Vierundzwanzigstes Kapitel
Eines Morgens wachte meine Mutter, mit der ich, wie schon gesagt, das nicht sehr anheimelnde Schlafzimmer teilte, auf eine seltsame Weise auf. »Gerhart, gehe doch mal«, sagte sie, im Bett sich aufrichtend, »Gerhart, gehe doch mal ...« Weiter kam sie nicht. »Gerhart, willst du so gut sein und ...« Aber auch diesmal kam sie nicht weiter. »Gerhart, mir ist nämlich, mußt du wissen ...« Abermals trat die Stockung ein. Ich erkannte sogleich, daß meine Mutter nur halb bei Besinnung war und hilflos um sich her tastete. »Gerhart, willst du nicht Vater sagen ...« Ich sprang aus dem Bett und rief ihn herbei. Doktor Straehler, Doktor Oliviero und Doktor Richter wurden gerufen. Nach ihrem gemeinsamen Ausspruch bestand kein Zweifel, daß die furchtbare Hand der herrschenden Pest in unser Haus und nach meiner Mutter gegriffen hatte. Sie war da, unter unserm Dach, mitten unter uns. Keiner wußte, ob er ihr noch entgehen konnte. Die Kranke wurde sogleich im Hause isoliert, so gut oder schlecht, wie es damals üblich war. Aber infolge der Energie meines Vaters wurden alle Vorsichtsmaßregeln, Ansteckung zu vermeiden, durchgeführt. Immerhin lag der Eingang zum Krankenzimmer nur vier oder fünf Schritt von dem unserer Wohnstube. Carl und ich wurden sogleich geimpft, alle Hausgenossen desgleichen, und es hat denn auch eine Übertragung der Krankheit im Kurhaus nicht stattgefunden. Daß mein Vater und wie mein Vater die Mutter liebte, erwies sich bei dieser Gelegenheit. Der Kursaal war nun also ein Blatternhaus. Er mußte als Gasthof geschlossen werden und wurde – ich weiß nicht durch welche äußere Zeichen – als verseucht kenntlich gemacht. [...]
[Die Mutter erkrankt.]
Eines Morgens wachte meine Mutter, mit der ich, wie schon gesagt, das nicht sehr anheimelnde Schlafzimmer teilte, auf eine seltsame Weise auf. »Gerhart, gehe doch mal«, sagte sie, im Bett sich aufrichtend, »Gerhart, gehe doch mal ...« Weiter kam sie nicht. »Gerhart, willst du so gut sein und ...« Aber auch diesmal kam sie nicht weiter. »Gerhart, mir ist nämlich, mußt du wissen ...« Abermals trat die Stockung ein. Ich erkannte sogleich, daß meine Mutter nur halb bei Besinnung war und hilflos um sich her tastete. »Gerhart, willst du nicht Vater sagen ...« Ich sprang aus dem Bett und rief ihn herbei. Doktor Straehler, Doktor Oliviero und Doktor Richter wurden gerufen. Nach ihrem gemeinsamen Ausspruch bestand kein Zweifel, daß die furchtbare Hand der herrschenden Pest in unser Haus und nach meiner Mutter gegriffen hatte. Sie war da, unter unserm Dach, mitten unter uns. Keiner wußte, ob er ihr noch entgehen konnte. Die Kranke wurde sogleich im Hause isoliert, so gut oder schlecht, wie es damals üblich war. Aber infolge der Energie meines Vaters wurden alle Vorsichtsmaßregeln, Ansteckung zu vermeiden, durchgeführt. Immerhin lag der Eingang zum Krankenzimmer nur vier oder fünf Schritt von dem unserer Wohnstube. Carl und ich wurden sogleich geimpft, alle Hausgenossen desgleichen, und es hat denn auch eine Übertragung der Krankheit im Kurhaus nicht stattgefunden. Daß mein Vater und wie mein Vater die Mutter liebte, erwies sich bei dieser Gelegenheit. Der Kursaal war nun also ein Blatternhaus. Er mußte als Gasthof geschlossen werden und wurde – ich weiß nicht durch welche äußere Zeichen – als verseucht kenntlich gemacht. [...]
[Die Mutter erkrankt.]
Sorgenvolle Wochen vergingen nun, in denen wir auf das Befinden der Mutter aus dem Verhalten des Vaters schließen konnten, auch wenn er keine Berichte gab. Stieg im Krankenzimmer die Gefahr, so war der Vater schweigsam und unruhig, waren die Ärzte hoffnungsvoll, so spürten wir das an einer gewissen Zärtlichkeit, mit der uns der Vater behandelte.
Es kam dann ein Tag, an dem er nach dem Besuch der Ärzte zu uns trat, die goldene Brille abnahm und putzte und mit feuchten Augen sprach: »Unser lieber himmlischer Vater scheint beschlossen zu haben, daß wir unsere gute Mutter behalten sollen. Sorgt nun, daß ihr selber gesund bleibt, macht euch fort an die Luft, springt im Posthof herum, aber meidet die andern Menschen!«
Die Ärzte behielten recht. Bald bezogen sich die Krankenberichte nur noch auf einzelne Phasen der Rekonvaleszenz, den Rückgang des Fiebers und sein Ende, die Art und Menge der Nahrungsaufnahme, die man der Kranken zubilligte, die Mittel, die man gegen die zu befürchtenden Blatternarben anwandte, Mittel, welche die Hoffnung rechtfertigten, es werde im Antlitz meiner Mutter keine entstellende Spur der überstandenen Krankheit zurückbleiben.
Mit der Natur über Frühlingsanfang hinweg wuchs meine Mutter wiederum mehr und mehr ins Leben hinein, und eines Tages hieß es, sie könne nun bald aufstehen. [...]
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Die Saison war im Gang, das Hotel zur Krone, wie immer um diese Zeit, glich einem Bienenhaus. Ankommende Gäste, Kutscher und allerlei Leute lärmten im Hof. »Hauffe, sullst assa kumma!« schrie die kleine, jetzt siebenjährige Ida Krause mit durchdringender Stimme täglich um zwölf Uhr vom Haus hinüber zu den Stallungen. Den derben, kleinen, resoluten Strunk hatte man gern, und mein Vater freute sich jedesmal, wenn er Idas »Hauffe, sullst assa kumma!« vernahm. Sagte man ihm, daß er ihr das Geschrei verbieten sollte, lehnte mein Vater lachend ab. Plötzlich, nachdem ich sie tags zuvor noch ihren pflichtgetreuen Ruf hatte ausstoßen hören, wurde bekannt, Ida Krause sei tot. Sie war an Diphtheritis gestorben. Der Ruf also, der den alten Pferdeknecht Hauffe zu jenem Mittagessen aufforderte, das ich selbst einmal als Gast am Krausetisch unvergeßlichen Angedenkens eingenommen hatte, erscholl von nun an in Ewigkeit nicht mehr. Ein scheinbar unsterbliches Etwas, ein tüchtiges, bei all seiner Jugend bereits arbeitswütiges Bauernmädel hatte sich ins Nichts aufgelöst. Ich habe weder die Leiche gesehen, noch habe ich den kleinen Sarg begleitet, als man Ida unter Vorantritt der Schule und des Lehrers Brendel vom Oberdorf nach dem Niederdorf, parallel dem Flusse der Salzbach, zu Grabe trug. [...]
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Anders und tiefer war der Kampf, den meine Mutter damals, durch Jahre, um die Seele der Tochter kämpfte, die ihrer Meinung nach ihre kindliche Pflicht vergaß und in ein fremdes Lager überging.
Wie meine Mutter fühlte und nicht fühlte, lebte sie in einer Art Aschenputtelexistenz. Gram und Kummer deswegen waren vielfach auch mir gegenüber zum Ausdruck gekommen. Sie setzte instinktiv bei Johanna ein ähnliches Fühlen voraus. Vielleicht schwebte ihr von dieser Seite eine Entlastung vor, die sie anderwärts nicht erhoffen konnte.
Johanna ging einen andern Weg. Obgleich sie, wie mein Vater es nannte, als Siebenmonatskind nur ein kleines Leben war, bestand ein starker Wille in ihr, den auch ich nicht selten zu spüren bekam. Sie schwieg, wo sie anderer Meinung war, verharrte jedoch um so fester auf ihrer. Das Beispiel der Mutter, die in den Sorgen und der Mühsal des Haushaltes ertrunken war, glich einer immerwährenden Warnung, aus Willensschwäche einem ähnlichen Schicksal anheimzufallen. Nein! Eier quirlen, Bouillon abraumen, Knochenbänder durchhauen, Hühner und Fische schlachten, Pfannen reinigen, scharfen Fettdunst einatmen, Bohnen schneiden, Schoten auspahlen, Kirschen entkernen, Strümpfe stricken und Strümpfe stopfen lag meiner Schwester nicht.
Unwiderstehlich fühlte sie sich vielmehr durch die vornehme Geistigkeit des von Randowschen Kreises angezogen, wo man Englisch und Französisch trieb, deutsche Dichter las und am Klavier Mozart, Schubert und Beethoven pflegte. Die Auseinandersetzungen zwischen meiner Mutter und meiner Schwester, die nicht selten in meiner Gegenwart stattfanden, steigerten sich mitunter zu großer Heftigkeit. Meine Mutter war hierin kurzsichtig. Wäre Johanna ihr gefolgt, wahrscheinlich wäre sie zeitig zugrunde gegangen, denn eine Entwicklung, wie die hier für sie erstrebte, war für sie bei der Zartheit ihrer Anlage Unnatur. [...]
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)
Die Saison war im Gang, das Hotel zur Krone, wie immer um diese Zeit, glich einem Bienenhaus. Ankommende Gäste, Kutscher und allerlei Leute lärmten im Hof. »Hauffe, sullst assa kumma!« schrie die kleine, jetzt siebenjährige Ida Krause mit durchdringender Stimme täglich um zwölf Uhr vom Haus hinüber zu den Stallungen. Den derben, kleinen, resoluten Strunk hatte man gern, und mein Vater freute sich jedesmal, wenn er Idas »Hauffe, sullst assa kumma!« vernahm. Sagte man ihm, daß er ihr das Geschrei verbieten sollte, lehnte mein Vater lachend ab. Plötzlich, nachdem ich sie tags zuvor noch ihren pflichtgetreuen Ruf hatte ausstoßen hören, wurde bekannt, Ida Krause sei tot. Sie war an Diphtheritis gestorben. Der Ruf also, der den alten Pferdeknecht Hauffe zu jenem Mittagessen aufforderte, das ich selbst einmal als Gast am Krausetisch unvergeßlichen Angedenkens eingenommen hatte, erscholl von nun an in Ewigkeit nicht mehr. Ein scheinbar unsterbliches Etwas, ein tüchtiges, bei all seiner Jugend bereits arbeitswütiges Bauernmädel hatte sich ins Nichts aufgelöst. Ich habe weder die Leiche gesehen, noch habe ich den kleinen Sarg begleitet, als man Ida unter Vorantritt der Schule und des Lehrers Brendel vom Oberdorf nach dem Niederdorf, parallel dem Flusse der Salzbach, zu Grabe trug. [...]
Vielleicht sah meine Schwester in meinem Verhalten mit Besorgnis Zeichen der Verwahrlosung und hatte sich mit ihrer Lehrerin Mathilde Jaschke darüber ausgesprochen. Sie nahm mich jedenfalls eines Tages zu dieser Dame und deren Pflegemutter, dem Fräulein von Randow, mit.
Beide Persönlichkeiten neigten sich mit einer großen Zartheit und Wärme zu mir. Ich durfte Tee trinken, Kuchen essen und mich in den Räumen des Hauses, genannt Kurländischer Hof, nach Belieben umsehen. Wohlfühlen konnte sich hier ein zügelloses Naturkind zunächst freilich nicht, aber es überkam mich ein heimliches Staunen, eine stille Bewunderung. Die Zimmer mit ihren antiken Möbelstücken und ihren Parkettfußböden rochen nach poliertem Holz und nach Bohnerwachs und waren mit Reseda und Goldlack in Vasen und Schalen parfümiert.
Fräulein von Randow war wohlhabend. Ich habe die hohe, würdevolle Erscheinung mit der weißen Rüschenhaube und dem schlichten grauen Habit deutlich in Erinnerung. In ihrem Besitz befand sich eine alte Vitrine, die von vier Mohren getragen wurde. Ein anderer Schrank mit vielen kleinen Schüben war mit Olivenholz fourniert und das Äußere jedes Faches mit sogenanntem Landschaftsmarmor ausgelegt. Jedes der beiden Stücke war eine Seltenheit. Aber auch alles übrige der gesamten Einrichtung war kostbar und von erlesenem Geschmack. Das Ganze, als es später durch Erbschaft an Mathilde Jaschke, hernach auf meine Schwester überging, blieb jahrzehntelang eine Fundgrube und ist trotz mancher Verkäufe und Schenkungen bis zum heutigen Tag noch nicht erschöpft.
Die selbstverständliche Freiheit und Sicherheit, mit der meine Schwester sich im Hause der adligen Dame bewegte und wie sie hier gleichsam als dazugehörig betrachtet wurde, steigerte meinen Respekt vor ihr. Und in der Tat hatte schon damals das Verhältnis des weißgelockten Fräuleins von Randow zu ihr einen mütterlichen Charakter angenommen. Ähnlich stand es mit Fräulein Jaschke, der Pflegetochter.
Ein resoluter Geist und ein goldenes Herz waren vereinigt in ihr, Eigenschaften, womit sie sich überall durchsetzte.
»Das größte Zartgefühl schulden wir dem Knaben«, sagt Juvenal. Es war auch der Grundsatz, nach dem ich im Kurländischen Hof behandelt wurde. Hier erschloß sich mir ahnungsweise ein bis dahin unbekanntes Bildungsgebiet, wenn es mich vorerst auch nur sehr gelegentlich und sehr flüchtig berühren mochte. Eine gewisse Verwandtschaft bestand allerdings zwischen diesem Hause und Dachrödenshof als den letzten Ausläufern einer Kultur, die im großen ganzen versunken war.
In der Umgebung des Fräuleins von Randow herrschte der Geist heiter-ernster Weltlichkeit, der keine moralische Schärfe zeigte und es einem ganz anders als in der scharfen Atmosphäre um das bucklig-fromme Täntchen Auguste wohlwerden ließ, deren spitze Blicke und spitzere Worte fortwährend Kritik übten. Welche der beiden Geistessphären an sich tiefer und bedeutsamer war, entscheide ich nicht.
Es war der Kummer meiner Mutter, daß mein Vater zu seiner Tochter Johanna, solange sie Kind war, kein freundliches Verhältnis gewinnen konnte. Er schien sie immer zurückzusetzen. Es war nicht zu ergründen, ob dies nun nach Hannchens gleichsam triumphaler Rückkehr aus der Pension anders geworden war. Immerhin schien sich mein Vater zurückzuhalten, und wahrscheinlich hatte meine Schwester im Kurländischen Hof mit der imponierenden adligen Dame und ihrer resoluten und gebildeten Pflegetochter einen neuen und starken Rückhalt gefunden. Dieser Rückhalt verstärkte sich. Er führte alsbald im Dachrödenshof und sogar bei meiner Mutter zu Eifersucht. Tante Auguste und Fräulein Jaschke hatten einander nichts zu sagen und mieden sich. Elisabeth stand Fräulein Jaschke näher, da sie immer noch Hoffnungen weltlicher Art nährte, aber das Verhältnis war kriegerisch. Nie ist zwischen beiden das Kriegsbeil vergraben worden. Meistens war es die Seele Johannas, um die man auf beiden Seiten stritt, Elisabeth im zelotischen Sinn, Mathilde ihren Zögling verteidigend. Sechsundzwanzigstes Kapitel
Anders und tiefer war der Kampf, den meine Mutter damals, durch Jahre, um die Seele der Tochter kämpfte, die ihrer Meinung nach ihre kindliche Pflicht vergaß und in ein fremdes Lager überging.
Wie meine Mutter fühlte und nicht fühlte, lebte sie in einer Art Aschenputtelexistenz. Gram und Kummer deswegen waren vielfach auch mir gegenüber zum Ausdruck gekommen. Sie setzte instinktiv bei Johanna ein ähnliches Fühlen voraus. Vielleicht schwebte ihr von dieser Seite eine Entlastung vor, die sie anderwärts nicht erhoffen konnte.
Johanna ging einen andern Weg. Obgleich sie, wie mein Vater es nannte, als Siebenmonatskind nur ein kleines Leben war, bestand ein starker Wille in ihr, den auch ich nicht selten zu spüren bekam. Sie schwieg, wo sie anderer Meinung war, verharrte jedoch um so fester auf ihrer. Das Beispiel der Mutter, die in den Sorgen und der Mühsal des Haushaltes ertrunken war, glich einer immerwährenden Warnung, aus Willensschwäche einem ähnlichen Schicksal anheimzufallen. Nein! Eier quirlen, Bouillon abraumen, Knochenbänder durchhauen, Hühner und Fische schlachten, Pfannen reinigen, scharfen Fettdunst einatmen, Bohnen schneiden, Schoten auspahlen, Kirschen entkernen, Strümpfe stricken und Strümpfe stopfen lag meiner Schwester nicht.
Unwiderstehlich fühlte sie sich vielmehr durch die vornehme Geistigkeit des von Randowschen Kreises angezogen, wo man Englisch und Französisch trieb, deutsche Dichter las und am Klavier Mozart, Schubert und Beethoven pflegte. Die Auseinandersetzungen zwischen meiner Mutter und meiner Schwester, die nicht selten in meiner Gegenwart stattfanden, steigerten sich mitunter zu großer Heftigkeit. Meine Mutter war hierin kurzsichtig. Wäre Johanna ihr gefolgt, wahrscheinlich wäre sie zeitig zugrunde gegangen, denn eine Entwicklung, wie die hier für sie erstrebte, war für sie bei der Zartheit ihrer Anlage Unnatur. [...]
Dieser junge George oder Fritz oder Jean, mit Strohhut, Stöckchen und elegantem Sommerpaletot, stand eines Tages, während ich speiste, vor mir in der Büfettstube. Er schwenkte sein Stöckchen, hob den Hut, wischte mit einem seidenen Taschentuch seine Stirn und fragte mit einer mir an ihm fremden Ungeniertheit: »Sagen Sie, Gerhart, wo ist Ihr Vater?« Ich war erschreckt, denn ich merkte, daß etwas bei ihm nicht in Ordnung war. Als ich zunächst durch Schweigen antwortete, fiel ihm das, wie mir schien, nicht auf. Er pflanzte sich vor den Spiegel und bürstete sorgfältig seinen Scheitel, der tadellos von der Stirn bis zum Nacken ging. Er müsse meinen Vater sprechen, erklärte er, weil er ein Geheimnis entdeckt habe. Er sagte das aber nicht zu mir, sondern führte ein Selbstgespräch, währenddessen er meine Gegenwart, wie ich fühlte, vergessen hatte. »Ich habe ein Geheimnis entdeckt!« war der Schluß, der sich wohl zwanzigmal wiederholte.
Es hieß am gleichen Nachmittag, der arme hübsche Junge sei auf der Promenade einer Generalin buchstäblich aufgehuckt, also auf den Rücken gesprungen, und sei, arretiert, in Tobsucht verfallen. Unheilbar geistesgestört, steckte er wenige Tage später hinter den Gitterstangen einer Irrenanstalt. Es war das erstemal, daß ich die Zerstörung eines Geistes aus der Nähe beobachten konnte. Ein mir vertrauter, liebenswerter Mensch erlitt plötzlich lebendigen Leibes den geistigen Tod. Daß etwas dergleichen schon in diesem Leben möglich ist, erschwert die Antwort auf die Frage nach geistiger Unsterblichkeit und macht den Glauben daran beinah unmöglich. [...]
Immer tiefer gerieten wir in den Herbst hinein, und am 15. November brannten zehn Lichter um meinen Geburtstagskuchen. In meinem Gedächtnis ist dieser Tag verzeichnet gleichsam als epochaler Augenblick. Höchstens drei- oder viermal hat es einen solchen gegeben im ersten Vierteljahrhundert meines Daseinskampfs. Was war es? Was verlieh dem Zehnlichtertag diese Wichtigkeit? Die Frage ist heut nicht mehr leicht zu beantworten. Gewiß ist, sie lag in meinem Geiste, denn hier fand eine bishin unmögliche Art von Einkehr statt. Es war, als wenn ich jetzt erst zum Denken erweckt würde. Eine Erfahrung, die ich gemacht hatte, war das immer schnellere Entschwinden der Zeit. Ein Tag, der mir früher endlos erschienen war, wurde jetzt, in unendlicher Kette, vom nächsten im Handumdrehen abgelöst. Hatte ich in diesem einen Jahrzehnt meine bodenständige Welt so durch und durch kennengelernt, daß sie mir nichts Neues bieten konnte und etwas wie stumpfe Gleichgültigkeit bei mir herrschend ward, wodurch sich dann der Tag ohne neue Erkenntniswerte schnell und gleichgültig abgehaspelt hätte? Eine gewisse kindlich-selbstverständliche, fast gedankenlose Art der Lebensführung hatte sich in der Tat zum größten Teil ausgelebt. Eine Art Reue kam mich an, als ob ich eine unendliche Reihe vorüberfliehender Tage nicht genügend benützt hätte; beileibe nicht etwa im Sinne Brendels oder sonst eines Schulmeisters. Ich erkannte vielmehr in dem Geschenk eines Tages, in der Darbietung einer solchen Sonnenfrist eine ungeheure Kostbarkeit. Wollte ich ihren Verlust überhaupt nicht wahrhaben, so erst recht nicht ihre Verschleuderung. Andrerseits strebte mein innerer Blick plötzlich in die Zukunft hinaus: nicht das Morgen, das Übermorgen, das Weihnachtsfest oder sonst eines im Jahreslauf war mehr sein Ziel, sondern er verlor sich im Unergründlichen. Anhaltspunkte für kosmische oder transzendente Erkenntnis suchte er diesmal nicht, sondern solche, die Aufschlüsse über mein eigenes wartendes Schicksal bringen konnten. Dieser neue, ausdrucksvolle Blick jedoch wurde zugleich von einer Mauer gehemmt, die er zu meiner Pein nicht durchdringen konnte. Hatte ich dereinst meine Einmaligkeit und damit mein unverbrüchliches Alleinsein erkannt, so sah ich mich heut zum erstenmal einem neblichten Schicksal gegenübergestellt, das ich allein zu tragen hatte. Wie würde es nach der Enthüllung aussehen? Welche Lasten lud es mir auf? [...]
Nie eigentlich gab es in unserm Hause private Gesellschaft. [...]
Einmal aber wurden doch die Gemächer des ersten Stockes für den Empfang einer größeren Abendgesellschaft hergerichtet, und zwar die ganze Zimmerflucht. Alles wurde sorgsam durchwärmt. Im ersten Raume stand das Büfett mit Leckerbissen, Gläsern und geöffneten Weinflaschen, im zweiten und dritten waren Eßtischchen aufgestellt, das vierte Zimmer aber hatte mein Vater zu einem Lesekabinett ausersehen, wo man allerlei Bücher und Zeitschriften durchblättern konnte, aus den sonst wenig benützten Schätzen seines Bücherschranks: Meyers Universum mit seinen schönen Illustrationen, ein dickes Prachtwerk, das, in Kupferstich reproduziert, einen großen Teil der Schätze des Berliner Museums enthielt, ein französisches Werk mit farbigen Lithographien, »Muses et fées«, und Illustrationen zur Ilias, die in einen deutschen Prosatext des Werkes eingefügt waren.
Selbstverständlich, daß ich vor dem Eintritt der Gäste alle diese Werke eifrig durchmusterte. [...]
Dann kam die Ilias an die Reihe. Als ich lange das Buch durchblättert und Prosastücke entziffert hatte, ging mir jäh wie ein helles Licht der Gedanke auf, man müßte diese Prosa in Verse umwandeln. Wenn du diese Aufgabe lösen könntest, dachte ich – der Ruhm eines großen Dichters würde damit gewonnen sein. Ich habe damals weder vom Vorhandensein der Ilias noch der Odyssee noch eines Dichters namens Homer gewußt. Diese Erkenntnis, der Gedanke, die Ilias zu dichten, die, ohne daß ich es wußte, als Dichtung bereits vorhanden war, die damit verknüpfte Hoffnung des Dichterruhms war eben der silberne Strahl, der keine Mauer zu durchdringen brauchte und sich in freier Ferne in einem silbern-lockenden Nebel verlor. Irgendeinen Versuch, die gefaßte Idee zu verwirklichen, habe ich damals nicht unternommen. Keinerlei Überlegung, sondern höchstens ein unbewußtes Wissen meiner knabenhaften Unzulänglichkeit hielt mich davon zurück. [...]
Scheinbare Zufälle sind es meist, durch die folgenschwere Wirkungen ausgelöst werden. Hätte mein Vater nicht wider seine Gepflogenheit eine Gesellschaft gegeben und, um sie anzuregen, den Inhalt seines Bücherschranks ausgelegt, so würde ich weder die Konzeption des großen Homerischen Gedichts haben fassen können, noch hätten sich jene berühmten plastischen Kunstwerke in meiner Vorstellungswelt festgesetzt. An ihnen lernte ich die Wahrheit des Satzes kennen, den Demokritos gesprochen hat, wonach die großen Freuden aus der Betrachtung schöner Werke abzuleiten sind. Hatte die von mir entdeckten eine übermenschliche Kraft geschaffen, so erfüllte sie selber in meinen Augen außer- und übermenschliche Wesenheit. Sie wurden mir in sich und an sich Kultbilder, wie es mir die Kreuzabnahme geworden war und die Raffaelische Madonna im Großen Saal.
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