Einundzwanzigstes Kapitel
Meine Mutter hatte um jene Zeit, nach dem Tode ihres Vaters, wohl allerlei zu verwinden, was den Dachrödenshof betraf. Das kleine Anwesen und sein Geist hatten aufgehört, der Mittelpunkt Ober-Salzbrunns zu sein. An ihrem Teil spürte das auch meine Mutter. Wer wurde der neue Brunneninspektor? Diese Frage ward viel erörtert. Öfter als sonst erschien in Salzbrunn der Fürst. Auch die Fürstin kam in diesem Sommer mehrere Male mit ihrem Viererzug von dem nahen Fürstenstein. Niemals begleitete sie der Gatte, sie hatte meist nur eine Hofdame neben sich. Es war jedesmal ein Ereignis für den Badeort. Schon die Erscheinung des Juckergespanns, dieser vier braunen, sich gehorsam zierlich tragenden Blutpferde mit dem nickenden Federschmuck über der Stirn, die leichte niedrige Halbchaise, durch Gummireifen lautlos gemacht, mit den Glanzlederschmutzflügeln und der graudamastenen Polsterung, war überaus eindrucksvoll, am meisten jedoch die hohe Frau. [...]
Meine Mutter hatte um jene Zeit, nach dem Tode ihres Vaters, wohl allerlei zu verwinden, was den Dachrödenshof betraf. Das kleine Anwesen und sein Geist hatten aufgehört, der Mittelpunkt Ober-Salzbrunns zu sein. An ihrem Teil spürte das auch meine Mutter. Wer wurde der neue Brunneninspektor? Diese Frage ward viel erörtert. Öfter als sonst erschien in Salzbrunn der Fürst. Auch die Fürstin kam in diesem Sommer mehrere Male mit ihrem Viererzug von dem nahen Fürstenstein. Niemals begleitete sie der Gatte, sie hatte meist nur eine Hofdame neben sich. Es war jedesmal ein Ereignis für den Badeort. Schon die Erscheinung des Juckergespanns, dieser vier braunen, sich gehorsam zierlich tragenden Blutpferde mit dem nickenden Federschmuck über der Stirn, die leichte niedrige Halbchaise, durch Gummireifen lautlos gemacht, mit den Glanzlederschmutzflügeln und der graudamastenen Polsterung, war überaus eindrucksvoll, am meisten jedoch die hohe Frau. [...]
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Der Gasthof Zur Sonne, dem Kurhausportal schräg gegenüber, wurde geführt von einem ehemaligen Schullehrer, der die Tochter des Pastors Booß an der evangelischen Kirche zu Nieder-Salzbrunn geheiratet hatte. Dieser Pastor Booß war ein älterer, kluger Mann und sehr wohlhabend. »Hörn Sie nur, hörn Sie nur!« war seine immer wiederkehrende, unvermeidliche Redensart. [...]
Und plötzlich vernahm man zu allgemeinem Erstaunen und Befremden etwas wie einen wütenden Wortwechsel. Man erkannte dann, daß er einseitig war, daß nämlich Madame Enke ein hohlwangiges Bergarbeiterweib aufs schrecklichste öffentlich abkanzelte: man hatte ihm, hieß es, im vorigen Jahr Kinderkleider und dergleichen einbeschert, die sie nicht verwendet, sondern verkauft habe. »Eigentlich gehören Sie gar nicht hierher, Sie verdienen gar nicht, aufs neue beschenkt zu werden. Aber merken Sie sich: es ist heute das letztemal, falls Sie sich wiederum solcher Begünstigung unwürdig zeigen!« Es war wohl der äußerste Tiefstand, auf den die gemütischen Eigenschaften der Madame Enke je gesunken waren. Dieses Erlebnis, im hohen Grade roh, entrüstend und anstößig, ist mir als ein Paradigma solcher Veranstaltungen, wie sie nicht sein sollen, bis heute nachgegangen. Madame Enke hatte auf meiner Bühne ausgespielt. [...]
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Die Familie feierte in diesem Jahr ein sehr anspruchsloses Weihnachtsfest, das mir allerdings eine Dreiviertelgeige als Geschenk brachte. Ich hatte mir eingeredet, es schlummre in mir vielleicht ein Musiker. Allein der Grund, weshalb ich mir eine Geige gewünscht hatte, war nicht der. Durch zwei Umstände ist er wahrscheinlich gelegt worden. Meinem Vater war eine Geige gestohlen worden, die er von seinem Großvater überkommen hatte, einem Weber und Dorfmusikus, der als solcher auch im Kirchendienst der Stadt Hirschberg mitwirkte. Die Geige in ihrem Kasten hatte im Großen Saale der Krone gestanden, Einbrecher hatten zur Winterzeit die Scheiben der großen Glastüren eingedrückt und die Geige vielleicht nur deshalb geraubt, weil der glänzende Messingbeschlag des Kastens sie anlockte. Es mag ein gutes, altes Tiroler Instrument gewesen sein, beileibe kein Stradivarius, aber die Pietät, die mein Vater dafür besaß, ferner die Phantasie von uns Kindern und schließlich die unbegrenzten Möglichkeiten, die bei alten Geigen gegeben sind, machten sie am Ende dazu.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Die Familie feierte in diesem Jahr ein sehr anspruchsloses Weihnachtsfest, das mir allerdings eine Dreiviertelgeige als Geschenk brachte. Ich hatte mir eingeredet, es schlummre in mir vielleicht ein Musiker. Allein der Grund, weshalb ich mir eine Geige gewünscht hatte, war nicht der. Durch zwei Umstände ist er wahrscheinlich gelegt worden. Meinem Vater war eine Geige gestohlen worden, die er von seinem Großvater überkommen hatte, einem Weber und Dorfmusikus, der als solcher auch im Kirchendienst der Stadt Hirschberg mitwirkte. Die Geige in ihrem Kasten hatte im Großen Saale der Krone gestanden, Einbrecher hatten zur Winterzeit die Scheiben der großen Glastüren eingedrückt und die Geige vielleicht nur deshalb geraubt, weil der glänzende Messingbeschlag des Kastens sie anlockte. Es mag ein gutes, altes Tiroler Instrument gewesen sein, beileibe kein Stradivarius, aber die Pietät, die mein Vater dafür besaß, ferner die Phantasie von uns Kindern und schließlich die unbegrenzten Möglichkeiten, die bei alten Geigen gegeben sind, machten sie am Ende dazu.
Diese Geige lag mir im Sinn und desgleichen der musikalische Urgroßvater. Und überdies lebte in Salzbrunn Doktor Oliviero, ein vielbeschäftigter praktischer Arzt, der ausgebildeter Geiger war und seine berufsfreien Stunden der Geigenkunst widmete. Während des Kursaalwinters entstand das phantastische Gerücht, daß er wegen einer Geige in Unterhandlungen stehe, die fünf-, sechs- oder achttausend Taler kosten solle. Es war ein begründetes Gerücht, die Geige gelangte in seine Hände.
Irgendwie hatte sich im Anschluß an diese Umstände eine fanatische Geigensehnsucht in mir festgesetzt. Es kam wohl auch Eitelkeit dazu, Eindrücke der Gepflogenheiten des eleganten Kapellmeisters von der Kurkapelle. Wenn diese, wie öfters, Straußsche Walzer spielte, nahm er die Geige selbst in die Hand, um die Spieler zu höherem Schwunge fortzureißen.
So zog mein Vater denn Doktor Oliviero zu Rat, als mein Wunsch immer brennender wurde. Man möge mir, sagte der Doktor, ruhig willfahren, man bekomme ja schon für einige Taler ein für den Anfang genügendes Instrument, und was solle ein Versuch, geigen zu lernen, dem Knaben schaden? Und schließlich bot Oliviero sich an, mich, selbstverständlich ohne Entgelt, zu unterweisen.
Worauf denn auch wirklich der Unterricht nach Neujahr begann. [...]
Ich weiß nicht, wo zuerst: in Deutschland waren die Schwarzen Pocken, war die Schwarze Pest ausgebrochen und raffte, durch ärztliche Kunst nicht aufzuhalten, aber und aber tausende Menschen hinweg. Endlich fiel auch in Salzbrunn der erste Schlag. Man hörte am ersten Tage von einem, von zwei, von drei Fällen im Niederdorf, die schon am zweiten, mit zehn anderen, tödlich endeten, während am dritten Tage die Zahl der Toten auf zwanzig, am vierten auf dreißig, vierzig stieg, Opfer, von denen uns die meisten bekannt waren. Man schloß die Schulen, und wir Kinder durften nur unter Wahrung strengster Vorsichtsmaßregeln aus dem Haus.
War ich nun eigentlich angst- und furchtgequält oder sonst tiefer bewegt, als die unsichtbare Hand immer mehr Leute aus dem Leben riß, fast in jede bekannte Familie griff und sich dem Oberdorf und dem Kursaal bedrohlich annäherte?
Soweit war ich durchaus noch Kind, daß ich die Schließung der Schule als einen Glücksfall begrüßte.
So hafteten auch keineswegs die Warnungen meiner Eltern und des Doktors Straehler vor möglicher Ansteckung: war ich wie immer dem Hause entsprungen, so hatte ich an sie keine Erinnerung. Ich schlug die strengen Gebote, keinen Menschen zu sprechen, noch gar zu berühren, beileibe kein Haus zu betreten, nicht eigentlich in den Wind, sondern dachte immer erst dann an sie, wenn ich dies alles nach alter Gewohnheit getan hatte. Doktor Straehler riet davon ab, mich einzusperren, da ich, an freies Herumtollen doch gewöhnt, durch Stubenarrest am Ende noch ärger gefährdet würde. [...]
Hatte ich die Schließung der Brendel-Schule als den Beginn einer freien Ferienzeit begrüßt, bald sollte ich mich nach ihr zurücksehnen. Denn wieder hatte die Pädagogik meines Vaters eingesetzt. Heiter durchgreifend aber war sie diesmal nicht, sondern auf einfache Weise zwar, aber auch auf überaus strenge durchgreifend. Vater machte mir höchst persönlich am Fenster des Billardzimmers einen Tisch zurecht, gab mir einen von seinen dutzendweise vorrätig gehaltenen neuen Federhaltern, mit einer englischen Stahlfeder frisch versehen, und stellte ein entkorktes sauberes Tintenfläschchen vor mich hin; köstliche weiße Quartbogen wurden von uns beiden zusammengeheftet, ich erhielt Bleistift und Lineal und mußte sie unter seiner Anleitung liniieren.
Von da ab hatte ich nichts zu tun, als die vor mir aufgeschlagene »Weltgeschichte für das deutsche Volk« von Friedrich Christoph Schlosser abzuschreiben. »Auf diese Weise«, sagte mein Vater, »lernst du lesen, schreiben und Weltgeschichte zu gleicher Zeit.«
So weit wäre dies nun ganz gut gewesen, hätte nicht mein Vater ein tägliches Pensum von mir verlangt, gegen das meine früheren Schulaufgaben einfach nicht in Betracht kamen. Mit zwei bekritzelten und beklecksten Seiten meinesSchulheftes erklärte Brendel seine Zufriedenheit, jetzt mußte ich sitzen wie angenagelt und wurde nicht eher losgelassen, bis das mir unmöglich Scheinende Wahrheit geworden war und ich sechs bis acht Druckseiten sauber kopiert hatte. [...]
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen