03 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.30-32) Schule in Breslau,

Dreißigstes Kapitel 
Der Gegensatz zwischen dem Erntetreiben des Gutshofs und dem, was mich zu Hause erwartete, war diesmal besonders groß. Carl brachte zum erstenmal Sommerferien in Salzbrunn zu und hatte davon noch eine Frist von zwei Wochen. Auch er, sowie meine Eltern und Geschwister, ja eigentlich alle, die mich umgaben, gehörten zu denen, die mir ihr Schicksal vorlebten. Ja, gerade er hat während einer langen Lebenszeit in dieser Hinsicht meine Aufmerksamkeit fast am meisten gefesselt. Schon seine Krankheit beanspruchte meine Teilnahme. Nun war er mir nach Breslau vorangegangen und, wie ich erkennen mußte, als ein anderer zurückgekehrt. Der Abstand zwischen ihm und mir war größer geworden. Ich liebte noch immer abgenützte Kleider, mit denen ich mich in Ställen, Kutscherstuben, in Regen und Wind herumtreiben, in Gräben liegen und auf Bäume klettern konnte. Er hatte sich dem großstädtischen Leben angepaßt, trug Kragen und Schlips sowie wohlgebürstete Anzüge: er konnte mit jedem Kurgast wetteifern. [...]
Ich führe den erbärmlichen Zustand meines Gemütes auf die bekannte Spaltung meines Wesens zurück. Ich steckte wohl tiefer als je im Proletariertum, an das ich mich nochmals krampfhaft geklammert hatte. War es, weil ich in ihm den Bereich meiner freien, seligen Kindheit sah, den ich nun bald mit einem mir unbekannten vertauschen sollte? Und betonte ich etwa aus bitterem Trotz meinen Gassen- und Gossenjargon? Ganz gewiß ist etwas daran. Aber ob ich nun auch alles etwa Kommende von mir wies, alles Geleckte, Gedrillte, Gutbürgerliche zu verachten mir den Anschein gab, ward ich doch allbereits auch von ihm angezogen und betrachtete den darin gänzlich aufgenommenen Carl mit Neid. Mich durchwühlte damals, möchte ich glauben, zum ersten Male das echtblütige proletarische Ressentiment, das mich erniedrigte und in quälende Wut gegen das Bürgertum versetzte, von dem es mir schien, es stoße mich aus, indem ich vergaß, daß ich ihm angehörte. [...]
Was eigentlich die Flegeljahre sind, weiß ich nicht, auch nicht, inwieweit ich in Flegeljahre hineingeriet. Jedenfalls war ich in der Zeit, als von den Geschwistern niemand als ich zu Hause war, mehr als früher unkontrolliert und mir selbst überlassen. Die Erinnerung an etwas Unbefriedigend-Zielloses ist mir aus jenen Tagen zurückgeblieben. Es war eine Leere da, die halb bewußt wieder und wieder empfunden wurde. Ich sei nicht schwer zu behandeln gewesen, hat mir meine Mutter gesagt; vielleicht kannte sie nicht meine wahre Natur, nicht meine disharmonischen Zustände, weil sie sich ihr gegenüber nicht auswirkten. Ein Geltungsbedürfnis, verbunden mit lebhafter Phantasie, muß mir damals Streiche gespielt haben. Ich ergab mich der Aufschneiderei. Von seinem Großvater, Weber und gelegentlich Hirschberger Stadtmusikant, war eine brave Tiroler Geige an meinen Vater gekommen. Bei einem winterlichen Einbruch durch die Glastüren des Großen Saals, wo sie im messingbeschlagenen Kasten auf dem Flügel gestanden hatte, war sie, wie schon erzählt, gestohlen worden. Ich machte sie Alfred Linke, Rudolf Beier und andern Bürgersöhnen gegenüber zum Stradivarius, angeregt durch jenes Instrument, das Doktor Oliviero gekauft hatte. [...]

Einunddreißigstes Kapitel 
Bald saß ich mit andern Prüflingen Seite an Seite gequetscht hinter den zerkerbten Pulten einer Schulstube. Wir hatten Feder und Schreibheft mitgebracht. Auf dem Katheder saß ein baumlanger, mißgelaunter Mann, der mit kurzen, bellenden, unverständlichen Lauten Befehle austeilte. Er schien uns weniger als brave Jungens und Kinder deutscher Eltern, sondern mehr – der Mensch ist böse von Jugend auf! – als geborene Verbrecher zu betrachten. Wir begriffen noch kaum, was geschehen sollte, als er nach dem Kommando »Aufschreiben!« bereits eine Menge Aufgaben wie aus einem Schnellfeuergeschütz über uns Dummköpfe geschleudert hatte. Die meisten hatten nicht folgen können. Man half sich, indem man sich gegenseitig um Auskunft bat. Plötzlich bekam der lange Mensch einen Wutanfall. Oh, dachte ich, wer mag wohl der arme Junge sein, dem wahrscheinlich jetzt der Kopf abgerissen wird? Indem ich aber nach dem armen Opfer Ausschau hielt, wurde ich selbst am Kragen gepackt, aus der Bank gerissen und an die Wand geschleudert, wo ich zum erstenmal in meinem Leben, und zwar ohne eine Ahnung zu haben warum, vor allen diesen fremden Jungens am Pranger stand. So litt ich nicht nur aus diesem Grunde, sondern weil ich zur Untätigkeit verurteilt war, während die andern für ihre Aufnahme fieberhaft arbeiteten.   In einem von Eltern und Schülern dicht gefüllten Raum wurde ich nach Schluß des Examens aufgerufen und von Schuldirektor Klettke mit den allgemein hörbaren Worten »Du bist noch ein sehr, sehr schwacher Sextaner!« in die Realschule aufgenommen. Ich schämte mich dieser öffentlichen Rüge, die ja, wo sie gerechtfertigt war, einen unverschuldeten Zustand betroffen hätte, aber zugleich triumphierte ich, weil ich dem Vater eben doch das »Angenommen« melden konnte. [...]
Carl und ich bewohnten ein gemeinsames Zimmer in einer Schülerpension der Kleinen Feldstraße. Sie lag im dritten Stock eines verwahrlosten Mietshauses. In einigen Tagen wurde es klar: aus Dielenritzen, Tapetenlöchern krochen, rannten, sprangen Flöhe, Schwaben und Wanzen hervor. Von zerquetschtem Ungeziefer und eigenem Blut sprenkelte sich mein Bettlaken. Schwaben und Wanzen schwammen im Waschwasser. Ich begreife noch heute nicht, wie der ehemalige Oberamtmann, der die Pension unterhielt, mit seinen gebildeten, klugen Töchtern zusehen konnte, wie sich diese Schülerunterkunft in eine Brutanstalt für jede Art Ungeziefer verwandelte. Etwa dreißig Schüler, vom Sextaner bis zum Primaner, waren in den Zimmern der Pension zusammengepfercht, manche der kleinen, niedrigen Räume mit fünf Betten bestellt, so daß Carls und meine klägliche Unterkunft geradezu eine große Begünstigung darstellte. Ein zweisitziges Schreibpult am Fenster und zwei uns gehörende eiserne Bettstellen waren neben einem Waschständer ihre Ausstattung. Das Dasein hier, wie das ganze Breslauer Dasein überhaupt um jene Zeit, war für Leib und Seele gleich ungesund: Pensionslärm, Hader der Schüler nach dem Aufwachen, bei hygienisch unmöglichen Zuständen und dem Ungeziefer, verdorbener Luft, Ausdünstungen zusammengedrängter Körper. Hiernach der Weg mit dem Bücherpack durch die lärmige Stadt in die lärmige Schule, wo man unter Spannungen aller Art fünf Stunden meist sitzend und angstschwitzend zubrachte; der Heimweg wiederum unter der Bücherlast. Zwei Stunden für Mittagessen und Schularbeiten: Lärm, Gespräche, Neckereien, Prügeleien, allerlei Schabernack. Abermals Schulweg, lärmige Schule; Heimweg, Abendessen und bei der blakenden Petroleumlampe unter Wanzen und Schwaben Schularbeiten. Noch ist zu bedenken, daß Breslau im Sommer ein tropisches, im Winter ein sibirisches Klima hat. Was Wunder, wenn ich im Schlaf nunmehr die einzige Wohltat des Lebens sah und die ärgste Marter im Aufwachen! Ich hatte zunächst keinen Sinn für das Leben mehr, weil die Bedingung meiner Wesensentfaltung und damit mein Wesen selbst mir genommen war. Ich fühlte mich sinnlos und willenlos in einem so oder so hin und her bewegten Strome von Menschen treibend, von Wirbel zu Wirbel fortgerissen. Mir sausten die Ohren, schmerzte der Kopf, und ich wußte in meiner Bestürzung nicht, wo das hinauswollte. Mein eigenwilliges, glückliches Naturell, das sich im großen ganzen anspruchslos in Licht und Luft unter freiem Himmel entfaltet und bewahrt hatte, würde man damals vergeblich in mir gesucht haben. Nicht einmal ich selber wußte noch etwas davon. Womit ich zu ringen hatte, ununterbrochen zu ringen hatte, war das mir überall unentsprechend Häßliche, das sich sintflutartig an- und aufdrängende exaltierte Menschentum unter den Zöglingen und den von Affekt zu Affekt fortgerissenen Männern, denen alle Macht über uns gegeben war. Früher konnte ich mich meiner Mutter und meinen Freunden mitteilen, stundenlang war mir vergönnt, mit mir allein zu sein. Ich hatte wohl eine Sorge hie und da, behob sie und durfte mich wieder frei fühlen. Hier aber kamen zehn Bissen Sorge auf einen Bissen Brot, und das war wohl keine erziehliche Tatsache.
Am ärgsten fiel ins Gewicht, daß es weder eine leibliche noch eine geistige Ruhe gab. Die freien Stunden füllte die Befriedigung der unumgänglichen Notdurft des Körpers aus, Schularbeiten und Schulwege, und was davon übrigblieb, entbehrte bei meiner seelischen Gebrochenheit des Aufschwungs durchaus.
Die Eltern glaubten das Rechte zu tun, wenn sie uns beide zusammen und mich gleichsam in die Hut meines älteren Bruders taten. Carl saß bereits in der Tertia. Er war herzensgut, er war brüderlich, übrigens aber ein Nervenbündel, das unter denselben erregenden und ständig aufpeitschenden Umständen wie ich selber litt.
Er hatte es sicherlich schwer mit mir, der ich es ganz gewiß nicht leicht mit ihm hatte.  [...]
        
Zweiunddreißigstes Kapitel
Die Besuche, die mein Vater der Hauptstadt zuweilen abstattete, gingen durch den Glücksrausch, den sie jeweilen bei mir erzeugten, über den Wert solcher Muße- und Freistunden weit hinaus. Er pflegte sich niemals anzumelden. Wir stießen ganz einfach, Carl und ich, nach Schluß der Schule auf ihn am Schulportal. Dann stiegen wir meist gemeinsam in eine der klapprigen Breslauer Droschken, und nachdem wir die Bücher in der Feldstraße abgeladen hatten, landeten wir in einer Weinstube. Es traf wiederum zu, was ich schon gelegentlich der Warmbrunner und Teplitzer Reise an meinem Vater gerühmt habe, nämlich, daß er mit keinem Wort von der Schule sprach, uns ausfragte, rügte oder anspornte. Es war ein völlig erlöstes, heiter beglücktes familiäres Zusammensein, bei dem sich der Vater, der uns in der Speisekarte frei wählen ließ, an unserer Genußfreude weidete. Selige Inseln auf den stygischen Wassern meines Breslauer Zwangslebens waren die Ferien.
Wie der Frierende, der die Wärme, der Übermüdete, der die Ruhe, der im lichtlosen Raume Existierende, der das Licht, der Verschmachtende, der das Wasser sucht, strebte ich jeden Augenblick darauf zu. Ich, dessen schwächste Seite das Rechnen war, hörte nicht auf, Wochen, Tage, Stunden, Sekunden nachzuzählen, die mich vom Beginn der Ferien trennten, und durch Abstreichen mir zu tröstlichem Bewußtsein zu bringen, um wieviel geringer die Zeitspanne bis dahin geworden war. Der Ariadnefaden leitete den berühmten Helden Theseus glücklich aus dem Labyrinth. Nun, ich war keineswegs ein Held, aber das Labyrinth, zu dem ich verdammt war, eine Tatsache. Und dieses mein Drängen aus der Unterwelt dem oberen Lichte der Ferien zu hatte mit dem Segen eines selbstleuchtenden Ariadnefadens Ähnlichkeit, der also auch mir von den Mächten gewährt wurde.
Ich ließ ihn nicht aus den Augen, wo immer ich war. Er war mein sicherer Trost in den Wechselfällen verschiedener Grade von Dunkelheit. Legte ich mich des Abends in mein von Ungeziefer wimmelndes Bett, so gab der Gedanke mir Trost, daß ich beim morgendlichen Erwachen dem Besuch in der Heimat um acht Stunden näher gekommen sei. Jede zurückgelegte Schulstunde wurde im gleichen Sinne betrachtet und erfüllte mich mit Genugtuung. Ich versuche nicht, die Mannigfaltigkeit der Arten und Weisen zu erschöpfen, unter denen ich mir immer wieder aus der Vergänglichkeit ein und denselben Trost zu verschaffen wußte.
Sollte ich aber eines Tages erwachen in der ewigen Seligkeit, so kann das Glück nicht größer sein als am ersten Ferienmorgen im Elternhause. Noch im Halbschlaf, wenn der Frühchoral der Kurkapelle gedämpft zu mir drang, faltete ich – warum soll ich es leugnen? – unter Freudentränen die Hände.
Es gibt Weise, die leugnen, je eigentlich Glück empfunden zu haben, ja die meisten erklären, nicht einmal zu wissen, was es sei. Ich, der Unweise, weiß, was es ist, und habe es oft beseligt empfunden.

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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