Kellers Briefwechsel allgemein (Universität Zürich)
Kellers Briefe (bei Gutenberg.de)
Briefe aus Heidelberg 1848-1850
Briefe aus Zürich 1856-1890
Heidelberg,
den 8. Februar 1849.
Lieber Dößekel!
Ich habe zwar die Schweiz und Euch Einwohner nicht vergessen, doch bin ich seit meinem Hiersein solchermaßen in eine neue Bahn geworfen worden, daß ich mich auch jetzt noch förmlich zusammenraffen muß, um endlich nur einigermaßen meine Pflicht gegen meine heimatlichen Freunde zu erfüllen; denn wer unerwartet auf einem neuen, aber noch nicht ganz sichern und bestimmten Wege wandelt, an dessen Ziele aber eine klare, heitere Aussicht zu hoffen ist: der schaut nur höchst ungern zurück und hat kaum Lust, seine frisch angeknüpften Fäden auch rückwärts zu reichen, seine neu empfangene Parole auch rückwärts zu rufen, ehe er weiß, wie sie dort aufgenommen werden, ehe er auch die ganze Geschichte und Entwicklung zugleich mitgeben kann. Ich hatte in Zürich so viel als versprochen, hier vorzüglich Geschichte zu treiben, und nun bin ich fast ausschließlich in die Philosophie hineingeraten.
Fast zufällig besuchte ich einmal Henles Vorlesung über Anthropologie; der klare, schöne Vortrag und die philosophische Auffassung fesselten mich, ich ging nun in alle Stunden und gewann zum ersten Mal ein deutliches Bild des physischen Menschen, ziemlich von der Höhe des jetzigen wissenschaftlichen Standpunktes. Besonders das Nervensystem behandelte Henle so geistreich und tief und anregend, daß die gewonnenen Einsichten die beste Grundlage oder vielmehr Einleitung zu dem philosophischen Treiben abgeben. Ein aufgeweckter junger Dozent, Dr. Hettner, auch vorzüglicher Literarhistoriker und Ästhetiker, las über Spinoza und die aus ihm hervorgegangene neue Philosophie bis auf heute. Endlich kam noch Ludwig Feuerbach nach Heidelberg und liest hier auf ergangene Einladung öffentlich über Religionsphilosophie. Bald kam ich persönlich mit Feuerbach zusammen, sein tüchtiges Wesen zog mich an, und machte mich unbefangener für seine Lehre und so wird es kommen, daß ich in gewissen Dingen verändert zurückkehren werde. Ich habe keine Lust, jetzt schon schriftlich eine Art von Rechenschaft abzulegen. Nur so viel: wenn es nicht töricht wäre, seinen geistigen Entwicklungsgang bereuen und nicht begreifen zu wollen, so würde ich tief beklagen, daß ich nicht schon vor Jahren auf ein geregelteres Denken und größere geistige Tätigkeit geführt und so vor vielem gedankenlosem Geschwätze bewahrt worden bin.
Für die poetische Tätigkeit aber glaube ich neue Aussichten und Grundlagen gewonnen zu haben, denn erst jetzt fange ich an, Natur und Mensch so recht zu packen und zu fühlen, und wenn Feuerbach weiter nichts getan hätte, als daß er uns von der Unpoesie der spekulativen Theologie und Philosophie erlöste, so wäre das schon ungeheuer viel. Übrigens bin ich noch mitten im Prozesse begriffen und fange bereits an, vieles für meine Individualität so auf meine Weise zu verarbeiten. Komisch ist es, daß ich kurz vor meiner Abreise aus der Schweiz noch über Feuerbach den Stab gebrochen hatte als ein oberflächlicher und unwissender Leser und Lümmel; so bin ich recht aus einem Saulus ein Paulus geworden. Indessen kann ich doch für die Zukunft noch nichts verschwören; es bleibt mir noch zu vieles durchzuarbeiten übrig; aber ich bin froh, endlich eine bestimmte und energische philosophische Anschauung zu haben. Nebenbei treibe ich noch Literaturgeschichte und arbeite an meinem unglückseligen Romane, welchen ich, da ich einen ganz andern Standpunkt und Abschluß meines bisherigen Lebens gewonnen habe, erst wieder zu zwei Dritteln umschmelzen muß. Wenn der Sommer schön wird in dieser schönen Landschaft, so werde ich ein Schauspiel darin schreiben, das mir durch den Kopf geht. Was nächsten Winter aus mir wird, kann ich noch nicht sagen, jedenfalls gehe ich nicht nach dem Orient; ich habe mehr Lust in Deutschland zu bleiben; denn, wenn die Deutschen immer noch Esel sind in ihrer Politik, so bekommen mir ihre literarischen Elemente um so besser.
Ich habe mehrere ganz angenehme Bekanntschaften gemacht hier, worunter auch Künstler, einige hübsche und gescheite Mädchen stehen für den nahenden Frühling zu poetischen Ausflügen in Aussicht. - Begnüge Dich einstweilen mit diesen paar ungeschlachten Brocken und berichte mir doch bald von Deiner Seite, denn ich habe einen wahren Heißhunger nach Briefen aus der Schweiz. Ich habe erst einen einzigen an meine Mutter geschickt, und zwei von ihr erhalten; sonst ist kein Sterbenswörtchen zwischen mir und dem Vaterlande gewechselt worden. Ich bin zum großen Ärger der Deutschen oft bei meinen jungen Landsleuten, den Schweizerstudenten; denn unser Nationalismus ist allen, den reaktionären wie den radikalen, ein Dorn im Auge. Ich werde aber diese sogenannte Borniertheit wohl lebenslänglich behalten; hier stehe ich auf eignen, festen Füßen und kann mir die Theorie selbst machen.
Ich erinnere mich oft mit großem Vergnügen an den Aufenthalt in Deiner reizenden Wohnung. Grüße doch höflichst von mir Deine werte Frau und küsse Deine Kinder...
So lebe gesund und wohl bis auf weiteres!
Dein
Gottfr. Keller.
Briefe aus Zürich 1856-1890
An Theodor Storm
Storm hatte Keller brieflich seine Freude über die ›Züricher Novellen‹ ausgedrückt und ihm seine Freundschaft angetragen. Von Angesicht gesehen haben sich die beiden Dichter niemals.
Zürich, 30. März 1877.
Sie haben mir das schönste Ostergeschenk gemacht, das ich je in meinem Leben bekommen; es ist freilich seit der Kinderzeit lange her; aber um so mehr braucht es, um jene durch das Ferneblau vergrößerten Wunder in den Schatten zu stellen. Ich ergreife mit Dank und Freuden Ihre Hand und Ihr Geschenk und will trachten zu erwidern, was an meinem geringen Orte möglich ist. Denn es ist mir nun ja alles Liebe und Schöne, was ich von Ihnen kenne, zum zweiten Male und gewissermaßen speziell wieder geschenkt.
Die treuliche und freundliche Vermahnung, die Sie mir wegen Hadlaub und Fides geben, befremdet mich nicht, weil die Geschichte gegen den Schluß wirklich überhastet und nicht recht ausgewachsen ist. Das Liebeswesen jedoch für sich betrachtet, so halte ich es für das vorgerücktere Alter nicht mehr recht angemessen, auf dergleichen eingehend zu verweilen, und jene Form der Novelle für besser, wo die Dinge herbeigeführt und alsdann sich selbst überlassen werden, vorausgesetzt, daß dann genugsam zwischen den Zeilen zu lesen sei. Immerhin will ich den Handel noch überlegen; denn die Tatsache, daß ein lutherischer Richter in Husum, der erwachsene Söhne hat, einen alten Kanzellaren helvetischer Konfession zu größerem Fleiß in erotischer Schilderei auffordert, und zwar auf dem Wege der kaiserlichen Reichspost, ist gewiß bedeutsam genug! Im Herbst werde ich Ihnen die Separatausgabe der Züricher Novellen schicken, wo Sie dann auch das Fähnlein der sieben Aufrechten wiederfinden wer« den ...
Jetzt will ich aber für diesmal schließen, da die Nachmittagssonne und Amsel, Finken und andere Musikanten auf den Bäumen vor dem Fenster mich Hinausrufen, wo der Winter gottsjämmerlich abgemörd't wird.
Bald hoffe ich Ihnen in der Rundschau oder so wo wieder zu begegnen und mich dort mit Ihnen zu unterhalten; man ist da immer sicher, gute Musik zu hören und seine Weinlein zu trinken.
Ihr dankbar ergebener
Gottfr. Keller.
An Theodor Storm
Zürich, den 31. Dezember 1877.
Ich wollte Ihnen, lieber Freund, am morgigen Neujahrstag schreiben, um Ihnen durch die gewählte Stunde eine rechte Ehre zu erweisen; zu rechter Zeit fällt mir aber ein, daß mich die Silvesternacht und das germanische Laster entweder untauglich machen oder mit schnöden Jammerpossen anfüllen könnten à la Johann Jakob Wendehals von Mörike, und da wollen wirs lieber heute noch vornehmen.
Die Züricher Novellen‹ werden Ihnen durch den Verleger zukommen... Um nochmals auf jene Figura Leu zurückzukommen, so hat sie wohl unverheiratet bleiben können; denn ich habe erst seither in Ihrem ›Sonnenschein‹ gesehen an der dortigen Fränzchen, wie man ein lustiges und liebliches Rokokofräulein machen muß, und die hat ja auch ledig sterben müssen. Es ist mir übrigens, wenn ich von dergleichen an Sie schreibe, nicht zu Mute, als ob ich von literarischen Dingen spräche, sondern eher wie einem ältlichen Klosterherrn, der einem Freunde in einer anderen Abtei von den gesprenkelten Nelkenstöcken schreibt, die sie jeder an seinem Orte züchten. Und Sie sind ja wieder rüstig dabei an Ihrem Orte; ich habs zwar noch nicht gelesen, sondern warte auf die Buchausgaben. Also ich wünsche Ihnen alles Beste zum neuen Jahre, hochgeachteter Landvogt von Husum, sowie Ihrem ganzen Hause ...
Ihr getreuer
G. Keller.
An Theodor Storm
Zürich, den 26. Februar 1879.
Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Briefe an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum ersten Mal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahmgelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf acht bis zwölf Meilen Entfernung, im hellen Mondscheine liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich alles wieder Nebel und Düsternis ... Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Landkaufe und Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wohl noch Bäume setzen; warten Sie aber womöglich nicht zu lange, bis Sie bauen. Die Gesetzänderungen, welche Ihnen so mal à propos noch auf den Hals fallen, soll auch der Teufel holen, so zweckmäßig sie sein mögen. Ich habe vor zehn Jahren etwas Ähnliches erfahren: Gerade als ich in mein Amt so voll eingeschossen war, daß ich Aussicht hatte, etwas Muße zu gewinnen, gabs eine trockene, aber radikale Staatsumwälzung, eine neue Verfassung wurde gemacht, infolgedessen eine Reihe neuer Gesetze, so daß ich neben den laufenden Geschäften zwei Jahre lang fast Tag und Nacht Schwatzprotokolle zu schreiben hatte, die nachher zur Interpretation dienen sollen, wenn die Esel nicht mehr wissen, was sie gewollt haben. Da war es denn mit der Dichterei wieder fertig, besonders da die zweite Staatsschreiberstelle auch abgeschafft wurde und ich als einziger und unteilbarer Skribar dastand, weshalb Ihre Adressen auch nicht mehr richtig sind. Ich möchte Ihnen bei diesem Anlasse auch belieben, fragliche Titulatur überhaupt abzuschaffen, sintemalen dieselbe in der knauserigen Republik keine Pension einträgt ...
... Da wir an Geldsachen sind, will ich gleich noch einen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nämlich schon einige Male Ihre Briefe mit Zehnpfennigmarken frankiert, während es nach außerhalb des Reiches zwanzig sein müssen. Nun habe ich eine Schwester und säuerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie das Strafporto von vierzig Pfennigen in das Körbchen legt, das sie dem Briefträger an einer Schnur vom Fenster des dritten Stockes hinunter läßt, das Zetergeschrei erhebt: »Da hat wieder einer nicht genug frankiert!« Der Briefträger, dem das Spaß macht, zetert unten im Garten ebenfalls und schon von weitem: »Jungfer Keller, es hat wieder einer nicht frankiert!« Dann wälzt sich der Spektakel in mein Zimmer: »Wer ist denn da wieder?« (An Ihren Beraubungen haben Sie nämlich Konkurrenz in den österreichischen Backfischen, die an alle Dichter der letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie um Autographen schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Klassikers aus dem Buche ersichtlich ist.) »Den nächsten Brief dieser Art«, schreit die Schwester fort, »wird man sicherlich nicht mehr annehmen!« - »Du wirst nicht des Teufels sein!« schrei ich entgegen. Dann sucht sie die Brille, um Adresse und Poststempel zu studieren, verfällt aber, da sie meine offenstehende warme Ofenröhre bemerkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen und in die Wärme zu stellen, so daß ich den schönsten Küchengeruch in mein Studierzimmer bekäme, was sonderlich für den Fall eines Besuches angenehm ist. »Raus mit der Suppe!« heißts jetzt, »und stell sie in deinen Ofen!« »Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil der Boden abschüssig ist!« Neuer Wortkampf über die Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab, und die Portofrage ist darüber für einmal wieder vergessen; denn mit der Suppe hat Angriff und Verteidigung, Sieg und Niederlage gewechselt. - Haben Sie also die Güte, der Quelle dieser Kriegsläufte nachzugehen und sie zu verstopfen ...
Ich danke für Ihre Jahreswünsche gar herzlich und hoffe, daß ich in der Tat einen Ruck vorwärts tue mit meinen Lebensrestanzen; denn der Handel fängt doch an, unsicher zu werden, lind ein Altersgenosse nach dem anderen wird kampfunfähig oder segelt gar von dannen. Ihnen wünsche ich gleichfalls das Beste. Mögen Ihre Bäume lustig gedeihen und zugleich die Mama noch gute Frist gewinnen, daß Sie nicht wegziehen; so ist die richtige Spannung vorhanden, wie mir scheint.
Ihr
G.Keller.
Zürich, den 29. Dezember 1881.
Lieber Freund und Mann zu Hademarschen!
Ihrem frohgemuten Briefe vom 27. November sind bald die beiden Doppelbände der Gesamtwerke nachgefolgt, und ich habe die einzelnen mir schon bekannten Kleinode aufmerksam gezählt und beguckt, eh ich sie zu den übrigen in den Schrein stellte. Die Erinnerungen an Mörike las ich freilich vorher durch, da sie mir so gut wie neu waren. Wie gewohnt, wenn die Rede von ihm ist, lief ich wiederholt nach seinen Bänden, um mich dieser und jener Stelle gleich zu versichern und halbe Stunden lang fortzulesen ...
Ihre Weihnachtsfreuden haben Sie nun hinter sich und das behagliche Wohlleben der Neujahrstage und so fort noch vor sich, wozu ich meine Glückwünsche rück- und vorwärts beitrage ...
Auch zu dem Herrn Pastor, Ihrem Schwiegersohn, gratuliere ich schönstens. Ein solch stattliches Familienstück gehört unter die Johann Heinrich Voßschen Himmelsstriche.
Was Sie mir als Menschenmangel anmerken wollen, versteh ich nicht recht. Ich lebe gesellschaftlich mit allerlei Leuten alten und neueren Datums. Das sogenannte Handwerk allerdings vermeide ich, wenn es nicht mit der erforderlichen einfachen und loyalen Menschennatur verbunden ist. So war ich in Verlegenheit, mit welcher der gelehrten und ungelehrten Gesellschaften Zürichs ich den üblichen Neujahrsschmaus einnehmen wolle, und habe mich für das Artilleriekollegium entschieden, jene zweihundertjährige Gesellschaft, die im Eingang der ›Zürcher Novellen‹ geschildert ist und mich dafür zu ihrem Mitglied ernannt hat. Ich habe auch schon zweimal im Juni mit den Herren aus Mörsern (Kruppschen) nach der Scheibe geschossen und ein paar gute Schüsse abgegeben, die man mir natürlich gerichtet hat. Da werde ich am 2. Januar, dem Berchtoldstage, der ein uralter Freudentag hier ist, mitten unter alten und jungen Artillerieoffizieren sitzen und Rheinwein aus silbernen Pokalen trinken. Heut abend soll ich zu einer großen Liedertafel gehen, die ihren vierzigjährigen Bestand feiert, und so ist immer was los, wenn man Lust hat ...
Leben Sie glücklich in das neue Jahr hinein mit allen Ihrigen.
Der alte
G. Keller.
Zürich, den 21. November 1882.
Liebwertester Freund und Storm!
Endlich fließt mein durch allerlei Trubel gestörtes Wässerlein wieder so ruhig, daß auch die leichten Briefblätter darauf schwimmen können, wie üblich. Mein Wohnungswechsel verlief widerwärtig und mühevoll. Das Gerümpel eines seit 1817 bestehenden Haushaltes mit noch dreißig Jahre älteren Nichtswürdigkeiten, die sich immer mitschleppen, war wie verhext und von Bosheit besessen. Beim Öffnen einer alten Schachtel fand ich unser ehemaliges Taufhäubchen von rotem Sammet, worin vermutlich die sechs ›gehabten‹ Kinder der Mutter getauft worden sind. Eine dabei liegende dicke seidene Fallmütze in Form einer Kaiserkrone war mir bekannt, und ich wußte, daß ich sie selbst getragen hatte. Nun gut, eine Stunde später purzelte ich von der Bücherleiter mit einem Arm voll Bücher hinunter und schlug den Schädel beinahe zuschanden; man mußte mir die Schramme zunähen. Es war Sonntags am 1. Oktober, nachdem ich, wie gesagt, vorher meine Kinderfallmütze in der Hand gehabt von Anno 1820 oder 21. In diese Ironie des Schicksals mischte sich noch ein Tropfen Selbstverachtung; denn die Schuld des Sturzes lag in einer meiner Charakterschwächen. Ich war in den Laden eines Schusters gegangen, um ein Paar warme Pantoffeln für den Winter zu kaufen; da er keine passenden von der verlangten Art hatte, ließ ich mir mit offenen Augen ein Paar aufschwatzen, das für meinen Fuß anderthalb Zoll zu lang war, eben weil ich nie den Mut habe, aus einem Laden wegzugehen, ohne zu kaufen. In diesen Pantoffeln blieb, wenn ich darin stand, vorn vor den Zehen ein leerer Raum, und auf diesen trat ich, als ich, von der Leiter heruntersteigend, die untere Stufe suchte.
Derlei Ärgernis hat mich denn auch verhindert, vor Mitte Oktober auf das Museum zu gehen und Ihre ›Kirchs‹ aufzusuchen. Und als ich die Hälfte gelesen und nach einigen Tagen wieder hinging, war der ›Westermann‹ des Monats verschwunden und ein neuer an der Stelle, ganz ausnahmsweise; denn gewöhnlich kommt das Heft immer zu spät. So habe ich einstweilen nur sehen können, daß Sie mit kräftiger Hand, wie immer, geschrieben oder vielmehr geschafft haben, und obgleich ich die harten Köpfe, die ihre Söhne quälen, sonst nicht liebe (als poetische Gestalten), so habe ich doch schon gesehen, daß die Sache hier so sein muß, um die neue Schöpfung Ihrer Resignationspoesie organisch zu gestalten. Ich habe das Ende der Novelle schnell angesehen und muß nun noch das Zwischenschicksal des Sohnes erfahren. Die Wendung mit dem unfrankierten Brief ist ebenso schauerlich als verhängnisvoll. Man fühlt mit, wie wenn der alte Geldtropf ein Schiff voll lebendiger Menschen in die brandende See zurückstieße. Ich werde mir das Heft nächstens mit Beschlag legen, sobald es der fortschlepperische Verehrer wieder abgeliefert hat.
Nun sind auch die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer erschienen. Sie sollten sich den Band ansehen oder vielmehr fest anschaffen; es würde Sie nicht gereuen, und Sie werden an diesen langen Winterabenden auch Ihre Damen mit mehr als einer guten Vorlesung regalieren können. Auch dem Herrn Sohn, dem Juristen, würden die Sachen Freude machen.
Übrigens wünsche ich Ihnen, wie Freund Petersen, ein ausgiebig genießliches, feierlich geschäftiges Herannahen der Jultage mit hundert Vorschmäcken, namentlich einen gelungenen Märchenzweig, und hoffe, daß das Notwendigste, eine gute Gesundheit, dermalen reichlich vorhanden ist. Schönste Grüße von
Ihrem
G.Keller.
An Wilhelm Petersen
Regierungsrat in Schleswig; begeisterter Verehrer Kellers.
Zürich, den 21. Oktober 1880.
Verehrter Freund!
Ich gebe heut endlich den ›Grünen‹ auf die Post und wünsche ihm glückliche Reise und nachsichtigen Empfang. Daß die Judith am Schlusse noch jung genug auftritt, statt als Matrone, wie beabsichtigt war, hat sie Ihren derselben so gewogenen Worten zu danken. Ich wollte mich selbst am Jugendglanz dieses unschuldigen, von keiner Wirklichkeit getrübten Phantasiegebildes erlustieren. Gern hätte ich sie noch einige Szenen hindurch leben lassen; allein es drängte zum Ende, und das Buch wäre allzu dick geworden. Jetzt mach ich Novellen, die im Januarheft der ›Deutschen Rundschau‹ beginnen sollen. Auf den i. April 1881 habe ich die jetzige Wohnung gekündigt und werde Sie in einer andern empfangen müssen, die noch nicht gewählt ist. Die Lage war meiner Schwester zu beschwerlich, und ich selbst habe manches versäumt, da ich mich immer nur ungern zum Gange in die Stadt entschloß. Es hat etwas Unbequemes, in diesen Jahren so herumwandern zu müssen; allein das Ganze ist ja doch nur ein Bummel, und am Ende kommt die Ruhe. Ich habe mich einem Leichenverbrennungsverein angeschlossen; es will aber nichts daraus werden. Ich glaube, die Lumpen fürchten am Ende, es mache zu heiß, daß sie's noch verspüren könnten!
Leben Sie mit den Ihrigen einen guten Winter, wozu ich hübsche Morgenröte und warme Abendstunden wünsche! Was mich betrifft, so gedenke ich etliche vergnügte Schoppen bei biederem Gespräche auszustechen!
Paul Heyse ist jüngst mit seiner schönen und feinen Frau zweimal durchgereist; wir brachten jedesmal einige Stunden miteinander zu und gedachten auch eines gewissen Regierungsrates im Norden. Seien Sie herzlichst gegrüßt und bleiben gewogen
Ihrem ergebenen
Gottfr. Keller.
An Wilhelm Petersen
Zürich, den 21. April 1881.
Mein lieber Herr und bester Freund!
Da Sie nicht nur die Fische des Meeres, sondern auch die Vögel der Luft gegen mich absenden, so muß ich den Vorsatz, an Sie zu schreiben, endlich zur Tat werden lassen. Seit Neujahr habe ich alles Briefschreiben und Privat- und Freundschaftssachen wieder einmal müssen liegen lassen, nicht weil ich nicht manche müßige Stunden und Tage dazu gefunden hätte, sondern weil gerade das Briefschreiben con amore mit dem Schriftstellern zu nah verwandt ist, wenigstens wie ich dieses treibe, und daher ein Allotrion zu sein scheint, wenn die Setzer auf Manuskript lauern. Der eigentliche Müßiggang aber, bestehe er in Lektüre oder in irgend einer anderen eigensinnigen heterogenen Übung, trägt immer seine göttliche Berechtigung des Daseins ›an sich‹ in sich. Und so scheut man sich, Briefe zu schreiben, indessen man sich nicht entblödet, plötzlich ein historisches Kapitel zu studieren oder ein paar Tage zu zeichnen und dergleichen.
Also die zierlichen Kiebitzeier sind glücklich angekommen und in ihrer ganzen Schmackhaftigkeit verzehrt worden, nicht ohne einiges Mitgefühl an den Hervorbringern, denen so räuberisch zu Nest gestiegen wird. Mit der Adresse meines herzlichen Dankes bin ich etwas verlegen; denn eine auf dem Kistchen haften gebliebene Adresse zeigt an, daß die Nordfrüchte rechtmäßig zuerst der Frau Gemahlin angehört haben. Ich kann nicht untersuchen, ob eine Gewalttat in Form einer Besteuerung oder einer einfachen Wegnahme, Konfiskation, oder einer Überredung, eine gütliche Transaktion stattgefunden hat, und bitte nur, meinen Dank nach dem Gebote Ihres Gewissens ausrichten und verteilen zu wollen! -
Ihre und Freund Storms Weihnachtsfreuden habe ich voll Teilnahme aus der Ferne mitgetan; dergleichen scheint blühender und intensiver zu werden, je weiter hinauf es nach Norden geht, und der goldene Märchenzweig schimmert gar feierlich herüber, nur weiß ich nicht, auf welche Art die Lärchennadeln vergoldet sind. Ein bloßes Anwerfen von Goldschaum wird schwerlich genügen. Ihr Treiben mit den Kindern am Neujahrsmorgen hat mich wieder recht erbaut. Sie sammeln ihnen den schönsten Schatz von Erinnerungen, der fast notwendig spät noch Früchte tragen muß ...
Ihre Äußerungen wegen des pathologischen Zuges, der Ihnen eigen sei, berühren schmerzlich, weil Sie einen Zug, den viele unbewußt haben, mehr fühlen als die anderen. Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind; aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt? Selbst wenn sie der Reflex eines körperlichen Leidens ist, kann sie eher vielleicht eine Wohltat als ein Übel sein, eine Schutzwehr gegen triviale Ruchlosigkeit ...
... Die Sinngedichtsnovellchen, deren Anfang Sie gelesen, gehen im Maiheft der ›Rundschau‹ zu Ende. Ich bin jetzt an der Sammlung und Korrektur meiner sämtlichen lyrischen Sünden begriffen, ein bedenkliches Unterfangen; doch kann ich nicht mehr warten, sonst bring ich nichts mehr zustande. Dann denke ich auf einen kleineren Roman, von dem ich aber noch nicht viel zu sagen weiß.
Nochmals Dank also für alle Ihre Güte und Freundlichkeit und eine schöne Empfehlung an die verehrte beraubte Frau Regierungsrat.
An Wilhelm Petersen
Zürich, den 21. November 1881.
Verehrter Freund!
Jetzt wird Ihr geliebter Winter bald da sein, wo Sie mit den Kindern die Abenteuer in dem Schneewald wieder aufnehmen können. Hier haben wir schon mehrere Wochen jeden Tag Nebel und Sonnenschein und warmes Wetter; ich selbst aber war lange von Katarrh und fliegenden Rheumatismen geplagt, so daß ich beinah ängstlich geworden wäre, da die alten Kerle bei solchen Gelegenheiten gern etwa eine tödliche Lungenentzündung und dergleichen erwischen. Allein gerade die sehen es ja nie kommen und wissen kaum, wie sie dazu gelangten, und so hat sich die Sache unversehens verzogen.
Ihre Fischlein sind seinerzeit schönstens angelangt und wir danken Ihnen, die Schwester und ich, neuerdings herzlichst für die unerschöpfliche Güte und Freundlichkeit ...
Bei den neulichen Nachrichten von der Wassersnot in Schleswig-Holstein habe ich sogleich an Sie und Storm gedacht. Sie werden jedenfalls amtlich zu tun bekommen haben ...
Das ›Geteilte Herz‹ hat mir auch sehr gefallen; es ist eine sehr gute Novelle in ihrer Art, obgleich ich für das Problem derselben nicht gerade schwärme. Indessen verstehe ich als ›lediger Geist‹ davon nichts. Ich war immer nur einspännig und ausschließlich verliebt in jungen Jahren und kann durchaus nicht sagen, wie es gegangen wäre im Falle einer Verheiratung.
Ob ich noch einmal Berlin besuche, weiß ich nicht, so sehr es lockt. Wenn man nur nicht das Handwerk dort grüßen müßte, welches zum Teil von einem albernen Weltstadtdünkel erfüllt ist, obgleich die einzelnen die alten Kleinbürger sind, die sie vorher gewesen. Die Menge tuts eben nicht immer.
Empfehlen Sie mich freundlich der Frau Gemahlin und leben Sie recht con amore, wenn die Geschäfte vorbei sind!
Ihr getreuer
G. Keller.
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