12 Februar 2021

Bossong: Schutzzone: Südkivu und Genf

 Zum ersten Beitrag zu Bossongs "Schutzzone" hier.

Südkivu. Oktober 2012

Der Geruch in den Lagern war der von Folie und Schlamm. Von Feuer und Plastik. Von Staub und Zucker. Von zwei Dingen, die nicht zusammen gehörten. Es war der Geruch davon, dass man nicht ankommen durfte oder konnte. Dass es kein Außen gab, nur von neun bis fünf, danach begann die Ausgangssperre. Es war der Geruch davon, dass es keine Heimat gab, obwohl die Heimat irgendwo liegen musste, man kam ja von dort, aber der alte Geruch war verschwunden und mit dem Geruch das Gefühl und mit dem Gefühl die Wirklichkeit. (S.119)

Man sagt, es wären die Bodenschätze. Ein Land, das reich daran sei, mache seine Bewohner umso ärmer, triebe sie in zerstörerische Minen oder Tagebauen oder ließe sie von Kindersoldaten töten, damit die Warlords besser den Himmel und die Erde ausbeuten und ihre Waren an die europäischen, chinesischen, amerikanischen Händler liefern konnten. Das mochte hier im Kongo stimmen. Burundi hat nicht einmal Bodenschätze gebraucht. Nicht erst die Deutschen hatten das Töten zu den Hütten gebracht, aber die Deutschen kamen trotzdem und verteilten das Recht aufs Töten, aufs gerechte Töten, sie hatten Missionare dabei, sie hatten Medikamente und Schulbücher und den Glauben an den lieben Gott dabei. Sie verloren den Krieg und traten ihre Kolonien Belgien ab. [...] Ich lernte, zwei Arten von Kindersoldaten zu unterscheiden. Solche, die man getötet, und solche die man auch begraben hatte. In manchen Ecken des Lagers sprach man nicht viel, das machte es leichter für die Jungen, die man vergessen hatte zu begraben. Es fiel nicht so sehr auf, wenn sie nicht fröhlich waren. [...] Niemand wollte mit ihnen reden. Die meisten hier, sagte Zacharie, haben Angst vor ihnen, was fängt man auch mit jemandem an, der die Hemmung vorm Töten verloren hat? Hast du mal gesehen, wie ein Schwein kastriert wird? So ähnlich ist das mit denen. Man hat diesen Jungen nicht die Samenleiter entfernt, sondern die Gefühle. Ich weiß nicht, wie ihr ernsthaft glauben könnt, wir könnten sie zurück ins Leben holen oder sogar in die Gemeinschaft. (S.121/22)
Die glasigen Augen des Jungen genügten mir. Ich hockte mich neben ihn, bot ihm eine Zigarette an. Wir schwiegen eine Weile [...] ich schwieg einfach weiter, als der Junge endlich zu reden begann, es war wie ein Vakuum, in das etwas hineindrängte, um es zu füllen, wir halten die Leere und die Stille und das Schweigen nicht lange aus, und er erzählte von seinem ersten Tag im Lager, von der Packung Streichhölzer, die jemand ihm in der Nacht, als er schlief, aus der Jacke gestohlen hatte, er sprang in der Erzählung, plötzlich war es ein Morgen in einem Dorf, und die Frau, die beim Herd stand, musste seine Mutter oder Tante oder Großmutter sein, und jetzt war er zwischen anderen Jungen weit weg im Wald  [...] jemand schoss, alle schossen sie mit rostigen Maschinengewehren, er schmiss sich das brackige Wasser, tauchte unter, um nicht gesehen zu werden, aber das vertrug das Gewehr nicht, und als er wieder auftauchte, hatte er sich selbst entwaffnet, da war er wieder bei seinem ersten Tag im Lager [...] er hatte so viel überlebt, aber nach einer Nacht hier hatte man ihm die Streichhölzer abgenommen, und es war keine Wut, eher Scham, die in seinen langsamen Sätzen lag, Scham darüber, dass ihm so etwas passieren konnte, der doch gelernt hatte in der Truppe des Generals, des Phantoms hinter jedem Befehl, jeder Begnadigung, jeder Bevorzugung, jedem Bann, gelernt unter General Aimé.
Er hieß wie?, fragte ich.
Aimé, wiederholte der Junge. 
Und wie weiter? So heißen viele. 
Wir haben nur über einen geredet.(S.122/23)

Genf. April 2017
[...] Milan saß mit dem Rücken zu mir am Fenster, vollkommen ruhig, als warte er auf niemanden, Und er wirkte überrascht, als mich ich mich neben ihn setzte. Er lehnte sich vor, griff kurz nach meiner Hand.
Du glaubst nicht, was sie von mir verlangen. Ich werfe mit Nächstenliebe um mich wie ein Funkenmariechen mit Kamelle. Aber ohne Schuld keine Erlösung, oder nicht?
Schuld, was soll das schon sein, sagt der Milan lächelnd. Das ist Eitelkeit nichts als Eitelkeit, 
[...] (S.127/28) 
Ehe ich das Zimmer betrat, schon im Fahrstuhl, schon auf dem Sofa, als mein Arm um Milans Schulter lag, eine heimliche, aber mit jeder Minute verbindlicher werdende Umarmung, schon da werde ich gewusst haben, dass er sich daraus wieder befreien würde, wütend oder vielleicht doch nur aus Angst, die so oft darauf folgt, vor allem bei jenen, die nicht den Verstand verlieren wollen, aber eine Begabung dafür haben, in zu verlieren, [...] er zerrte immer noch noch immer an meinem Kleid, bis ich es über den Kopf streifte, und wer von uns hat er eigentlich die sechshundert Franken bezahlt, vielleicht, aber ich weiß es wirklich nicht mehr, sind wir sie dem Hotel bis heute schuldig geblieben.[...] (S.131/32)

Mein Eindruck: Für den human touch muss eine Liebesgeschichte dabei sein, aber die darf keine Gefühle enthalten, also Leere statt human touch. Für mein Empfinden reichte der Satz von Seite 108 "Es gab Milan. Irgendwo dazwischen gab es Milan." als Refrain zwischen den Kapiteln.
Dabei beweisen nicht nur die Passagen über Miras Tätigkeit vor Ort, dass Bossong treffend darstellen kann. 
Aimé:"Sie sind Helden, Märtyrer, sie kommen her, um die Schuld der Welt von uns zu nehmen, aber den Tod am Kreuz müssen können doch wir für sie sterben." (S.141)
Bujumbura Oktober 2012 (S.142)
Aimé: "Sie haben uns erst unsere Menschlichkeit, dann unseren Verstand, dann unsere Unabhängigkeit abgesprochen, und am Ende trauen Sie uns nicht mal unseren Genozid zu." (S.155)


Genf April 2017 (S.166ff.): Mira wird Milans Frau Teresa als seine Kollegin vorgestellt.
Über Milan und seine Familie
"[...] denn ich wusste sehr wohl, im Gegensatz zu ihm, der ahnungslos tat, dass, wenn ich nur erst einmal Platz genommen hätte an seinem Esstisch, auf seinem Sofa, alles in diesem Zimmer, in dieser Wohnung, in diesen drei Leben bereit war zu zerbrechen." (S.172)

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