12 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.49-51)

Neunundvierzigstes Kapitel 
Ich hatte einen Blick in das Reich der ewigen Schönheit getan, hatte, wie der indische Weise, nicht nur irdische, sondern auch die himmlische Musik gehört, aber ich fiel trotzdem in die schleppenden, stockenden Düsternisse meines muffigen Alltags zurück. Mechanisch hielt ich eine Richtung ein, mechanisch ließ ich ihr Ziel gelten. Wohl dachte ich über manches nach, war aber doch weit entfernt davon, meinen Willen, mein Denken und meine Phantasie dem Aufbau meines eigenen Lebens unabhängig zu widmen. Ich hatte von vornherein, wie ich glaubte, dazu kein Recht. [...]
Die Überlastung meiner Seele mit Träumen nahm mir schließlich besonders im Dunkeln das sichere Unterscheidungsvermögen zwischen eingebildeten Dingen und der Wirklichkeit. Ich glaubte an Gespenstergeschichten, an den Teufel in allerlei Gestalt, an Geister, die den Kopf unterm Arm tragen. An die Prophezeiungen eines Schäfers Thomas glaubte ich, an die nahen Schrecken der Apokalypse und, damit verbunden, den Weltuntergang. 
Wanderprediger, innere Missionare Zinzendorfscher Observanz tauchten auf, die mit mir leichtes Spiel hatten. Sie machten uns allen die Hölle heiß. Die Schriften, Wunder und Gebetsheilungen einer Schweizerin, einer gewissen Dorothea Trudel in Männedorf am Zürichsee, wurden viel diskutiert. Sie heilte Krankheiten des Leibes sowie vor allem der Seele. Ihren Beistand zu brauchen war ich nahe daran.
Heut habe ich den Eindruck, daß damals der religiöse Wahnsinn an meine Tür klopfte. Den somatischen Vorgängen meines Reifens zur Vivipotenz ohne Rat und Beistand ausgeliefert, näherte sich mein Nervensystem einem Zusammenbruch. Ich hatte periodische Anfälle. Es stellte sich, wo ich auch war, ein kleiner, dunkler Punkt vor meinem rechten Auge ein. Ich konnte dann, wenn ich im Felde war, nichts weiter tun, als so schnell wie möglich heimzueilen.  Inzwischen hatte sich auch vor dem linken Auge der dunkle Fleck eingestellt. Beide lösten sich in Wolken auf, die mir nur hie und da einen flüchtigen Blick, um mich zu orientieren, ins Freie gestatteten. Manchmal war die Erblindung eine völlige, bevor ich das Gutshaus erreicht hatte. Ich setzte mich dann gewöhnlich und wartete, bis ich Schritte hörte und jemand auf meinen Anruf zu mir kam und mich heimleitete. 
Ich machte dann im Zimmer völlige Dunkelheit oder bat das Hausmädchen, es zu tun, legte mich zu Bett und hatte einen wütenden Kopfschmerz zu bestehen, der mir den Kopf zu zerreißen drohte. Es folgte dann immer ein tiefer Schlaf, aus dem ich sehend und freien Hauptes erwachte.   

Zu meinem Glück setzte ich durch, daß ich Pfingsten bei meinen Eltern verbringen durfte. Nicht Heimweh und Sehnsucht, sie wiederzusehen, war diesmal der alleinige Grund, sondern ich wurde von einer Seelenangst heimgetrieben, sie könnten, ohne sich vorher bekehrt zu haben, vom Weltuntergang überfallen werden. Ich hielt diesen wahren Grund meiner Reise geheim, weil ich auch jetzt noch den Zustand meines Gemütes den Verwandten nicht aufdeckte. Ich hatte also, und wies sie mir zu, die heilige Mission, die Meinigen vor der Verdammnis zu retten.
Als ich auf dem Bahnhof in Striegau die schwere Dampfmaschine mit ihrem Wagenzuge brausend herankommen sah, wurde mir meine Mission bereits zweifelhaft.  [...]
Vor Sorgau war Freiburg die letzte Station, der Ort, an dem ich mit Geisler in den Fürstensteiner Grund abgebogen war. Diesmal saß ich im Zug und fuhr mit ihm eine der kurvenreichsten Strecken, deren Heimatnähe auf der Heimfahrt von Breslau mich immer überglücklich gemacht hatte. Es gab ein Geräusch, das mir wie Musik erschien, als wenn bei den Kehren durch die Räder lange Späne von den eisernen Gleisen geschält würden. Dies übte auch diesmal eine bezaubernde Wirkung aus, bis nach einem hohen Durchstich der Zug in den Bahnhof Sorgau hineinrollte.
 Carl war zu Hause; ich hatte an ihn seit Monaten nicht gedacht. Er hatte Alfred Ploetz mitgebracht. Die Eltern machten vergnügte Gesichter. Der Vorfeiertagsbetrieb war im Gang. Man hörte das Gold im Kasten klingen. Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen: wer dachte noch an Weltuntergang?
In einer Sekunde hatte ein Frühlingssturm aus blauem Himmel allen Lederoser Druck, Muff, Qualm, alles himmlisch-irdische Brunstfieber und was an Ängsten und Nöten damit verbunden war, in alle Winde davongejagt.
Die Betten von Alfred Ploetz und Carl waren in einer Bodenkammer des Bahnhofs aufgeschlagen. Man hatte von hier aus eine Weite unter sich, einen Blick über Berg und Tal. Die beiden Freunde waren Naturforscher, ihr Schlafraum war zugleich ihr Laboratorium. Eine Fremdheit dem Freunde gegenüber konnte von Anfang an nicht aufkommen. Der knochige Pommer sprach mit mir, als wären wir, seit wir uns zuletzt gesehen, keine Stunde getrennt gewesen. Er zeigte mir Käfer und Schmetterlinge auf einer Korkplatte aufgespießt und das Netz, mit dem er sie jüngst gefangen hatte. Er las mir ein Privatissimum. Man betäubte das Insekt mit Äther, bevor man es aufspießte. Den Staub der Flügel unverletzt zu erhalten, mußte man äußerst vorsichtig sein. Carl betreute ein kleines Herbarium. Frisch gesammelte Pflanzenbündel lagen um eine grüne Botanisiertrommel. Das sah alles so gesund, frohgelaunt und zuversichtlich aus: es war Spiel, es war Jagd, es schmeckte nach prächtigen Wiesen und Sonnenschein, und man fühlte, wie sehr die beiden sich wohlfühlten. Ich wurde sofort als der Dritte im Bunde eingereiht. Diese Dachkammer, dieses Laboratorium, wir drei jungen Menschen im Glanz der Pfingsttage umschlossen das Höchste, was sich an Jugend und Werdeglück verwirklichen kann. Wir sprachen laut. Wollüstig wie der Schwimmer im lauen See kosteten wir unser Leben aus und bewegten uns lachend und unser Behagen nicht verbergend in seinen Fluten. Mir selber war dies kaum so bewußt.
Alles an diesen jungen Männern war ungeduldiger Mut, gleichsam von edlen Pferden, die darauf warteten, daß die Schranken zur Rennbahn geöffnet würden. Und alles an ihnen war Siegessicherheit. Es gab keine menschliche Autorität und ebensowenig eine Institution, vor der sie sich geduckt oder die Segel gestrichen hätten. Zu einem Staunen darüber kam ich nicht, denn ich wurde von diesem Sturm und Drang sogleich ohne allen Widerstand in derselben Richtung fortgerissen. So gab ich zunächst den Schäfer Thomas preis und entfesselte mit seinen Weltuntergangsprophezeiungen dröhnende Lachsalven. Ich selber lachte am lautesten mit. Ich sprach von den inneren Missionaren und der Höllenfurcht, die sie den Leuten einjagten, und es wurde gesagt, man solle sie ausstopfen, einmotten und als Monstra in einem Museum aufheben.
Nein, hier wehte kein pietistischer Wind! Und derselbe Carl, der einstmals wutweinend aufgestampft und dabei geschworen hatte: »Jesus Christus ist Gottes Sohn!«, wurde jetzt nicht müde, Stellen aus Ludwig Büchners »Kraft und Stoff« und aus Schriften anderer Materialisten und Atheisten vorzutragen. [...]
Seltsam, wie diese Bahnhofsatmosphäre, das Wiedersehen mit Eltern, Bruder und Freund mich im Handumdrehen an Körper und Geist gesund machte. [...]
Vom Bahnhof Sorgau hatte man nicht weit bis in den Fürstensteiner Grund und die an seinem Ende gelegene Neue Schweizerei. Der erste flache Weg durch die Felder gestaltet sich immer genußreicher, bis man durch liebliche Tälchen die Felsenschlucht, den wunderbarsten Naturpark, betritt.
Früh um fünf Uhr eines Tages erhoben wir uns, um mit Vater, von ihm dazu eingeladen, die Wanderung dorthin anzutreten. [...]
Was hatte doch – ich mußte darüber staunen – die Natur für mich wieder ein so anderes Gesicht! Nicht nur, daß ich aus mystischer Neigung zum Dunkel den Tag in Lederose nicht gern hatte, ich hatte sogar die Sonne dort wie einen grausamen Fronvogt betrachten gelernt. Ich wandte mich ab, wenn sie im Osten auftauchte und durch eine bestimmte offene Durchfahrt mit grellem Licht in den Gutshof brach. Des Sonntags – es mochte der schönste Tag im Sommer sein – steckte ich nicht einmal die Nase freiwillig aus dem Fenster heraus und ließ sogar die Rouleaus herunter. Nun hatte der Sommer wieder sein Festliches. Das Grün der Wiesen und Erlen begleiteten Bäche; die mächtigen Baumgruppen, die sausenden Flüge der Schwalben, der Vogeljubel, das Himmelsblau und die frische, stählerne Morgenluft waren eine einzige Glückseligkeit. [...]
Den Rückweg zeichnete ein unvergessenes Gespräch mit dem Vater aus. Er kam auf geschlechtliche Dinge zu sprechen. Wenn ein junger Mensch in die Jahre der Geschlechtsreife träte, müsse er doppelt auf sich achtgeben. Seine Beziehung zum Weibe erhalte dadurch ein anderes Gesicht. Die allgemeine Erfahrung lehre, daß ein gesunder junger Mann auf die Dauer ohne den körperlichen Verkehr mit dem andern Geschlecht nicht auskomme. Es sei besser, damit zu rechnen, als umgekehrt, da auf die sichere Wirkung von Tugendlehren kein Verlaß bestünde. Man könne nicht einmal sagen, ob im Hinblick auf eine gesunde körperliche Entwicklung Enthaltsamkeit zu empfehlen sei. »Du hast einen Fall in nächster Nähe«, sagte mein Vater, »der immerhin lehrreich ist. Warum sollte ich davon gegen dich schweigen? Onkel Schubert in seiner Reinheit, seiner echten Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit hat sich bis ins vierzigste Jahr jedes geschlechtlichen Umgangs enthalten und sich nach dem Urteil der Ärzte einen dauernden Schaden zugefügt. Als er die Schwester deiner Mutter heiratete, zeigte es sich, daß sein Sexualempfinden verkümmert war. Es mußten allerhand Kuren gebraucht werden, bevor dein verstorbener Vetter Georg ins Leben treten konnte. Das Glück und Unglück dieser Ehe ist damit gekennzeichnet. Du wirst, es kann nicht ausbleiben, eines Tages das getan haben, was die meisten, wenn sie dein Alter überschritten haben, eben tun. Bevor du dich aber zu einem solchen Entschluß hinreißen läßt, versichere dich nach Möglichkeit, daß du einen gesunden Menschen vor dir hast, denn ...« Und nun trat er in die Beschreibung jener beiden Krankheiten ein, die man als Geißel der Menschheit bezeichnet. Er sagte: »Zeigt sich einmal bei dir, was Gott verhüte, ein noch so leichtes, so und so geartetes Symptom, dann verfalle nicht etwa in den Fehler, es aus falscher Scham zu verheimlichen! Das ist der Grund, weshalb viele der gleichen Fälle sich schließlich als unheilbar erweisen. Also nichts verschleppen, verstehst du mich, sondern du wirst dich beim leisesten Verdacht mir oder, koste es, was es wolle, sofort dem bedeutendsten Spezialarzt, den du finden kannst, anvertrauen.« Der so sprach, war nicht mehr nur mein Vater, er war mein Freund. Er betonte das auch, indem er sagte: »Du bist in ein Alter getreten, in dem ich dir nichts mehr befehlen oder verbieten, sondern nur noch als Freund nahe sein und dir aus dem Schatz meiner älteren Erfahrungen Ratschläge geben kann.«

Fünfzigstes Kapitel
 Nach Lederose zurückgekehrt, war ich ein anderer Mensch. Ich lebte auf einer höheren Ebene, zu der mich der Verkehr mit Carl und Ploetz, das Gespräch mit meinem Vater erhoben hatten. Besonders dieses, durch das mir von dem auf Erden höchst verehrten Menschen die Lebensrechte eines Erwachsenen zugebilligt worden waren, wirkte auf meine innere, meine äußere Haltung ein. Als ich freilich in der gewohnten Weise mir selbst überlassen dahinlebte, mich die alte Tretmühle Woche um Woche mehr und mehr abgestumpft hatte, erwies sich die neue Ebene nicht immer als tragfähig. Wie auf einer zu dünnen Eisdecke brach ich wieder und wieder ein und mußte mir zu Gemüte führen, daß die Gefahr des Ertrinkens noch keineswegs überwunden war. [...]
Insbesondere war es der Landmann, dessen Wesensart und Lebensform mich lebhaft beschäftigten. Sein Vertrauen gewinnen war schwer, ja etwas im guten aus ihm herauszubringen, ein Ding der Unmöglichkeit. Die Frauen besaßen mehr Intelligenz, und ihre Freude am Reden bedeutete eine natürliche Aufgeschlossenheit. Was ich auf diese Weise erfuhr, überraschte mich und erweckte in mir einen Drang, auf die meiner Meinung nach verblendete Denkungsart der Dorfbewohner einzuwirken, die gegen so ziemlich alles und alles außer dem engen Kreise bäuerlicher Tätigkeit ablehnend war. Die Verstrickung in eine Art Demagogie erregte und belebte mich. Ich, der ich vor allem der Belehrung bedürftig war, verfiel dem Zwang, belehren zu wollen. Aber docendo discimus – ich habe auch durch Lehren gelernt.   Ich brachte diesmal nach Lederose die Freude am neuen Deutschen Reich, übernommen von meinem Vater, in das ärmliche Gutsleben mit. Das Echo im besten Fall war Gleichgültigkeit. Wenn ich mit übernommenem Enthusiasmus von Bismarck, Moltke und anderen sprach, war entweder ein tückisches Schweigen die Antwort, oder Moltke wurde ein Feigling genannt, der sich immer wohlweislich hinterm Berge gehalten und andere ins höllische Feuer geschickt habe. Da war ein lebhafter, etwas stotternder Gutsarbeiter, der drei oder vier bildschöne Töchter hatte. Er besaß ein kleines Anwesen und stand in Arbeit auf unserem Hofe. Er sprach überstürzt, wenn er das Wort ergriff, und ebenso düster verbittert, wie seine schweigende Miene meist düster verbittert war. Er hatte im Kriege von siebzig eine Enttäuschung gehabt, aber sie war es nicht, die seiner Feindschaft gegen alles und alles, den Kaiser, das Reich, die Regierung, das Parlament, zugrunde lag. Dazu war diese Feindschaft in dieser Gegend zu allgemein. [...]
Übrigens verbreitete sich die Lästerchronik über alles, was mit Regierung und Behörde, mit Kirche und Gerichtsbarkeit zusammenhing. Hier sei alles auf die Bedrückung und Beraubung des gemeinen Mannes angelegt. Ähnliche Urteile hörte man unter den Weibern beim Rübenhacken hin und her gehen. Die Arbeiter riefen sie einander beim Düngerladen oder Garbenreichen zu. Die Siegesfreude, die deutsche Einheit, durch die Reichsfahne dargestellt, der Taumel des Erfolges, kurz alles; was die Lehrer in den Schulen, das Bürgertum und einen Teil des Adels begeisterte, hatte hier nur stille Wut und dumpf entschlossenen Haß ausgelöst. Diese Volksseele ließ sich durch nichts erweichen. [...]
Von der erbitterten Feindschaft aller dieser Menschen gegen die andere Schicht, der auch der gütige Onkel Schubert und ich angehörten, hatte ich nichts gewußt. Da Knechte, Mägde, Tagelöhner und Tagelöhnerfrauen ihre Arbeit nicht freiwillig, sondern durch die Not gezwungen mit knirschendem Ingrimm verrichteten, lebten sie ja in Sklaverei. Die Sklaverei war nicht abgeschafft, ich wollte das aber im Grunde nicht Wort haben. Unzählige Fragen, die in mir aufstiegen und die ich zunächst nicht beantworten konnte, vermehrten meine innere Unruhe. [...]
Mein Bemühen, die verhaßte obere Schicht als notwendig, ja verdienstlich hinzustellen, fruchtete nichts. Diese sturen und harten Köpfe wollten im Grunde keine Wissenschaft, weder die niederen noch die höheren Schulen, ja überhaupt die Städte nicht gelten lassen. Da wohnten für sie nur unnütze Fresser und Faulenzer. Bismarck, Moltke und der Kaiser, hieß es, täten für die armen Leute nichts. Den Eltern würden die Kinder, das heißt die Arbeitskräfte, genommen, und diese müßten sich drei Jahre lang um nichts und wieder nichts beim Militär kujonieren lassen und abrackern. Der Reichstag bestehe aus einem Haufen von Betrügern und Nichtstuern. In dieser Art, die Welt zu betrachten, die vaterländischen Dinge zu beurteilen, herrschte völlige Einigkeit, und niemand war davon abzubringen. Man hatte mir »Menschenschinder!« nachgerufen. Ich mußte erkennen, daß in den Augen dieses Volkstums jeder Gutsbesitzer, jeder Bürger einer war, ohne daß eine solche Verblendung auf demagogische Umtriebe zurückzuführen gewesen wäre. Auch für Agitatoren, die sie ebenfalls für Betrüger erklärt hätten, waren sie völlig unzugänglich. In dem Bestreben, sie in versöhnlichem Sinne zu beeinflussen, in der natürlichen Neigung für sie und in dem Wunsch, ihr Fassungsvermögen zu ergründen, sprach ich eines Tages einer Arbeitskolonne, die ich im Feld zu beaufsichtigen hatte – es waren ältere Männer, Weiber und Kinder darin vertreten –, den »Taucher« von Schiller vor. Hier endlich kam die Stunde zu Ehren, in der mir mein Vater vor Jahren diese Ballade eingeprägt hatte. Ich konnte mich überzeugen, daß sie von Anfang bis zu Ende mit Spannung gehört und verstanden wurde. Ihr Inhalt lief noch tagelang während der Arbeit von Mund zu Mund. Der Edelknecht war der Liebling aller geworden. Zur Beschimpfung des Königs, der den Becher zum zweitenmal ins Meer geworfen hatte, mußte der herrschende Dialekt die allerkräftigsten Ausdrücke hergeben. Es war schön, zu sehen, wie die Augen dieses oder jenes lebhaften alten Weibchens funkelten, und kluge Bemerkungen aller Art aufspringen zu hören, die bewiesen, welche Macht die unsterbliche Dichtung auf diese gesunden Gemüter ausübte. Ich weiß seitdem, daß der Durst nach dem Schönen in den meisten unverbildeten Menschen verborgen ist. Beiläufig sei gesagt, daß unter diesen Leuten, die täglich elf Stunden mit gekrümmten Rücken Rüben hackten oder eine andere Arbeit taten, die Weiber fünfzig Pfennige, die Männer eine Mark Tagelohn erhielten, einen Lohn, bei dem selbst die christliche Seele meines allgütigen Onkels Schubert nichts zu erinnern fand.

Einundfünfzigstes Kapitel
Die Sorgauer Pfingsttage brachten mir unter anderem Fördersamen auch die Erneuerung meiner ornithologischen Neigungen. Eines Tages fand ich auf der Post ein Paket, dessen Inhalt mich in einen kleinen Glückstaumel versetzte. Es enthielt ein mit schönen Illustrationen versehenes Buch, dessen Titel »Deutschlands Tierleben von Professor Gustav Jäger« lautete. Bruder Carl hatte es von seinem Taschengeld gekauft und mir zum Präsent gemacht.  [...]
Carl, der mich mit dem Buche erfreuen und fördern wollte, konnte unmöglich wissen, in welchem hohen Maße er es wirklich tat. In meinen Augen war dieses Buch ein Pfand, aus besseren Welten herabgefallen. Ich trieb mit ihm förmliche Abgötterei. Es war mein letzter Gedanke beim Einschlafen und mein erster, wenn ich, wie immer, morgens um drei aus dem Bette sprang. [...]
Ich war ein Sünder, der Sünden beging. Von dieser Meinung konnte mein Gewissen nicht ablassen. Der Wunsch, der Wille, das Streben, ihrer Herr zu werden, erwies sich immer wieder als trügerisch. Das vernichtete mich vor mir selbst und vor Gott. Es ließ mich an mir selbst verzweifeln. Wo ich mich aber davon losmachen wollte, geriet ich nur immer tiefer ins Sündengestrüpp. Warum half mir nicht Gott, wo er doch sah, wie sehr ich litt! Also war er nicht gut, oder war er nur nicht allmächtig? So zweifeln hieß aber wiederum sündigen! Man mußte glauben! Konnte man aber den Glauben nicht finden, so mußte man wiederum Gott darum bitten. Da war wieder die Frage, ob er ihn geben wollte, konnte oder nicht. Warum sollte er ihn nicht geben wollen, da er doch wollte, daß man ihn hat? Und da man doch andererseits wissen soll, der Mensch habe nichts, aber auch gar nichts aus sich selbst, er kann und vermag nichts aus eigener Macht, war es nicht seltsam, wenn selbst die Frömmsten der Frommen gegen die Anfechtungen des Unglaubens täglich zu ringen hatten? Selbst Tante Julie lebte in dieser Beziehung in einem dauernden inneren Kampf. [...]
Warum sage ich diese Worte: »Herr, führe uns nicht in Versuchung!« zu Gott? Wenn er das tut, so kann man nicht anders als meinen, er unternehme zuweilen etwas, was sonst nur des Teufels Sache ist. Und jemand in Versuchung zu führen, von einem selbst abzufallen, der einem aus ehrlichem Herzen treu bleiben will, ist das nicht, menschlich genommen, Bosheit und Tücke? Selbst der Frömmste, der täglich zugegebenermaßen um seinen Glauben an Jesum Christum und also um seine Seligkeit kämpfen muß, lebt also einen Teil seiner Zeit in Gottlosigkeit. Er ist zeitweise Atheist. Gott will es so, er würde sich sonst ihm nicht verbergen. Warum aber, fragt man, will er das? Soll man aber auf ein Wissen von Gott hoffen, wo selbst der Glaube erbeten werden muß und jederzeit hinfällig ist? Sind wir also vielleicht verdammt und suchen uns auf verzweifelte Weise durch Selbstbetrug zu trösten? Ich weiß nicht, gingen solche Gedanken aus meinem Trübsinn hervor oder mein Trübsinn aus solchen Gedanken?  [...]
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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