Mary war dem schweren Abschied, der mich mit dem ungewissen Schicksal eines Schiffes verband, aus dem Wege gegangen und einige Tage früher von Hamburg nach Hohenhaus heimgereist. Am Tage vor der Abfahrt hatte ich mit Georg einen Besuch in meinem schwimmenden Hause gemacht. Es war ein Stockfisch führender Dampfer der Sloman-Linie. Kapitän Sutor, schlank und mittleren Alters, hieß mich willkommen. Abends gab mir, wie ich es wünschte, Vater allein das Geleit zum Schiff. [...]
Er war ein großes Erlebnis, vielleicht in meinem bisherigen Dasein das größte, weil zugleich mit dem kleinen Frachtdampfer mein eignes Lebensschiff vom festen, vom heimatlichen Ufer stieß und sich – so war mein bewußtes Gefühl – schicksalhafter, uferloser Unendlichkeit überlieferte. [...]
Nachdem Kapitän Sutor mit mir allein einige Male in der offiziellen Kajüte steif diniert hatte, fragte er mich, wie ich darüber dächte, mit seinen Leuten und ihm in der Messe zu essen. Mit Vergnügen nahm ich die Ehre an. Es war ein Beweis, daß ich dem Kapitän nicht mißfallen hatte.
Seltsamerweise – Systole nach Diastole – verengte sich nun meine Vorstellung des großen und weiten Seewesens zu einem kleinen, sehr gemütlichen, freilich schwimmenden Bürgerhaus. Kapitän Sutor, Maschinenmeister Wagner, der Erste Steuermann, der Bootsmann und ich bildeten sein Konvivium. Dazu kamen zwei Untermaschinisten, einige Matrosen und der immer behaglich am Herde beschäftigte Koch, dessen Ausruhen darin bestand, vor der Kambüse Rüben zu schaben oder Kartoffeln zu schälen. Über dem kleinen Kreis lag der Geist einer stillen Seßhaftigkeit, unbeschadet dessen, daß der Frachtdampfer seine zehn Knoten die Stunde zurücklegte. Nach einigen Tagereisen war ich auf der »Livorno« eingelebt. Ich gehörte ganz zur Familie. Eigentlich war ich mehr ein lieber Besuch, der von allen verwöhnt wurde. Ich brachte die Tagesstunden bei jedem Wetter auf der Kommandobrücke zu, wo ich meist, während Kapitän und Erster Steuermann observierend auf und ab schritten, mit dem dicken, kleinen Maschinenmeister Schach spielte. Wir brauchten acht Tage, bevor wir in Malaga anlegen konnten. Wann hätte ich wohl während meines bewußten Lebens acht Tage in solcher Ruhe und solcher Harmonie zugebracht? Ich empfand das bald, und der Gedanke an ihren Abschluß war mir kein lieber. Herrliche Luft, Weitsicht ohnegleichen, Bewegung bei völliger Ruhe und Verantwortungslosigkeit. Küsten, Schiffe, die Goodwin-Sands, im werdenden Dunkel zuckende Leuchtfeuer, Schifferbarken, Lotsenkutter, Dreimaster, Fracht- und Passagierdampfer, als Punkte auftauchend und wieder verschwindend, manchmal in voller Größe da. Aber immer, ob größer, ob kleiner, unüberbrückbar eine Entfernung zwischen den Gegenständen und uns: uns, den stillgeeinten, ruhigen Menschen. Außer uns wohlzufühlen, hatten wir keinen Beruf. Nie kam eine Zeitung, nie ein Brief, keinerlei Nachrichten, nicht gute, nicht schlimme, erreichten uns, noch weniger hatten wir einen Besuch zu gewärtigen. Das bedeutete ein tiefes Ausruhen, wie es in Zeiten der drahtlosen Telegraphie und des Radio kaum mehr möglich ist. Ich brachte schlecht und recht unsere selbstgenügsame Schiffsfamilie in mein Skizzenbuch. Sutor, über die Barre gelehnt, Falstaff-Wagner, den Bootsmann, den Koch. Daran nahmen die einzelnen teil wie die Kinder. Die Messe war das Innere eines Würfels mit eisernen Wänden. Man mußte sich zwischen Wandbank und Tisch hineinschieben, wenn man bei Frühstück und Abendbrot seinen Platz einnehmen wollte. Das Essen war gut. Es wurden nach Hamburger Sitte auf der »Livorno« nur immer gewaltige Fleischstücke, Kalbskeulen oder Roastbeefs, aufgetragen und dabei viel Tee, weniger Bier und Wein genossen. Es ging nicht anders, ich hatte mich in diesem enggedrängten Kreis wieder als Erzähler aufzutun. Auf das Umgekehrte war ich gefaßt: nämlich Sindbadberichten meiner weitgereisten Seeleute mit offenem Munde zuzuhören. Aber sie wußten nichts und wollten nichts wissen von dem berühmten Fliegenden Holländer oder vom Klabautermann, und so konnten und wollten sie nichts erzählen, sondern nur hören wollten sie. Nie, außer dem kleinen Gustav und der kleinen Ida Krause vor dem Ofenloch im Souterrain des Gasthofs zur Krone und den Kindern von Lohnig im Heu, hatte ich ein so unersättliches Publikum. An der kleinen Messetafel sprach außer mir nur der Kapitän. Der Erste Steuermann, Maschinist Wagner oder der Bootsmann taten den Mund nur auf, wenn der Kapitän das Wort an sie richtete. Aber dieser handelte nur im Sinne aller, wenn er nach und nach meine ganze Lebensgeschichte aus mir herausholte. [...]
Es ist nicht leicht, die psychischen Ursachen meiner Hingerissenheit von damals, mit der ich andere hinriß oder wenigstens in Staunen versetzte, manchmal zum Widerspruch reizte, auszumitteln: große Illusionen beherrschten mich, das wirkliche Glück, das wie ein grünes Meer den köstlichen Segler meines Lebens trug, ließ von ferne glückselige Inseln vor mir auftauchen. Es bleibt ein Wesenszug des Glücks, daß es immer noch höheres Glück erstrebt, dem Unglück darin sogar überlegen. [...]
Zwanzigstes Kapitel
Unser Bootsführer, ein kleiner, halbnackter, sehniger und struppiger Kerl, wurde von einer schönen, mit schwarzer Mantilla bekleideten Dame empfangen. Es war, wie der Kapitän mir sagte, seine Frau. Ich wartete auf dem Flur vor dem Büro des Konsulates, solange der Kapitän darin zu tun hatte. Da kam wiederum eine schwarzgekleidete, diesmal höchstens vierzehnjährige Schönheit, ebenfalls mit dem Spitzentuch um den Kopf, mit mehreren lachenden jungen Herren an mir vorbei, eine Begegnung, die mir Herzklopfen machte. Ich eröffnete mich dem Kapitän. Er lachte und sagte, daß man allerdings hier in Malaga mehr als anderswo seine Brust verschanzen müßte. [...] Liebe ist Mitleid, Mitleid ist Liebe, behauptet Schopenhauer, mit Recht nur insoweit, als überhaupt ein so unergründliches Phänomen mit Worten zu vereinen ist. Und doch verurteilte ich mich als einen Hochverräter zum Tode durch das Schwert, im Gedanken an die ferne Mary, als ich die Finger des spanischen Mädchens mit den meinen eng verschlungen fühlte. Es bedeutete wenig, es ging vorüber. Aber wußte ich denn, wie weit mich die begonnene Bindung fesseln, zu welchen nicht wiedergutzumachenden, selbstverderberischen Schritten sie mich noch verleiten würde? Vielleicht telegraphierte ich an Mary, log, ich sei bestohlen worden oder so, ließ mir Geld senden, kaufte das Mädchen frei oder ging mit ihm durch, ohne es freizukaufen, wurde verfolgt, festgenommen, was weiß ich – und würde an Mary als Schurke gehandelt und sie mit Recht verloren haben. Aber was ging mich das Gestern an? Der Teetisch ward mehr und mehr vereinsamt, und ich und das Mädchen saßen schließlich als die letzten daran. Da sagte ich, daß ich sie zeichnen wolle, holte aus der Garderobe mein Skizzenbuch, und wir folgten einer alten Beschließerin, die uns dann in einem beinahe prunkvoll eingerichteten Schlafgemach, nachdem sie einige Lichter entzündet, verließ.
Treue
in Dingen der Liebe erscheint heute manchem lächerlich. Hätte ich
sie in jener Nacht Mary nicht zu halten vermocht, mein Leben wäre
ganz anders verlaufen. Pilar, die Säule, hatte sich in reiner
Nacktheit gehorsam vor mich aufgestellt. Ich betrog mich selbst, wenn
ich meiner zitternden Hand, meinem ringenden Herzen, meiner faseligen
Benommenheit die Möglichkeit andichtete, diese nahe Aphrodite zu
zeichnen.
Die
Nähe des Bettes, der leise befremdete, gehorsame Blick, das
Ehrenrührige meiner Josephhaftigkeit steigerten mich in eine große
Verwirrung hinein, indem ich Pilar zur Mitwisserin meines Kampfes
machte. Ich legte allen Kummer und alle Liebe zu ihr, wie ich meinte,
in meinen Blick, ich legte die Hände an die Schläfen, ich habe dann
ihre Stirn leise geküßt, ebenso leise ihre Schultern berührt,
ebenso leise und leiser ihren Busen. Und dann habe ich das
Lichtbildchen meiner Braut aus der Brusttasche gezogen und geküßt.
Ich
bin von Pilar verstanden worden.
Nie
wird man einen gesünderen Körper sehen: straff, edel, ohne Hüften,
mit festen, breit auslaufenden Brüsten, wie man sie an den schönsten
griechischen Marmorbildern sieht. Alles gesund, straff, bodenwüchsig,
und doch – Spital, Opium, Trunk, Untergang. [...]
Einundzwanzigstes Kapitel
Einen wirklichen Sturm, den einzigen unserer Reise, erlebten wir im Golfe du Lion. Die »Livorno« lief gleichsam in einen Graben von Wasser eingesenkt. Die kurzen springenden Wellen des Mittelmeeres gaben an jeder Seite des Schiffes die Illusion einer bewegten Glasmauer. Es bestand keine Gefahr, aber wir schienen verloren zu sein.
Ich
ging in Marseille an Land, weil man mir riet, die schöne Strecke von
dort nach Genua mit der Bahn zurückzulegen.
In
Monaco nahm ich vierundzwanzig Stunden Aufenthalt, wollte das Kasino
besuchen, um den Eindruck der Spielhölle mit mir zu nehmen, wurde
jedoch am Eingang zurückgewiesen.
Ich
sei noch zu jung, sagte man.
Wie
alt man sein müsse, um die Spielsäle besuchen zu können? Man gab
zur Antwort: Majorenn. Ich sei majorenn, behauptete ich, worauf man
sogleich die Frage stellte, in welchem Jahre ich geboren sei.
Überrascht und kopflos gab ich mein wahres Geburtsjahr an.
Der
Herr am Eingang lächelte nur: »Sie haben in der Eile nicht richtig
gerechnet«, sagte er, »Sie hätten ihrem Alter nicht nur zwei,
sondern mindestens vier Jahre hinzusetzen müssen.«
Damit
war die Sache abgetan. Ich habe den kleinen Vorfall erwähnt, weil er
zeigt, wie ich im Gegensatz zu manchen andern nicht für älter,
sondern für erheblich jünger, als ich wirklich war, gehalten wurde:
schien mich doch der Spielbankkontrolleur auf siebzehn zu schätzen.
Daß
ich mich noch auf dem alten Kontinent befand, hatte ich fast
vergessen, als ich in der Dachstube eines Genueser Hotels mein
Nachtessen mit einer halben Flasche Rotwein zu mir nahm. Es waren ja
mehr als zwei Wochen verflossen, seit ich Hamburg verlassen hatte –
es schienen einige Jahre zu sein, in Ansehung des Erlebten und meiner
Wesensveränderung.
Allerdings
wirkte Genua, verglichen mit Malaga und Barcelona, das wir ebenfalls
angelaufen hatten, im europäischenSinne nicht mehr fremdartig. Aber
mein neues Wesen sah es nur als Durchgangspunkt. Morgen mußte die
»Livorno« im Hafen sein, mich aufnehmen und weiter, mit dem Ziel
Athen, in die Fremde forttragen.
Im
übrigen, was das Hauptsächlichste war: seit ich in Hamburg den
Schiffsbord betreten, lag der alte Kontinent meiner Seele hinter mir,
und ich sah auf ihn von Malaga aus und wiederum aus dem Genueser
Hotelzimmer als auf einen fern verschwimmenden Traum zurück. [...]
In Genua trifft Gerhart Hauptmann
mit seinem Bruder Carl zusammen.Durch dieses Zusammentreffen, so schön es war, wurde ich in der Folge von meinem Ziel Griechenland abgelenkt. Das Wesen unserer brüderlichen Verbindung und Freundschaft ist nicht leicht zu erhellen. Sie besaß etwas Inniges, Unzertrennliches und, trotz aller schweren Krisen oder gerade infolge dieser Krisen, etwas Siamesisches. Es war in uns ein Zwillingsgeist, ein Zwillingswollen, ein Zwillingsschritt – aber ich war dabei jetzt der Führende. Es lag daran, daß ich schon früh aus dem Pferch gebrochen war, daß ich für mich allein gerungen und gesucht hatte, während für Carl noch die Schule dachte und handelte. [...]
Die kluge Martha Thienemann, Carls Braut, ward durch die Anziehungskraft, die wir aufeinander ausübten, Carl weniger auf mich als ich auf Carl, mit Recht beunruhigt. Wer sollte ihr wohl verdenken, daß sie den Geliebten und seine Neigung für sich allein haben wollte? Aber nicht der Verlust an Liebe allein machte sie besorgt, ihr aufmerksam wacher Sinn sah Carls Wesen durch mich beunruhigt. [...]
Carl fährt ein Stück mit Gerhardt auf der Livorno mit, verträgt die Seefahrt aber nicht und überredet Gerhart dazu, in Italien zu bleiben, statt nach Griechenland weiter zu reisen.
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