhaftigkeit des Menschen, meine Achtung vor unseren Gesetzen zerstört – und sie sind es nicht nur in mir, sie sind es in vielen Anderen, die sich dessen nur nicht klar bewußt sind. Mehr als die Kritik der Gelehrten, mehr als Strauß und Feuerbach haben mein sterbender Vater und der alte Bauer Schöne mich gelehrt. Mehr als das Urtheil der Forscher hat mich die täglich gemachte Erfahrung von der Unvereinbarkeit überzeugt, in der die Gesetze der Bibel und des Staates sich mit unseren Naturbedingungen befinden –« [...]

(Fanny Lewald: Wandlungen 3. Band Kapitel 4-6)

Bemerkenswert, wie hier mit der Begründung, dass "die scharfe Axt und das verzehrende Feuer kostbarere Früchte zu bringen vermögen, als der uralte Baumwuchs" und andererseits die "Naturbedingungen" des Menschen die Unangemessenheit menschlicher Gesetze belegen sollen. Es ist eine ausgesprochen aufklärerische Argumentation.


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