Er dachte jetzt an seine Gattin, die sich zur Zeit auf einem Schlosse bei Macon befand, um Madame de Chezelles zu besuchen, die seit dem Herbste kränkelte. Der Landaufenthalt mußte jetzt abscheulich sein bei diesem regnerischen, schmutzigen Wetter. Plötzlich erfaßte ihn die Unruhe wieder. Er eilte zurück aus Furcht, daß Nana ihm durch die Galerie des Montmartre entkommen könnte.
Jetzt stellte er sich vor der Theatertür auf die Lauer. Nur ungern wartete er an diesem Ende des Ganges, wo er erkannt zu werden fürchtete. Es war dies an der Ecke der Galerie der Variétés und der Galerie Saint-Marc, ein häßlicher Winkel mit dunklen Buden, eine Schusterei ohne Kundschaft, Niederlagen von staubigen Möbeln, ein rauchgeschwärztes, [229] schläfriges Lesekabinett, dessen Lampen unter ihren Schirmen ein grünliches Licht verbreiteten. An diesem verdächtigen Orte sah man stets nur elegant gekleidete Herren, die geduldig vor diesem Theaterzugang warteten, bei dem betrunkene Theaterdiener und schlampige Statistinnen aus und ein gingen. Eine einzige schwache Gasflamme warf ihr Licht auf die Theatertür. Der Graf hatte einen Augenblick den Gedanken, Madame Bron zu befragen, doch hielt ihn wieder die Furcht davon ab, daß Nana durch die Hausmeisterin von seiner Anwesenheit benachrichtigt, ihm über den Boulevard entschlüpfen könne. Er nahm seinen Gang wieder auf und war gefaßt darauf, daß man ihn hinausweisen werde, um das Gitter zu schließen, wie es ihm schon zweimal geschehen war. Der Gedanke, allein zu Bett gehen zu müssen, schnürte ihm die Brust zu. Jedesmal, wenn Mädchen in bloßem Haar oder Männer in schmutziger Wäsche herauskamen und ihn betrachteten, blieb er vor der Türe des Lesekabinetts stehen und schaute hinein. Drinnen saß an einem langen Tische ein einziger Leser, ein altes, grünes Männchen, das eine grüne Zeitung in den grünen Händen hielt. Einige Minuten vor zehn Uhr erschien noch jemand: ein großer, blonder Mann in eleganter Kleidung, er ging gleichfalls vor der Theaterpforte auf und ab. Bei jeder Begegnung blickten die Herren einander mißtrauisch an. Der Graf ging bis ans Ende der Galerie, wo ein hoher Spiegel in die Wand eingelassen war, und als er sich in dem Spiegel erblickte, ergriff ihn ein Gefühl, gemengt aus Scham und Furcht.
Es schlug zehn Uhr. Es fiel plötzlich Muffat ein, daß er sich ja leicht überzeugen könne, ob Nana in ihrer Loge sei. Er stieg die drei Stufen des Theaters empor, durchschritt rasch den gelb getünschten Vorraum und schlich sich dann in den Hof.
[230] Um diese Stunde schwamm dieser Hof, feucht und schmal wie ein Brunnen, mit seinen verpesteten Aborten, seinem Brunnen und dem Kochherde der Hausmeisterin in einer schwarzen Dunstwolke. Die beiden hohen Mauern waren durch die Fenster beleuchtet, die auf den Hof gingen. Unten befand sich das Requisitenmagazin und der Feuerwehrposten, links lag die Kanzlei, rechts im Stockwerk befanden sich die Logen der Künstler. Der Graf hatte sofort bemerkt, daß die Fenster der Loge Nanas beleuchtet waren; er war getröstet, glücklich und stand, in die Höhe starrend, selbstvergessen in dem Moraste des Hofes und in dem abscheulichen Gestank, der in diesem rückwärtigen Teil eines alten Pariser Hauses herrschte. Aus einer geborstenen Dachtraufe fielen schwere Tropfen nieder. Aus der Loge der Madame Bron fiel ein Strahl des Gaslichtes schräg herab und beleuchtete einen schmutzigen Winkel des Hofes, wo allerlei Gerümpel und altes Scherbenwerk angehäuft war. Jetzt wurde irgendwo eine Tür kreischend geöffnet und der Graf entfloh von diesem Orte.
Zola: Nana 7. Kapitel, S.228-230
23 September 2010
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