02 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.27-29)

Siebenundzwanzigstes Kapitel
Im Februar erlebte ich einen Faschingsball. Im Maskengewimmel bewegte sich jemand unter einem riesigen schwarzen Dreimaster. Diese ins Gigantische gesteigerte Kopfbedeckung war eigentlich ein Tintenfaß, in dem eine Gänsefeder steckte. Das monströse Gebilde zog meine Augen vor allem an und erregte in mir unendliches Staunen. Und mein Staunen steigerte sich, als ich einige Tage später dieses Pappdeckel-Tintenfaß in einem Zimmer der Krone entdeckte und erfuhr, daß beim Balle der Kopf meines Vaters darunter gesteckt hatte.   Das Vorspiel des Balles innerhalb der Familie zeigte meine Schwester Johanna zugleich als Hauptakteurin und als Unschuldslamm. Es ist insofern merkwürdig, als es wieder Gegensätze und Unstimmigkeiten im Wesen meiner Eltern bloßlegte. Meine Mutter frönte der Tradition, wonach man eine heiratsfähige Tochter ausführte. Diese Gepflogenheit aber, die meine Mutter als schöne Pflicht auffaßte, widerte meinen Vater an. Bei der Besprechung zwischen Vater und Mutter, ob man Johanna auf den Ball bringen solle oder nicht, hörte ich meinen Vater sagen: »Tue, was du willst, ich gehe nicht mit; ich müßte mich schämen in Grund und Boden, wenn ich meine Tochter wie ein Pferd auf dem Viehmarkt ausbieten sollte.« Tante Elisabeth wühlte aus andern Gründen, nämlich aus Eifersucht, gegen den Ball. Das alternde Mädchen war ziemlich üppig und vollblütig, die Faschingsbelustigung zog sie wie die allersüßeste Lockung der Hölle an, aber sie hätte den Ballbesuch weder vor ihrer Schwester Auguste noch vor ihren pietistischen Freunden verantworten können. Sie fing ihren Feldzug gegen den drohenden Mummenschanz mit Einwänden gegen die zu erwartende gemischte Gesellschaft, gegen die Unsittlichkeit der Maskenfreiheit und ähnliches an, bemäkelte dann die Kostüme, an denen Mutter und Tochter stichelten, und wandte sich gegen die Tanzsünde. Trotzdem sie im Endziel aber mit meinem Vater übereinstimmte, zog sie meistens vor zu verschwinden, sobald er in die Nähe kam. [...]

Um die Osterzeit etwa wurde für mich mein ältester Bruder Georg geboren. Allerlei kleine Begegnungen und Neckereien der vorhergehenden Jahre hatten mir ihn nicht eigentlich gegenwärtig und lebendig gemacht. Das geschah nun, da er als Oberprimaner in die Ferien kam. Mir sind von da zwei Seiten seines Wesens erinnerlich: die eine war gleichsam ein letztes, knabenhaftes, körperliches Austoben, während die andere in einer sich reif und erwachsen gebenden Art bestand und einer damit verknüpften Neigung zu Diskussionen, die ja übrigens in der Familie lag. Und wiederum waren es religiöse Fragen, die er hauptsächlich zur Sprache brachte, was ebenso mit der Familientradition zusammenhing. [...]
Ich hatte den Eindruck, daß mein ältester Bruder mir ein besonderes Interesse zuwandte. Vielleicht war es ihm überraschend, zu erkennen, welch seltsames Früchtchen in mir herangewachsen war, von dem er so gut wie nichts wußte. Er hatte wohl anderes zu tun gehabt in den kurzen Ferienzeiten der Vergangenheit, als sich mit einem kleinen Bruder zu beschäftigen, der übrigens selbst keinen Anschluß suchte und überall eigene Wege ging. Nun aber, da Georg selber die männliche Reife erlangt hatte und ihm der für sein Alter noch kindliche Bruder ferner gerückt und fremder geworden war, schien es ihm einen Reiz zu gewähren, ihn womöglich allseitig zu ergründen. Oder hatte er vielleicht von meinem Vater den heimlichen Auftrag dazu? Es war nicht leicht, mich vertraulich zu machen, solange das wohlerzogene Bürgerkind dem Proletarierjungen von der Straße den Platz geräumt hatte. Denn dieser hatte in sich die Abneigung seiner Klasse gegen die höhere, ihre Verstecktheit, ihr Mißtrauen und eine Scheu, man könne in die ihm liebgewordene Sphäre individueller Freiheit eingreifen. Der für seine zehn Jahre noch überaus zarte und kindliche Knabe, der ich gewesen sein muß, hat wohl dem erwachsenen Bruder mehr als einmal Entsetzen erregt, wenn er ihn, vertraulich gemacht, in gewisse Abgründe weniger seiner Gassen- als seiner Gossenerfahrung blicken ließ. Um mich nicht kopfscheu zu machen, stellte er sich bei meinen Eröffnungen harmlos amüsiert. In Wirklichkeit, wie er mir später sagte, sind ihm die Haare zu Berge gestiegen. Üble und schmutzige Handlungen gab es nicht zu beichten oder sonst mitzuteilen. Dagegen hatten sich um so mehr häßliche Reimereien wandernder Straßenbarden meinem Gedächtnis eingeprägt. Sie sind von einer so ausgesucht Rabelaisschen und auch zweideutigen Art, daß ich nicht daran denken kann, sie mitzuteilen. Ich hatte sie trotz aller Roheit und Gemeinheit wie etwas ganz Selbstverständliches hingenommen, allerdings auch mit einer im Grunde unbeteiligten Sachlichkeit. Nicht ohne deutliches Unbehagen spürte ich damals, daß ich nicht mehr allenthalben so unbeachtet und ungehemmt dahinleben konnte wie bisher. Überraschende Fragen und Mahnungen meiner Mutter, eine strengere Festlegung dessen, was ich außer dem Hause tun durfte, durch den Vater und schließlich sowohl Rügen als Unterrichtsversuche meiner Schwester Johanna belästigten mich. Besonders an meiner Schwester habe ich die Empörung über den neuen Zustand immer wieder bis zur Raserei ausgelassen. [...]
Mit dem Auftreten des Primaners Georg fing die Erörterung allgemeiner Fragen an, in die sich mein Vater, als ob ihn danach gehungert hätte, gern verwickelte. Sie enthoben ihn einer Isolierung, wie mir scheint, zu der er sich selbst für Jahrzehnte verurteilt hatte. Sein Wesen während dieser Zeit war wie das gegen jedermann: Schweigsamkeit, ja Unnahbarkeit. Seine Äußerungen gingen nirgend über das im sozialen Verkehr unbedingt Erforderliche hinaus; selbst meine Mutter ist vergebens immer wieder gegen die Burgmauern seiner Verschlossenheit Sturm gelaufen. Nun aber, Georg gegenüber, und somit auch Carl und mir gegenüber, trat er offen aus sich heraus. Es gab in unserer Familie »Auftritte«. Mein und besonders Carls Temperament konnte ohne dergleichen Höhepunkte nicht auskommen. Schwester Johanna reizte uns durch geheuchelte Kälte. Sie verarbeitete ihre Auftritte innerlich. Beispiele, welche das Temperament meiner Mutter und meines Vaters durch heftige Auftritte bestätigten, sind in diesen Blättern schon angeführt. Spätere Vorfälle werden beweisen, daß mein Bruder Georg in dieser Beziehung vielleicht am stärksten belastet war und gelegentlich von einem maßlosen, höchst gefährlichen Jähzorn übermannt wurde. Um jene Ostern trug sich dieser tragikomische Auftritt zu: Das neugebackene Denken Georgs hatte für sich die Frage entschieden, ob Jesus von Nazareth ein Mensch oder ein Gott gewesen sei. Georg hatte behauptet, er sei zwar der edelste und reinste der Menschen, die je gelebt hätten, aber doch nur ein Mensch. Wäre Jesus ein Gott gewesen und hätte er sich als eingeborener einziger Sohn Gottes gefühlt, so wäre sein Opfer kein Opfer gewesen. Wie solle auch ein Mensch den Tod erleiden, der selber von sich wisse, daß er ein Gott und daß er unsterblich sei. Und so war denn das A und O der Darlegung meines Bruders Georg am Familientisch, der auch Carl beiwohnte, daß Jesus ein Mensch und nicht Gottes Sohn wäre. Niemand versah sich des Eindrucks, den diese Eröffnung auf den damals wohl dreizehnjährigen Bruder Carl machte. Er sprang vom Stuhl, er weinte fast vor Entrüstung und Wut. Aus seinem Munde sprudelten einige Minuten lang die heftigsten Vorwürfe: »Du wirst es büßen! Du wirst es zu büßen haben!« schrie er seinen älteren Bruder an. Was er sage, sei Blasphemie, sei Gotteslästerung, sei verbrecherischer Unglaube. Die Mutter, der Vater waren verdutzt. Dem Vertreter aufgeklärter Ideen blieb die Sprache weg. Schwester Johanna war verzückt wie bei allem, was Carl in den Augenblicken seiner idealistischen Aufschwünge äußerte. Dieser aber schloß, sich in weinender Heftigkeit überschlagend, indem er vor Georg aufstampfte, in einer Wiederholung, die nicht seine Überzeugung, sondern sein heiligstes Wissen verriet: »Ich sage dir, Jesus ist Gottes Sohn!« [...]
Carl wurde allseitig besänftigt und durch die übliche Unwahrhaftigkeit beruhigt, es sei nicht so gemeint. Was mich betraf, so existierte die Frage damals für mich noch nicht. Ich wußte von ihr sowie auch davon, daß es ein protestantisches und ein katholisches Glaubensbekenntnis gab, aber ich nahm alle diese Tatsachen als das und nichts anderes hin. Alles, was mit Kirche und Religion zusammenhing, ließ mich gleichgültig,  [...]
Es scheint mir, daß nach dem Abzug Georgs Johanna mit der Aufsicht über mich in Schuldingen betraut worden ist. Das war eine undankbare Aufgabe, der sie außerdem nicht gewachsen war. Nicht nur hat sie hier auf lange hinaus meine Neigung verscherzt, sondern sie hatte auch allerlei üble Eigenschaften meiner Natur kennenzulernen, mit denen ich mich zur Wehr setzte. [...]
Ich schwanke nicht, mir für diese Zeit alle häßlichen Eigenschaften der werdenden Flegeljahre zuzuschreiben. In dem Bestreben, mich aus der autoritativen Umklammerung meiner zähen Schwester frei zu machen, war mir jedes Mittel willkommen. Manchmal muß ich ein Unhold gewesen sein, was niemand, der mich von ungefähr erblickte, meinem sanften und zarten Wesen zutraute. Ich warf Bücher und Tintenfaß an die Wand, sprang vom Stuhl und lief davon, gleich nachdem meine Schwester mich durch ein Gemisch von Drohungen und Überredungen zur Erledigung meiner Schularbeiten willig gemacht hatte. »Was willst du mich lehren«, schrie ich ihr ins Gesicht, »du bist dümmer als ich!« Mehr als einmal bedrohte ich sie, ging gegen sie vor und drängte die Lehrerin aus dem Zimmer. Es war mein Dasein, das ich gut fand, mit dem ich so lange zufrieden gewesen und das ich im Grunde bis an mein Lebensende beizubehalten wünschte, das ich mit dem Mut der Verzweiflung verteidigte. Es war die Wut gegen den Zaum, die Kandare, das Kumt, die Zugstricke und den Wagen, die mich zu einem um sich beißenden, bäumenden, ausschlagenden jungen Pferde machte. Es waren mir noch zwei Jahre bestimmt, bis sich die völlige Zähmung durchsetzen konnte. 

Achtundzwanzigstes Kapitel 
Wie vieles wird uns vorgelebt, wie viele Schicksale verfolgen wir, wie viele Belehrungen erfahren wir dadurch unbewußt. Das eigene Schicksal findet zunächst am wenigsten Beachtung bei uns selbst. Es einigermaßen genau zu sehen ist daher nur in späteren, reifen Jahren möglich. Die Schicksale andrer aber sind es, die uns von früh an belehren, bereichern und bilden. [...]
Polizeiverwalter Keßler, der mit meinem Vater in guten Beziehungen stand, hatte seine Frau durch den Tod verloren und bald zum zweiten Male geheiratet. Seine Tochter aus erster Ehe, Eveline, die im Alter Johannas war, litt schwer unter ihm und der Stiefmutter. Es schien, daß die amtliche Brutalität des Polizeiverwalters sich vollständig hinter die Auffassung seiner zweiten Frau stellte, wonach die Tochter aus erster Ehe verpflichtet war, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und darüber hinaus für die Stiefgeschwister aus zweiter Ehe zu arbeiten. Wie ein Sklavenvogt, hart und gnadenlos, war Keßler hinter Eveline her, die sich mit seinem Wissen eine Erholung nicht gönnen durfte. Ohne sein und der Stiefmutter Wissen kam sie zu uns und weinte sich aus.
Der Fall enthüllte mir damals eine der düstersten Seiten der Menschennatur. Das schöne, liebenswerte, vielleicht ein wenig einfältige Mädchen war ganz hilfreiche Güte, Fügsamkeit und Schmiegsamkeit, was aber nur jene Folge hatte, daß man sie ohne jede Erkenntlichkeit gnadenlos überbürdete. Einmal wurde mein Vater deswegen bei Keßler vorstellig, was eine lange Verfeindung ergab. Ein andermal wäre der harte Mann, der vor Züchtigungen der erwachsenen Tochter nicht zurückschreckte, beinahe in ein gerichtliches Nachspiel verwickelt worden, als Eveline einen Selbstmordversuch gemacht hatte. Ich habe später auf einen besonderen Fall zurückzukommen, der seinen Sohn aus zweiter Ehe, Albrecht Keßler, betraf. Fünfundfünfzig Jahre nach dieser Zeit sah ich Eveline überraschenderweise in Berlin, nachdem sie fast ebensolange meinem Gesichtskreis und meinem Gedächtnis entschwunden war. Der Schriftsteller Julius Bab schrieb mir, daß eine Weißnähterin bei ihm arbeite, die eine genaue Kenntnis meiner Person und meiner Familie aus Jugendtagen her behaupte. Es war erschütternd für mich, als Eveline, verwitwete Lippe, geborene Keßler, mir als Nähterin gegenübertrat und mit jedem Wort auf rührende und ehrenvollste Weise all der Stunden gedachte, die meines Vaters, meiner Mutter, meiner Schwester Johanna sie liebevoll umhegender Trost ihr gewährt hatte. In dieser bezaubernden, beinah jenseit-heiteren Frau, die einen Lebenskampf ohnegleichen mit einem schweigenden Heroismus durchgekämpft hatte, war ein Spiegel vorhanden, der den humanen Geist unserer Familie fast zu meiner Beschämung aufbewahrt hatte. [...]
Ich spielte gern mit den Nixdorfkindern, soweit mein antibürgerlicher Betätigungsdrang es zuließ. Plötzlich schied der kleine, freundliche Max Nixdorf, Nixdorfmaxel genannt, aus dem Kreis der Gespielen für immer aus. Man hatte den Knaben eine Zeitlang vermißt, und alles war nach ihm auf der Suche. Auch wir, meine Rotte Korah von Dorfschlingeln und ich, beteiligten uns daran, indem wir natürlich die Sache zu einem Spiel machten und mit Pfadfindertricks und dergleichen verbanden. Man fand den Vermißten nicht fern dem Hause im ortsbekannten, wohlkultivierten Nixdorfschen Gemüsegarten, wo er irgend etwas auf dem Grund einer Regentonne hatte fischen wollen, sich dabei zu weit über ihren Rand gebeugt, das Übergewicht bekommen hatte und so kläglich ertrunken war. Wie vieles wird uns vorgelebt, wie viele Schicksale verfolgen wir, sagte ich zu Anfang des Kapitels, und ich füge hinzu: wie viele Schicksale überleben wir! Ich verfolgte noch immer alles in den näher und ferner gelegenen konzentrischen Kreisen meines Wirkungs- und Gesichtsfeldes mit großer Aufmerksamkeit. Noch immer reihte sich in den Akten, die ich unwillkürlich über jede menschliche Einzelerscheinung oder Familie führte, Zug an Zug, Beobachtung an Beobachtung, wodurch sich der immanente Besitz an Erfahrungen fortwährend bereicherte. Um jene Zeit begann bereits eine Verletzlichkeit mich zu quälen wegen der herablassenden Geringschätzung, die man im allgemeinen einem Knaben von zehn Jahren entgegenbringt. Zehn Jahre Lebens und das darin Errungene an Erfahrungen und Kenntnissen sind durchaus keine Kleinigkeit. Ich darf mir auch keineswegs schmeicheln, einen erheblichen Teil davon mit meinem bisherigen Bemühen erfaßt zu haben. Der Besitz des Gewonnenen belastete mich indes noch nicht. Es war, als wäre ich frei davon und hätte ihn irgendwo aufgehoben. Mein Leben im großen ganzen sowie im besonderen setzte sich gewohnheitsmäßig fort. [...]

Es war bukolische Schönheit des Griechentums, die mich zum erstenmal in der Geschichte Jesu, vor dem Beginn seines Leidens, anwehte. Die Hirtengestalt des Heilands – »Ich bin ein guter Hirte« – hatte in all ihrer sanften Schönheit Wohnung genommen in mir. Ich hatte vielfach Umgang mit ihr, obgleich ich, so oder so wie jeder Knabe allfältig mißverstanden, weder Eltern, Geschwistern noch sonst irgend jemand davon redete. Aber was hätte die Entscheidung der Frage, ob dieser mein treuer Kinderfreund und älterer Bruder einen Gott oder einen Menschen zum Vater, ja überhaupt einen Vater hatte, meiner Liebe und meinem tiefen Vertrauen zu ihm noch hinzusetzen sollen? War mein Verhältnis zu Jesu nun doch vielleicht Religion, dann gehörte es in den tiefgeheimen, esoterischen Teil derselben. Eine Verbindung mit dem Aberglauben, von dem ich sprach, hatte sich – sage ich: glücklicherweise? – noch nicht angebahnt. [...]

Neunundzwanzigstes Kapitel 
Bevor die ernste Stunde erschien, in der Carl uns verlassen sollte, um in Breslau die Realschule zu beziehen, ereignete sich ein Vorfall, der für die Nächstbeteiligten ein niemals aufgeklärtes Mysterium geblieben ist. Darüber sind mein Vater, meine Mutter, Tante Auguste und Tante Elisabeth, ohne die Wahrheit zu erfahren, hingestorben. Irgendwie kam es einmal in diesem Spätherbst zu einer Landpartie, die in unsrer Kutsche und einem Mietswagen unternommen wurde. Nach stundenlanger Fahrt kamen wir am Ziel, einem entlegenen Dorfe, an, in dessen Kretscham wir einkehrten. Außer meiner Mutter und meinem Vater waren Tante Auguste und Tante Elisabeth sowie Onkel Gustav und Tante Julie von der Partie. Das Ganze gewann an heiterer Lebhaftigkeit, da man Johanna, Carl und mich sowie den kleinen Georg Schubert mitgenommen hatte. Während die Alten beim Kaffee saßen, hatten wir Jungen in Gärten, Hof und Ställen des bäurischen Anwesens herumgetollt, wobei auch Schwester Johanna wie öfter ihr steifes Pensionswesen fallen ließ. Plötzlich, im Stalle hinter den Pferden, bückte sie sich und nahm einen Gegenstand von der Erde, den sie unterm Stroh entdeckt hatte. Wir andern scharten uns um sie und mußten nun mit Erstaunen und Jubel feststellen, daß sie nichts weniger als einen goldenen Ring gefunden hatte. Er wurde im Triumph dem sich lebhaft unterhaltenden Verwandtenkreise vorgelegt. [...]
Ich brachte diese Episode mit der Übersiedlung Carls nach Breslau in Zusammenhang, und zwar nicht allein wegen der zeitlichen Nähe, sondern weil Carl daraus nicht wegzudenken ist. Inwiefern dies der Fall war, hat mir mein Bruder etwa in seinem sechzigsten Lebensjahre gestanden. Er hatte sich nämlich spielerischer Weise den Ring im Dachrödenshof angeeignet, was auf ihm lastete und ihn veranlaßte, den Ring im Stall wegzuwerfen und meine Schwester ihn finden zu lassen. [...]

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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