18 Dezember 2014

Karwe: das Herrenhaus

Wir haben den Park seiner Länge nach passiert und stehen jetzt vor dem Herrenhause. Es ist einer jener Flügelbauten, wie sie dem vorigen Jahrhundert eigentümlich waren, und erinnert in Form und Farbenton an das Radziwillsche Palais in Berlin. Nur ist es kleiner und ärmer an Rokokoschmuck. Auch das Eisengitter fehlt. Eine hohe Pfauenstange mit einem Pfauhahn darauf überragt vom Wirtschaftshofe her das Dach, und der vorgelegene Grasplatz steht in Blumen; aber trotz dieser Farbenpracht macht alles einen ernsten und beinah düstern Eindruck und läßt uns auch ohne praktische Probe glauben, daß das Karwer Herrenhaus ein Spukhaus sei.
Karwe gehört den Knesebecks in der vierten Generation. Der Urgroßvater des jetzigen Besitzers kaufte es im Jahre 1721 von dem Vermögen seiner Frau und errichtete das Wohnhaus, das wir, wenn auch verändert und erweitert, auch jetzt noch vor uns sehen. Die Umstände, die diesen Kauf und Bau begleiteten, sind zu eigentümlicher Art, um hier nicht erzählt zu werden. Der Urgroßvater Karl Christoph Johann von dem Knesebeck, zu Wittingen im Hannoverschen geboren, trat früh in preußische Kriegsdienste. Er war ein großer, starker und stattlicher Mann, aber arm. Die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. indes war just die Zeit, wo das Verdienst des Großseins die Schuld des Armseins in Balance zu bringen wußte und gemeinhin noch einen Überschuß ergab. Karl Christoph Johann war sehr groß, und so erfolgte denn eine Kabinettsordre, worin die reiche Witwe des Generaladjutanten von Köppen, eine geborne von Bredow, angewiesen wurde, den Oberstleutnant von dem Knesebeck zu ehelichen. Die Hochzeit erfolgte und Karwe wurde, wie schon erwähnt, erstanden. Aber die Huldbeweise gegen den stattlichen Oberstleutnant hatten hiermit ihr Ende noch nicht erreicht. Im Kopfe des Königs mochte die Vorstellung lebendig werden, daß die reiche Witwe bis dahin eigentlich alles und die Gnade Seiner Majestät nur erst sehr wenig getan habe, und so versprach er denn dem jungen Paare das neue Wohnhaus in Karwe einrichten und sogar zum Aufbau desselben die Balken und den Kalk liefern zu wollen. Und wirklich, bald stand das Haus da, und die zugesagte Möblierung erfolgte mit einer Munifizenz, die bei dem sparsam gewöhnten Könige überraschen mußte. Selbst königliche Familienporträts, zum Teil von der Meisterhand Pesnes, wurden geliefert und in einem Empfangssaale des ersten Stocks in das Mauerwerk fest eingefügt. Wir werden gleich sehen, wie wichtig es für den neuen Besitzer von Karwe war, diese stattliche Bilderreihe nicht aufgehängt, sondern eingemauert zu haben. Denn kaum noch, daß einige Monate ins Land gegangen waren, als ein großer Planwagen vor dem Knesebeckschen Hause vorfuhr und den Befehl überbrachte, das durch königliche Munifizenz erhaltene Ameublement wieder zurückzuliefern. Es waren nicht die Zeiten, um solcher Ordre nicht sofort zu gehorchen, und so versanken denn sämtliche Spiegel, Kommoden und Tische, die der gebornen von Bredow bereits lieb und teuer geworden waren, in die Heu- und Strohbündel des draußen harrenden Wagens. Was zu dieser Ordre geführt, ob einfach Laune oder aber die ökonomische Erwägung, »daß der von Knesebeck au fond reich genug sei, um nunmehro sich auch ohne geschenkte königliche Möbel behelfen zu können«, ist nie bekannt geworden. Der Planwagen fuhr ab, und ließ nichts zurück als die eingemauerten Bilder und einen alten Eichentisch, den sehr wahrscheinlich seine Unscheinbarkeit gerettet hatte.
Wir treten nun in das Haus selber ein. Das erste Zimmer mit der Aussicht auf den Park ist das Bibliothekzimmer. Auf schlichten Regalen stehen schlichte Einbände, keine Goldschnittsliteratur zum Ansehen, sondern Bücher zum Lesen, »Krieger für den Werkeltag«. Es sind Bücher und Broschüren, die der alte Feldmarschall in seinem achtzigjährigen Leben gesammelt hat und über deren Inhalt und Richtung seine eigenen Worte Auskunft geben mögen: »Mit meinen Studien in Geschichte, Philosophie und schönen Wissenschaften ging es besser; sie interessierten mich über alles, besonders Geschichte und Lebensbeschreibungen, zu denen auch bis ins späte Alter mir die Neigung geblieben ist.« Die poetische Grundanlage des alten Herrn spricht sich in diesen Worten aus; hätte es je eine schaffende dichterische Natur gegeben, der nicht Biographien und Memoiren die liebste Lektüre gewesen wären! –
Aus dem Bibliothekzimmer tritt man in das dahinter gelegene Empfangs- und Familienzimmer. Es ist groß und geräumig und macht vor allem den Eindruck behaglichen Geborgenseins. An Bildern weist es nichts von besonderem Interesse auf, außer einer Ansicht von dem in der Nähe von Salzwedel gelegenen Schloß Tilsen, dem alten Familiensitze der Knesebecks. Die eigentliche Sehenswürdigkeit dieses Zimmers ist jener alte Eichentisch, der der Versenkung in den Planwagen glücklich entging. Und doch war dies schlichte Wirtschaftsstück das eigentlichste Wertstück des Ameublements, wenn auch damals nicht, so doch jetzt. Dieser Tisch nämlich bildete seinerzeit einen Teil der langen Tafel, an der die Sitzungen des Tabakskollegiums gehalten wurden. Es existieren solcher Tische nur noch zwei, dieser Knesebecksche in Karwe und ein Zwillingsbruder desselben in Potsdam. Eine Decke von braunem schwerem Seidenzeug verhüllt wie billig die eichene Derbheit dieses nicht salonfähigen Möbels, dessen Konstruktion ganz eigentümlicher Art ist. Die Platte besteht aus zwei abgestutzten Dreiecken und ruht auf sechs Füßen, die wiederum ihrerseits zwei Dreiecke bilden. Verbindungshölzer und Eisenkrampen halten das Ganze zusammen und stellen einen Bau her, der allen Anspruch darauf hatte, nicht beachtet zu werden, als die Trumeaux hinausgetragen wurden.


Links neben dem Empfangssaale befindet sich das Arbeitszimmer des gegenwärtigen Besitzers. Es ist sehr klein, etwas geräuschvoll gelegen und selbst zur Nachtzeit ohne wünschenswerte Ruhe. Die »Dame im schwarzen Seidenkleid« nämlich, als welche der Karwer Spuk auftritt, beginnt von hier aus ihren Rundgang, und wer mag ruhig und gemütlich ein Buch lesen, wenn er fürchten muß, die schwarze Frau steht hinter ihm und liest mit, wie zwei Leute, die aus einem Gesangbuch singen.
Über dem Schreibpult im selben Zimmer hängt ein sehr gutes Crayonporträt des Feldmarschalls, und auf einem Tischchen daneben steht ein porzellanenes Schreibzeug mit einer Rosengirlande, ein Geschenk vom alten Gleim, der dem Feldmarschall in seinen Halberstädter Leutnantstagen nah befreundet war.
Zur Rechten des Empfangszimmers ist der Speisesaal. Hier befinden sich neben anderen Schildereien vier Familienporträts: zunächst der Ahnherr des Hauses, einem Grabsteinrelief nachgebildet, das sich in der Kirche zu Hannoversch-Wittingen bis diesen Tag erhalten hat. Unmittelbar darunter hängen die Bilder des Urgroßvaters und Großvaters des jetzigen Besitzers, von denen wir den ersteren als stattlichen und reich verheirateten Oberstleutnant bei der Garde, den andern als Vater des Junkers vom Regiment von Kalkstein bereits kennengelernt haben. Er wurde bei Kolin durch Arm und Leib geschossen und war der, auf den der alte Zieten die schon vorzitierten Worte bezog: »Gott segne dich und werde so brav wie dein Vater.« Unter diesen beiden Porträts hängt das vortrefflich ausgeführte Ölbild des Feldmarschalls von dem Knesebeck, damals (unmittelbar nach dem Befreiungskriege) noch Generalleutnant in der Okkupationsarmee. Das Porträt zeigt in seiner linken Ecke den Namen: »Steuben; Paris, 1814«, kurze Worte, die genugsam für den Wert des Bildes sprechen.
Aus dem Speisesaale treten wir in das angrenzende Wohnzimmer, wo, über dem Schreibtisch der Dame vom Hause, eine Kopie des Correggioschen Christuskopfes auf dem Schweißtuche der heiligen Veronika unsere Aufmerksamkeit fesselt. Das Original bildet jetzt, wenn nicht neuerdings wiederum Änderungen stattgefunden haben, eine Zierde unseres Berliner Museums. Früher hing es im Wohnzimmer zu Karwe, an derselben Stelle, die sich jetzt mit der bloßen Kopie behelfen muß. Interessant ist es, wie das Original in den Besitz der Familie kam. Der Feldmarschall bereiste, wahrscheinlich 1819, Italien und kam nach Rom. Kurz vor seiner Rückreise wurde ihm von einem Trödler ein Christuskopf zum Verkauf angeboten, dessen hohe Schönheit auch seinem Laienauge auf der Stelle einleuchtete. Er kaufte das Bild für eine ansehnliche Summe. Kaum aber war er im Besitz desselben, als sich das Gerücht verbreitete, eins der italienischen Klöster sei beraubt worden – der Correggiosche Christuskopf auf dem Schweißtuche der heiligen Veronika sei fort. Der nächste Tag brachte die amtliche Bestätigung, und Belohnungen wurden ausgesetzt für die Wiederbeschaffung und selbst für den Nachweis des berühmten Gemäldes. Knesebeck begriff die Gefahr und traf seine Vorkehrungen. Das Bild ward in ein Wagenkissen eingenäht, und der glückliche Besitzer, der bis dahin kaum selber gewußt haben mochte, was er besaß, nahm auf seinem neuen Schatze Platz und brachte so sein schönes Eigentum glücklich über die Alpen. Ich kann nicht sagen, wie lange das Bild in Karwe blieb, mutmaßlich nur kurze Zeit. Jedenfalls nahm das Haus Knesebeck, das zu Anfang des 18. Jahrhunderts von den Hohenzollern ein halbes Dutzend Familienporträts geschenkt erhalten hatte, zu Anfang des 19. Jahrhunderts Veranlassung, den Hohenzollern ein Gegengeschenk zu machen und warf (in aller Loyalität sei es gesagt) einen Correggioschen Christuskopf gegen sechs Pesnesche Kurfürsten unzweifelhaft siegreich in die Waage. Friedrich Wilhelm III. akzeptierte in Gnaden das Geschenk und willigte gern in Erfüllung des einen Wunsches, den Knesebeck bei Überreichung des Bildes geäußert hatte, »daß dasselbe nämlich unwandelbar in der königlichen Hauskapelle verbleiben möge.« Diese Zubewilligung ist indessen im Laufe der Zeit entweder vergessen oder aber aus einem Humanitätsgefühle der Hohenzollern »die nichts Schönes für sich allein haben wollen« absichtlich geändert worden. Das Bild gehört nicht mehr der Hauskapelle, sondern dem Bildermuseum an. Nur bei Gelegenheit der Taufe des jungen Prinzen Friedrich Wilhelm, dessen Geburt im Januar 1859 alle loyalen Herzen in Stadt und Land mit Freudigkeit erfüllte, kam auch der Correggio wenigstens vorübergehend wieder zu seinem zugesagten Recht und wanderte auf vierundzwanzig Stunden aus den Museumssälen in den prächtigen Kuppelbau der Schloßkapelle hinüber.
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Am Ruppiner See. Karwe, S.26-31

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