23 Februar 2021

Die Reichsgründung im Werk Wilhelm Raabes

 Christian Thomas: Mitten im wirbelndsten Leben

"[...] Ein Eisenbahnunglück! „Wer es schon mitgemacht hat, weiß es, wie die Welt in solcher Lage sich gibt“, meinte der Autor so lakonisch wie ironisch, wusste doch Wilhelm Raabe (wahrscheinlich), dass sein Eisenbahnunglück das (sozusagen) erste in der deutschen Literatur war, zu finden in seiner Erzählung „Meister Autor“, die 1874 entstand, drei Jahre nach der Reichsgründung. Thema, Raabes Thema: der Wandel aller Lebensverhältnisse. Die Eisenbahn wurde zum Sinnbild bedrohlicher Beschleunigung, der Crash zur Allegorie des Zusammenstoßes von Stadt und Land.

Modernisierung und Reichsgründung – Gründerzeitfieber. Fiebrig die Menschen in der Erzählung „Horacker“, die 1876 entstand, umtriebig in „Fabian und Sebastian“ (1881), in „Prinzessin Fisch“ (1883) oder „Villa Schönow“ (1884). Und wie aufgewühlt erst in „Pfisters Mühle“, dem ersten deutschen Umweltroman, 1885 veröffentlicht. Die Umstände der Reichsgründung ließen Raabe nicht los, 1892 erschien „Gutmanns Reisen“, die besonders exquisit erzählte Geschichte der Vorgeschichte der neuen Zeit. Bei allem spekulierte auch der freie Schriftsteller Raabe auf schroff veränderte Voraussetzungen. „Wir sind hier“, schrieb er einem Briefpartner, „der festen Meinung, dass nach abgeschlossenem Frieden eine sehr günstige Zeit für die ‚Romanschreiber‘ kommt.“ [...] 
Mag bürgerliches Behagen auch beschworen werden in Raabes Romanwelt - doch noch einmal: wer spricht? Eine Figur, ein Erzähler, der Autor? Immer wieder zeigt sich Raabes vielperspektivische Romanwelt von einer äußerst ungemütlichen und beunruhigenden Seite. Dem plappernden Optimismus und dem törichten Triumph einer Figur gegenüber verhält sich in „Kloster Lugau“ eine zweite Stimme, einmal mehr eine Frau, „grimmig“. Die Reaktion gilt dem Kriegsausgang, vor allem dem Wort „traumsicherer Siegesgewissheit“. Unüberhörbar die Reserviertheit gegenüber den Umständen der Reichsgründung unter Raabes klugen Figuren, unübersehbar der Groll des Autors selbst. [...]"

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