Juno entgegnete demütig: »Warum, du herrlichster Gatte,
quälst du mich Arme, die deine gestrengen Weisungen fürchtet?
Liebtest du mich doch so innig wie früher und wie es der Gattin
eigentlich zusteht! Dann würdest, Allmächtiger, du es mir schwerlich
abschlagen, daß ich Turnus dem Schlachtengetümmel entziehe,
Daunus, dem Vater, gesund ihn und wohlbehalten bewahre.
Mag er jetzt sterben, mit frommem Blute büßen den Troern!
Trotzdem, er führt sein edles Geschlecht zurück auf das unsre.
War doch Pilumnus sein Urahn. Auch hat er freigebig oftmals
reichliche Gaben in deinen Tempeln als Opfer gespendet.«
Kurz nur erteilte ihr Antwort der König der himmlischen Höhen:
»Wenn du für einen dem Tode verfallenen Helden nur einen
Aufschub erbittest und glaubst, ich könnte den Aufschub bewirken,
führe den Turnus vom Schlachtfeld, entzieh ihn dem nahenden Schicksal!
Soweit vermag ich Nachsicht zu üben. Verbirgt sich indessen
unter der Bitte ein größerer Wunsch und wähnst du, dem Kriege
einen ganz anderen Ausgang zu geben, so hoffst du vergeblich.«
Weinend erwiderte Juno: »Gewährtest du das mit dem Herzen,
was du dem Wortlaut nach ablehnst, bliebe mein Turnus am Leben.
Nunmehr erwartet ein bitterer Tod den Schuldlosen, sollte
ich mich nicht täuschen. Narrte mich lieber doch falsche Befürchtung,
schlügest den Weg du zum Besseren ein, da allmächtig du waltest!«
Darauf ließ sie sogleich sich vom hohen Himmel hernieder,
quer durch die Lüfte, von Sturmwind umhüllt und von Wolken umflattert,
eilte zur troischen Streitmacht sowie zum laurentischen Lager,
formte aus Wolkendunst klüglich ein kraftloses Schattengebilde,
das wie Aeneas aussah, ein kunstreiches Werk zum Erstaunen,
rüstete es mit dardanischen Waffen, ähnlichem Schutzschild,
täuschendem Helmbusch auf göttlichem Haupt, verlieh ihm auch Sprache,
Laute nur, nichtig, vernunftlos, und gab ihm die typischen Schritte;
Seelen der Sterblichen sollen, verstarb der Körper, so flattern,
oder auch Träume, die der Empfindungen Schlafender spotten.
Frohlockend eilte der Schatten vor das vordere Treffen,
reizte zum Schein mit funkelnden Waffen, lauthöhnend, den Turnus.
Dieser entsandte von ferne auf ihn die schwirrende Lanze,
stürmte dann gegen ihn. Aber da wandte zur Flucht sich der andre.
Turnus wähnte, Aeneas suche tatsächlich das Weite,
schöpfte, verwirrt durch die Täuschung, eine ganz grundlose Hoffnung:
»Wohin, Aeneas? Verschmähe nicht die dir verheißene Ehe!
[403] Meine Faust verschafft dir das Land, das zu Wasser du suchtest.«
Derart prahlte er, folgte dem Fliehenden, zückte die blanke
Klinge – und sah nicht, daß Windstöße ihm sein Wunschbild entrafften.
Zufällig lag ein Schiff vor Anker am ragenden Felshang,
hatte die Leitern heruntergelassen, den Laufsteg befestigt.
Clusiums König Osinius war auf dem Fahrzeug gekommen.
Dorthin schwebte bestürzt der Schatten des fliehenden Troers,
schlüpfte hinein und verschwand. Beharrlich folgte ihm Turnus,
ließ durch kein Hemmnis sich abhalten, eilte hoch über den Laufsteg.
Kaum betrat er das Vorschiff, da kappte Juno die Leine;
forttreiben ließ sie das Schiff auf rückläufig kabbelnden Wellen.
Während Aeneas in Wirklichkeit Turnus zum Zweikampfe suchte
und die ihm zahlreich entgegentretenden Feinde erlegte,
suchte nicht länger mehr sich zu verstecken der flüchtige Schatten,
sondern entschwebte zur Höhe, zerfloß in den düsteren Wolken.
Seewärts entführten indessen wirbelnde Winde den Turnus.
Nichtsahnend, keineswegs froh der Errettung, schaute der König
rückwärts und streckte flehend die Hände empor zu den Sternen:
»Vater, Allmächtiger, hast du mich eines so schweren Verbrechens
etwa für schuldig befunden, daß du mich so grausam bestrafest?
Wohin nur soll ich? Woher? Als Flüchtling? Als was für ein Feigling?
Soll ich die Mauern Laurentums wiedersehen, das Lager?
Was unternehmen die Männer, die mir in das Schlachtgewühl folgten?
Ließ ich sie alle schmachvoll zurück zu abscheulichem Tode,
sehe sie ratlos umherirren, höre die Fallenden jammern?
Wie jetzt handeln? Wo könnte für mich ein Abgrund jetzt klaffen,
hinreichend tief? Doch lieber erbarmt euch meiner, ihr Winde!
Jagt mir das Fahrzeug an Felsen, auf Klippen – ich, Turnus, ich flehe
innig darum –, in die tückischen Untiefen wütender Syrten,
wohin die Rutuler mir und die wissende Fama nicht folgen!«
Während des Flehens schwankte er unschlüssig, fast wie von Sinnen
[404] angesichts solcher Schande: Ob er sich selbst in die Klinge
stürzen, das grausame Schwert durch den Brustkorb hindurchjagen solle
oder auch springen ins Meer und schwimmen zur buchtreichen Küste,
dort sich aufs neue ins Schlachtgewühl gegen die Teukrer begeben.
Dreimal versuchte er beides, doch hemmte die mächtige Juno
dreimal ihn auch und hielt ihn zurück aus innigem Mitleid.
Über die hohe See glitt er mit günstiger Strömung,
trieb dann ans Festland, zur uralten Hauptstadt des Daunus, des Vaters.
Quelle: Vergil: Werke in einem Band. Berlin 21987, S. 402-404
Wie sich die Sterblichen darüber täuschen, was ihnen gut tut, zeigt diese Passage genauso wie das Ende des Kampfes zwischen Turnus und Pallas. Es spricht freilich kein allwissender Erzähler, wie es in einer epischen Vorausdeutung geschieht, sondern der Leser/Hörer hat mehr Wissen als die handelnden Personen und kann ihren Irrtum daher ohne weitere Nachhilfe durch den Erzähler erkennen.
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