06 Februar 2021

Goethe: Die Vögel (nach Aristophanes)

"[...] Treufreund (gegen die Zuschauer). Unsere Geschichte ist mit wenigen Worten diese: Wir konnten's in der Stadt nicht mehr aushalten. Denn, ob wir gleich nicht viel verlangten, so kriegten wir doch immer weniger als wir hofften; was wir thaten wurde gut bezahlt, und wir hatten immer weniger als wir brauchten; wir schränkten uns auf alle mögliche Weise ein, und konnten niemahls auskommen. Wir lebten gern auf unsere Weise, und konnten selten eine Gesellschaft finden, die für uns paßte. Kurz, wir sehnten uns nach einem neuen Lande, wo's eben anders zuginge.

Hoffegut. Und haben uns auf dem Wege vortrefflich verbessert.

Treufreund. Der Ausgang gibt den Thaten ihre Titel. – Große Verdienste bleiben in den neuern Zeiten selten verborgen; es gibt Journale, wo man jede edle Handlung gleich verewigt. Wir haben gehört, daß auf dem Gipfel dieses überhohen Berges ein Schuhu wohnt, der mit nichts zufrieden ist, und dem wir deßwegen große Kenntnisse zuschreiben. Sie nennen ihn im ganzen Lande den Kriticus. Er sitzt den Tag über zu Hause, und denkt Alles durch, was die Leute gestern gethan haben, und ist immer noch ein Mahl so gescheidt, als einer der vom Rathhaus kommt. Wir vermuthen, daß er alle Städte, obwohl nur bey Nacht, wie der hinkende Teufel, wird gesehen haben, und daß er uns einen Ort wird anzeigen können, wo wir mit Vergnügen unser Leben zubringen mögen. Sieh doch, sieh, das schöne Gemäuer dahinten! Ist's doch als wenn die Feen es hin gehext hätten.

Hoffegut. Entzückst du dich wieder über die alten Steine?

Treufreund. Gewiß dahinten wohnt er. Heda, he! Schuhu! he! he! Herr Schuhu! Ist Niemand zu Hause?

Papagey (tritt auf und spricht schnarrend). Herren, meine Herren! Wie haben wir die Ehre? Wo kommen Sie her? Welch eine angenehme Überraschung!

Treufreund. Wir kommen den Herrn Schuhu hier oben aufzusuchen.

Hoffegut. Und haben fast die Hälse gebrochen, um die Ehre zu haben ihm aufzuwarten.

Papagey. Was thut man nicht, um die Bekanntschaft eines großen Mannes zu gewinnen! Sie werden meinem Herrn willkommen seyn. Wenn er gleich kein freundlich Gesicht macht, so sieht er's doch gern, wenn man ihn besucht.

Treufreund. Sind Sie sein Diener?

Papagey. Ja, so lang' als mir's denkt.

Hoffegut. Wie ist denn Ihr Nahme?

Papagey. Man heißt mich den Leser.

Treufreund. Den Leser!

Papagey. Und von Geschlecht bin ich ein Papagey.

Hoffegut. Das hätt' ich Ihnen eher angesehen.

Treufreund. Seyd ihr denn mit euerm Herrn zufrieden?

Papagey. Ach ja, ja. Wir schicken uns recht für einander. Er denkt den ganzen Tag, und ich denke gar nichts; er urtheilt über Alles, und das ist mir sehr recht, da brauch' ich's nicht zu thun. Wenn mir so was recht in der Seele wohl thut, wenn ich's auswendig gelernt habe, ich mich den ganzen Tag mit trage, da geh' ich eben des Abends hin und frage ihn, ob's auch was taugt?

Treufreund. Ihr müßt aber hier jämmerliche lange Weile haben.

Papagey. Glaubt das nicht; wir sind von Allem unterrichtet.

Hoffegut. Was thut und treibt ihr aber den ganzen Tag?

Papagey. Je nun, wir warten eben bis der Abend kommt,

Treufreund. Ihr habt aber wahrscheinlich noch besondre Liebhabereyen?

Papagey. Ich bin ein erklärter Freund von Nachtigallen, Lerchen und andern dergleichen Singvögeln. Ganze Stunden lang bey Tag und Nacht kann ich stehen und ihnen zuhören, und so entzückt seyn, so selig seyn, daß ich manchmahl meine, die Federn müßten mir vom Leibe fließen. Zum Unglück ist mein Herr auch sehr auf diese Thierchen gestellt, nur von einer andern Seite; wo er eins habhaft werden kann, schnaps! hat er's bey'm Kopfe und rupft's. Kaum ein Paar hat er auf mein inständiges Bitten hier oben leben lassen, und just nicht die besten.

Treufreund. Ihr solltet ihm remonstriren.

Papagey. Das hilft nichts, wenn er hungrig ist.

Hoffegut. Ihr solltet ihm ander Futter unterschieben.

Papagey. Das geschieht auch, solang's möglich ist, und das ist eben mein Leidwesen. Wenn's nur immer Mäuse gäbe. Denn Mäuse find't er so delicieux wie Lerchen. und die schönste Lerche schnabelirt er wie eine Maus.

Hoffegut. Warum dient ihr ihm denn aber?

Papagey. Er ist nun einmahl Herr.

Hoffegut. Ich ließ' ihn hier oben in seiner Wüste, und suchte mir dort unten so ein schönes, allerliebstes, dichtes, feuchtliches Hölzchen, das voller Nachtigallen wäre, und wo die Lerchen über dem Felde dran zu Hunderten in der Luft herum sängen; da wollte ich mir's recht wohl werden lassen!

Papagey. Ach wenn's nur schon so wäre!

Treufreund. Nun so macht, daß ihr von ihm los kommt.

Papagey. Wie soll ich's anfangen?

Hoffegut. Gibt er euch denn so gute Nahrung, daß ihr's wo anders nicht besser haben könnt?

Papagey Behüte Gott! Ich muß mir mein Bißchen selbst suchen. Ja, wenn ich Gebeine und Gerippe fressen könnte; das ist Alles, was er von seinen Mahlzeiten übrig läßt.

Treufreund. Das heiße ich ein Attachement! Macht doch, daß wir einen Herrn kennen lernen, der so einen treuen Diener verdient.

Papagey. Nur stille, stille, daß ihr ihn nicht aufweckt! denn wenn man ihn aus den Träumen stört, da ist er so unartig wie ein Kind; sonst ist er ein recht gesetzter Mann. Doch ich höre, daß er eben von seinem Mittagsschläfchen erwacht, sich schüttelt; da ist er am freundlichsten; ich will euch melden. – Mein theurer Herr, ich bitte euch, hier sind ein Paar liebenswürdige Fremde! Der Himmel ist bedeckt, es wird euern Augen nichts schaden.

Schuhu (tritt auf.) Über was verlangen die Herrn mein Urtheil?

Treufreund. Nicht sowohl Urtheil als guten Rath.

Papagey. Das ist eben recht seine Sache. Ich habe noch nicht gesehen, daß Einer etwas gemacht hat, den er nicht hinterdrein mit der Nase auf's Beßre gestoßen hätte.

Schuhu. Einen guten Rath, meine Herren?

Hoffegut. Oder auch eine Nachricht, wie Sie's nehmen wollen.

Papagey. Damit wird er Ihnen auch dienen können; denn er ist von Allem unterrichtet.

Schuhu. Ja, ich habe Correspondenz mit allen Malcontenten in der ganzen Welt; da erhalte ich die geheimsten Nachrichten, Papiere und Documente; und wenn man mit Leuten spricht, die unzufrieden sind, da erfährt man recht die Wahrheit.

Treufreund. Ganz natürlich!

Hoffegut. Ohne Zweifel.

Papagey O gewiß!

Schuhu. Ich habe meine rechte Freude, allen Vögeln bange zu machen. Es wird keinem wohl, wenn er mich nur von weitem wittert. Sie führen ein Gekreische und Gekrächze und Gekrakse, und können, wie ein schimpfendes altes Weib, gar von dem Orte nicht wegkommen, wo man sie ärgert. Es ist aber auch Einer oder der Andere sich bewußt, daß ich ihm seine Jungen anatomirt habe, um ihm zu zeigen, wie er ihnen hätte sollen schärfere Flügel, rüstigere Schnäbel und wohlgebautere Beine anschaffen.

Treufreund. Wir haben uns also an die rechte Schmiede gewendet; denn wir suchen eine Stadt, einen Staat, wo wir uns besser befänden, als da, wo wir herkommen.

Schuhu. Wenn Sie Nachricht haben wollten von einem wo's schlimmer hergeht, damit könnt' ich eher dienen. Seyn Sie versichert, kein Volk in der Welt weiß sich aufzuführen, und kein König zu regieren.

Hoffegut. Und sie leben doch Alle.

Schuhu. Das ist eben das Schlimmste. Aber was vertreibt Sie aus Ihrem Vaterlande?

Treufreund. Die ganz unerträgliche Einrichtung. Bedenken Sie, wenn wir zu Hause saßen und ein Pfeifchen Tabak rauchten, oder in's Wirthshaus gingen und uns ein Gläschen alten Wein schmecken ließen, wollte uns kein Mensch für unsere Mühe bezahlen. Was wir am liebsten thaten, war am strengsten verbothen, und wenn wir es ja einmahl doch probirten, wurden wir für unsere gute Meinung noch dazu gestraft.

Schuhu. Sie scheinen seltsame Begriffe zu haben.

Hoffegut. O nein! unsere meisten Freunde sind so gesinnt.

Schuhu. Allein, was für eine Stadt suchen Sie eigentlich?

Treufreund. O eine ganz unvergleichliche! so eine weiche, wohlgepolsterte – so eine, wo's einem immer wohl wäre.

Schuhu. Es gibt verschiedene Arten von Wohlseyn.

Treufreund. Eine Stadt, wo es einem nicht fehlen könnte, alle Tage an eine wohlbesetzte Tafel geladen zu werden.

Schuhu. Hm!

Hoffegut. So eine Stadt, wo vornehme Leute die Vortheile ihres Standes mit uns geringern zu theilen bereit wären.

Schuhu. He!

Treufreund. Eben eine Stadt, wo die Regenten fühlten, wie es dem Volk, wie es einem armen Teufel zu Muthe ist.

Schuhu. Gut!

Hoffegut. Ja, eine Stadt, wo reiche Leute Zinsen gäben, damit man ihnen nur das Geld abnähme und verwahrte.

Schuhu. So!

Treufreund. Eine Stadt, wo Enthusiasmus lebte, wo ein Mann, der eine edle That gethan, der ein gutes Buch geschrieben hätte, gleich auf zeitlebens in Allem frey gehalten würde.

Schuhu. Sind Sie ein Schriftsteller?

Treufreund. Ey wohl!

Schuhu. Sie auch?

Hoffegut. Freylich! wie alle meine Landsleute.

Schuhu. Da gehören Sie vor meinen Stuhl.

Hoffegut. Wenn Sie was dazu beytragen können, so sorgen Sie, daß wir besser bezahlt werden.

Schuhu. Das bekümmert mich nicht.

Treufreund. Daß wir nicht nachgedruckt werden.

Schuhu. Das geht mich nichts an.

Hoffegut. Eine Stadt, wo Vater und Mutter nicht gleich so gräßliche Gesichter schnitten, wenn man sich ihren liebenswürdigen Töchtern nähert.

Schuhu. Wie?

Treufreund. So eine Stadt, wo Ehemänner einen Begriff von dem bedrängten Zustande eines unverheiratheten wohlgesinnten Jünglings hätten.

Schuhu. Was?

Hoffegut. Eine Stadt, wo ein glücklicher Autor weder Schuster noch Schneider, weder Fleischer noch Wirth zu bezahlen brauchte, da wo mir selbst ein niedliches Schätzchen ihre Annehmlichkeiten gratis aufdränge, weil ich einmahl gewußt habe, ihr Herz zu rühren.

Schuhu. Zu wem, denkt ihr, daß ihr gekommen seyd?

Treufreund. Wie so?

Schuhu. Wo finde ich Worte, die eure Ungezogenheit ausdrücken?

Hoffegut. Sonst habt ihr deren doch einen guten Vorrath.

Schuhu. Schändlich! und was schlimmer ist, abscheulich! und was schlimmer ist, gottlos! und was schlimmer ist, abgeschmackt!

Treufreund. Er hat die Leiter erstiegen.

Schuhu. Für euch ist kein Weg als in's Zucht- oder in's Tollhaus. (Ab.)

[Als die übrigen Vögel die Menschen erkennen, wollen sie sich auf sie stürzen.. Tierfreund rettet sie durch seine Rednergabe.]

Treufreund. Aber vergebens! Wir, im Herzen wie Hannibal, oder ein Rachsüchtiger auf dem englischen Theater, ungebeugt durch die Noth, ohne Dank gegen tyrannische Wohlthäter, schmiedeten einen doppelten, heimlichen, großen Anschlag – unserer Freyheit und ihres Verderbens. – Ist es der Bescheidenheit erlaubt, Aufmerksamkeit auf ihre Thaten zu lenken: o! so laßt mich euch bemerklich machen, daß sonst jeder geflügelte Gefangene schon sich selig fühlt, wenn das Thürchen seines Kerkers sich eröffnet, der Faden, der ihn hält, zerreißt, und er sich mit einem schnellen Schwung aus dem Angesichte seiner Feinde entfernen kann. Aber Wir, ganz anders gesinnt, verachteten oft eine leichte Gelegenheit zur Freyheit; andere Plane wechselten wir im Busen, und saßen lauschend und getrost indeß auf dem Stängelchen.

Hoffegut. Die Federn fangen mir an zu wachsen, ich werde zum Vogel, wenn du so fortfährst.

Treufreund. Wer lügen will, sagt man, muß sich erst selbst überreden. (Zu den Vögeln.) Was uns täglich in die Augen fiel, war ihre Einbildung und ihre Albernheit, ihre Untüchtigkeit etwas vorzunehmen, ihr Müßiggang, ihre plumpe Gewaltthätigkeit und ihr ungeschickter Betrug. Ach! – seufzeten wir so oft in der Stille – soll dieß Volk, so unwürdig von der Erde genährt zu werden, die ihnen durch den Diebstahl des Prometheus verrätherisch zugewandte Herrschaft so mißbrauchen, und sie den urältesten Herren, dem ersten Volke, vorenthalten!

Erster Vogel. Wer ist das erste Volk?

Treufreund. Ihr seyd's! Die Vögel sind das erste, urälteste Geschlecht, vom Schicksale bestimmt, Herren zu seyn des Himmels –

Vögel. Des Himmels?

Treufreund. Und der Erde!

Vögel. Und der Erde?

Treufreund. Nicht anders!

Vögel. Aber wie?

Treufreund. Denn nicht allein die Menschen, sondern auch die Götter vorenthalten euch euer rechtmäßiges Erbtheil. Sie sitzen auf euern väterlichen Thronen; und ihr indeß, wie armselige Vertriebene, einzelne Ausschößlinge einer alten Wurzel, werdet auf euerm eignen Boden, wie in einem fremden Garten, als Unkraut behandelt.

Zweyter Vogel. Er rührt mich!

Treufreund. Die Thränen kommen mir in die Augen, wenn ich euch ansehe. Ein Prinz, dessen Ältern von Reich und Krone vertrieben worden, der seiner Sicherheit wegen in armseligen Hütten bey Fischern sein Leben zubringen muß – wird durch den Zufall einem Freunde vom Hause, einem würdigen Generale entdeckt; dieser eilt, ihn aufzusuchen, und wirft sich ihm zu Füßen – Nein, ich würde nicht mit mehr Rührung die Knie des entstellten Erhabenen umfassen, nicht mit mehr wahrer Inbrunst ihm mein Leben, meine Treue, mein Vermögen anbiethen, als ich mich euch nähere, und zum ersten Mahl seit langer Zeit einen hoffnungsvollen Schmerz genieße.

Hoffegut. Sie schweigen. Wahrhaftig sie schluchzen, sie trocknen sich die Augen. Sie sind doch noch zu rühren! So ein Publicum möcht' ich küssen.

Erster Vogel. Du bringst uns ein unerwartetes Licht vor die Augen.

Hoffegut. Sie geberden sich wie Fasanen, die man bey der Laterne schießt. Wie willst du auskommen? Du hast dich in einen schlimmen Handel gemischt.

Treufreund. Merk' auf und lerne was! (Zu den Vögeln.) Es wird euch bekannt seyn, ihr werdet gelesen haben –

Vögel. Wir haben nichts gelesen.

Treufreund (der den Perioden in eben dem Tone wieder aufnimmt). Ihr weder nicht gelesen haben, es wird euch nicht bekannt seyn, daß nach dem uralten Schicksal, die Vögel das Älteste sind.

Vögel. Wie beweis't ihr das?

Hoffegut. Ich bin selbst neugierig.

Treufreund. Ganz leicht. Es sagt der Dichter Periplectomenes, da er vom Anfang der Anfänge spricht:

    Und im Schooße der Urwelt, voll ruhender innrer Geburten,
    Lag das Ey des Anfangs, erwartend Leben und Regung.

Nun wo will das Ey hergekommen seyn, wenn es kein Vogel gelegt hat? [...]"

(Goethe: Die Vögel (nach Aristophanes) )


Zum Vergleich:

Aristophanes: Die Vögel (Text bei Zeno.org)   (Wikipedia)




Keine Kommentare: