17 Februar 2021

Goethe: Hermann und Dorothea - Die Flüchtlinge und Hermann

 

Kalliope

Schicksal und Anteil

»Hab ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen!

Ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht funfzig,

Deucht mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern.

Was die Neugier nicht tut! So rennt und läuft nun ein jeder,

Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen.

Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn, ist's immer ein Stündchen,

Und da läuft man hinab, im heißen Staube des Mittags.

Möcht ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen das Elend

Guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe,

Leider das überrheinische Land, das schöne, verlassend,

Zu uns herüberkommen und durch den glücklichen Winkel

Dieses fruchtbaren Tals und seiner Krümmungen wandern.

Trefflich hast du gehandelt, o Frau, daß du milde den Sohn fort

Schicktest, mit altem Linnen und etwas Essen und Trinken,

Um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen.

Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt die Hengste!

Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich

Säßen viere darin und auf dem Bocke der Kutscher.

Diesmal fuhr er allein; wie rollt' es leicht um die Ecke!«

So sprach, unter dem Tore des Hauses sitzend am Markte,

Wohlbehaglich, zur Frau der Wirt zum Goldenen Löwen.


Und es versetzte darauf die kluge, verständige Hausfrau:

»Vater, nicht gerne verschenk ich die abgetragene Leinwand;

Denn sie ist zu manchem Gebrauch, und für Geld nicht zu haben,

Wenn man ihrer bedarf. Doch heute gab ich so gerne

Manches bessere Stück an Überzügen und Hemden;

Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.[583]

Wirst du mir aber verzeihn? denn auch dein Schrank ist geplündert

Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,

Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,

Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.« 

(Goethe: Hermann und Dorothea, 1. Gesang)


Terpsichore

Hermann

[590] Als nun der wohlgebildete Sohn ins Zimmer hereintrat,

Schaute der Prediger ihm mit scharfen Blicken entgegen

Und betrachtete seine Gestalt und sein ganzes Benehmen

Mit dem Auge des Forschers, der leicht die Mienen enträtselt;

Lächelte dann und sprach zu ihm mit traulichen Worten:

»Kommt Ihr doch als ein veränderter Mensch! Ich habe noch niemals

Euch so munter gesehn und Eure Blicke so lebhaft.

Fröhlich kommt Ihr und heiter; man sieht, Ihr habet die Gaben

Unter die Armen verteilt und ihren Segen empfangen.«


Ruhig erwiderte drauf der Sohn mit ernstlichen Worten:

»Ob ich löblich gehandelt? ich weiß es nicht; aber mein Herz hat

Mich geheißen zu tun, so wie ich genau nun erzähle.

Mutter, Ihr kramtet so lange, die alten Stücke zu suchen

Und zu wählen; nur spät war erst das Bündel zusammen,

Auch der Wein und das Bier ward langsam, sorglich gepacket.

Als ich nun endlich vors Tor und auf die Straße hinauskam,

Strömte zurück die Menge der Bürger mit Weibern und Kindern

Mir entgegen; denn fern war schon der Zug der Vertriebnen.

Schneller hielt ich mich dran und fuhr behende dem Dorf zu,

Wo sie, wie ich gehört, heut übernachten und rasten.

Als ich nun meines Weges die neue Straße hinanfuhr,

Fiel mir ein Wagen ins Auge, von tüchtigen Bäumen gefüget,

Von zwei Ochsen gezogen, den größten und stärksten des Auslands,

Nebenher aber ging, mit starken Schritten, ein Mädchen;

Lenkte mit langem Stabe die beiden gewaltigen Tiere,

Trieb sie an und hielt sie zurück, sie leitete klüglich.

Als mich das Mädchen erblickte, so trat sie den Pferden gelassen[590]

Näher und sagte zu mir: ›Nicht immer war es mit uns so

Jammervoll, als Ihr uns heut auf diesen Wegen erblicket.

Noch nicht bin ich gewohnt, vom Fremden die Gabe zu heischen,

Die er oft ungern gibt, um loszuwerden den Armen;

Aber mich dränget die Not zu reden. Hier auf dem Strohe

Liegt die erst entbundene Frau des reichen Besitzers,

Die ich mit Stieren und Wagen noch kaum, die Schwangre, gerettet.

Spät nur kommen wir nach, und kaum das Leben erhielt sie.

Nun liegt, neugeboren, das Kind ihr nackend im Arme,

Und mit wenigem nur vermögen die Unsern zu helfen,

Wenn wir im nächsten Dorf, wo wir heute zu rasten gedenken,

Auch sie finden, wiewohl ich fürchte, sie sind schon vorüber.

Wär Euch irgend von Leinwand nur was Entbehrliches, wenn Ihr

Hier aus der Nachbarschaft seid, so spendet's gütig den Armen.‹


Also sprach sie, und matt erhob sich vom Strohe die bleiche

Wöchnerin, schaute nach mir; ich aber sagte dagegen:

›Guten Menschen, fürwahr, spricht oft ein himmlischer Geist zu,

Daß sie fühlen die Not, die dem armen Bruder bevorsteht;

Denn so gab mir die Mutter, im Vorgefühle von Eurem

Jammer, ein Bündel, sogleich es der nackten Notdurft zu reichen.‹

Und ich löste die Knoten der Schnur und gab ihr den Schlafrock

Unsers Vaters dahin und gab ihr Hemden und Leintuch.

Und sie dankte mit Freuden und rief: ›Der Glückliche glaubt nicht,

Daß noch Wunder geschehn; denn nur im Elend erkennt man

Gottes Hand und Finger, der gute Menschen zum Guten

Leitet. Was er durch Euch an uns tut, tu er Euch selber.‹

Und ich sah die Wöchnerin froh die verschiedene Leinwand,

Aber besonders den weichen Flanell des Schlafrocks befühlen.

›Eilen wir‹, sagte zu ihr die Jungfrau, ›dem Dorf zu, in welchem

Unsre Gemeine schon rastet und diese Nacht durch sich aufhält;

Dort besorg ich sogleich das Kinderzeug, alles und jedes.‹

Und sie grüßte mich noch und sprach den herzlichsten Dank aus,

Trieb die Ochsen; da ging der Wagen. Ich aber verweilte,

Hielt die Pferde noch an; denn Zwiespalt war mir im Herzen,

Ob ich mit eilenden Rossen das Dorf erreichte, die Speisen[591]

Unter das übrige Volk zu spenden, oder sogleich hier

Alles dem Mädchen gäbe, damit sie es weislich verteilte.

Und ich entschied mich gleich in meinem Herzen und fuhr ihr

Sachte nach und erreichte sie bald und sagte behende:

›Gutes Mädchen, mir hat die Mutter nicht Leinwand alleine

Auf den Wagen gegeben, damit ich den Nackten bekleide,

Sondern sie fügte dazu noch Speis und manches Getränke,

Und es ist mir genug davon im Kasten des Wagens.

Nun bin ich aber geneigt, auch diese Gaben in deine

Hand zu legen, und so erfüll ich am besten den Auftrag;

Du verteilst sie mit Sinn, ich müßte dem Zufall gehorchen.‹

Drauf versetzte das Mädchen: ›Mit aller Treue verwend ich

Eure Gaben; der Dürftige soll sich derselben erfreuen.‹

Also sprach sie. Ich öffnete schnell die Kasten des Wagens,

Brachte die Schinken hervor, die schweren, brachte die Brote,

Flaschen Weines und Biers und reicht' ihr alles und jedes.

Gerne hätt ich noch mehr ihr gegeben; doch leer war der Kasten.

Alles packte sie drauf zu der Wöchnerin Füßen und zog so

Weiter; ich eilte zurück mit meinen Pferden der Stadt zu.«


Als nun Hermann geendet, da nahm der gesprächige Nachbar

Gleich das Wort und rief: »O glücklich, wer in den Tagen

Dieser Flucht und Verwirrung in seinem Haus nur allein lebt,

Wem nicht Frau und Kinder zur Seite bange sich schmiegen!

Glücklich fühl ich mich jetzt; ich möcht um vieles nicht heute

Vater heißen und nicht für Frau und Kinder besorgt sein.

Öfters dacht ich mir auch schon die Flucht und habe die besten

Sachen zusammengepackt, das alte Geld und die Ketten

Meiner seligen Mutter, das alles noch heilig verwahrt liegt.

Freilich bliebe noch vieles zurück, das so leicht nicht geschafft wird.

Selbst die Kräuter und Wurzeln, mit vielem Fleiße gesammelt,

Mißt ich ungern, wenn auch der Wert der Ware nicht groß ist.

Bleibt der Provisor zurück, so geh ich getröstet von Hause.

Hab ich die Barschaft gerettet und meinen Körper, so hab ich

Alles gerettet; der einzelne Mann entfliehet am leichtsten.«[592]

»Nachbar«, versetzte darauf der junge Hermann mit Nachdruck,

»Keinesweges denk ich wie Ihr und tadle die Rede.

Ist wohl der ein würdiger Mann, der im Glück und im Unglück

Sich nur allein bedenkt und Leiden und Freuden zu teilen

Nicht verstehet und nicht dazu von Herzen bewegt wird?

Lieber möcht ich, als je, mich heute zur Heirat entschließen;

Denn manch gutes Mädchen bedarf des schützenden Mannes

Und der Mann des erheiternden Weibs, wenn ihm Unglück bevorsteht.«

(Goethe: Hermann und Dorothea, 2. Gesang)

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