10 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.36-38) Dichtung, Beerdigung des Vetters Georg

Sechsunddreißigstes Kapitel 
Das schiefe Täntchen Auguste mit ihrer langen Hexennase und ihrem kleinen Rückenverdruß fing damals an, sich für mich stärker zu interessieren. Es wich, wie mir schien, jene Abneigung, die wir früher einer gegen den anderen gespürt hatten, wenn sie auch nicht für mich die gleiche Wärme wie für Carl, geschweige Vetter Georg, aufbringen konnte. Ich wurde durch sie ohne Aufdringlichkeit – denn sie fürchtete meinen Vater – auf das herrnhutische Wesen im Sinne des Grafen Zinzendorf, die aufopfernde Tätigkeit christlicher Missionare unter den Völkern des dunklen Erdteiles und auf die Poesien des Grafen Moritz Strachwitz hingewiesen. [...]
Ich will noch eine Erfahrung berichten, aus der ein Lebensbesitz für mich geworden ist. Das Lächeln auf dem Gesichtchen des kleinen, drei Wochen alten, schlafenden pastörlichen Stammhalters erregte in mir eine unvergängliche, entzückte Betroffenheit. Wie konnte dieses Wesen, das noch ohne alle Erfahrung im Leben war, so glückselig lächeln? Es mußte in Himmeln gelebt haben, deren es sich, jetzt noch ihrer sicher, im Schlaf erinnerte. Wie einen Edelstein lege ich diesen Besitz, ohne mehr darüber zu sagen, in den Behälter meiner Seele zurück. [...]


Eines Tages, mit zwei bis drei Mark in der Tasche, kam mir plötzlich auf dem Großen Ring der Wunsch, irgendein Buch zu besitzen, das nicht Schulbuch war. Ein Appetit oder Hunger nach Süßigkeit führt zur Konditorei, mich führte ein ähnlicher Hunger nach dem Buchladen. Gesegnet sei der junge Mann hinterm Ladentisch, der für mich die Wahl übernahm und die Gedichte Adelbert von Chamissos aus dem Regal herunterholte.
Sogleich vertiefte ich mich hinein und hatte auf einmal einen Freund, dessen Trost nie versagte. Es war die Not, war die geistige Not und Verlassenheit, durch die ich zu Dichtung und Dichtern geführt wurde. Kein anderer Dichter hätte um jene Zeit mir so viel bedeuten können. Das Balladeske, das Gegenständliche, das Goetheverwandte entsprach damals meinem Wesen. 
[...] immer und allezeit gegenwärtig war mir das Gedicht »Schloß Boncourt«, das beginnt:
Ich träum' als Kind mich zurücke 
und schüttle mein greises Haupt; 
wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder, 
die lang ich vergessen geglaubt? 

Hoch ragt aus schatt'gen Gehegen 

ein schimmerndes Schloß hervor; 
ich kenne die Türme, die Zinnen; 
die steinerne Brücke, das Tor ... 
[...]
Zwischen meiner dem Spiel und der Einbildungskraft hingegebenen Kindheit, mit ihrer Vermischung der wirklichen und der Bücherwelt Defoes und Coopers, und diesen Dichtungen bestand ein folgerechter Zusammenhang. Die Enden des gewaltsam zerrissenen goldenen Fadens, der durch mein ganzes Leben gehen sollte, hatten sich wieder zusammengefunden. Ich wußte zunächst nicht, daß es so war. Ich nahm diese Schicksalsgabe hin wie etwas ganz Neues in meinem Leben, das ich vor jedermann zu verbergen für notwendig fand. Es führte mich unterirdisch weiter.   
Die Vorstellungen, mit denen sich vom Elternhause her mein Bewußtsein erfüllte, gewannen einerseits an Dramatik, andrerseits verdüsterten sie sich. Zwischen Sorgau und Salzbrunn krachten jetzt täglich die Sprengschüsse. Feldbahnen mit kleinen Lokomotiven schleppten Sand und Geröll hin und her. Eine Armee von fremden Arbeitern, teils Italienern, machte abends und nachts die Gegend unsicher. Das Gestein aus einem tiefen Durchstich bei Sorgau wurde zu einem Damm verwendet, auf dem der Bahnzug das Mitteldorf überqueren sollte. In Salzbrunn wurde ein Bahnhof gebaut. Der Zug nach Breslau, mit dem ich jeweilig fuhr, ging nun an dem künftigen Bahnhof Sorgau vorbei, der mitten im Feld im Entstehen begriffen war. Aufschüttungen gewaltiger Art ließen eine Plattform für viele Gleise erkennen. Das aus seinen Fundamenten mehr und mehr wachsende Gebäude war ein roter Backsteinbau. [...]

Siebenunddreißigstes Kapitel 
Ich komme nun zu dem größten Ereignis während meiner Realschulzeit, das allerdings wie die meisten, die damals mein geistiges Sein heranbildeten, nicht mit der Schule zusammenhing. Pastor Gauda kam zu mir herein, als ich wieder einmal während der Schulstunden zu Bette lag. Er sagte abrupt: »Dein Vetter Georg ist gestorben.« Dies war mir eine Undenkbarkeit. Es ist erzählt worden, welchen Anteil die ganze Verwandtschaft an diesem Wunderkinde nahm, das als eine ausdrückliche Belohnung für exemplarische Frömmigkeit des Schubertschen Hauses von den Tanten aufgefaßt wurde. »Zieh dich an, pack deine Sachen, in einer Stunde geht dein Zug! Du sollst nach dem Wunsche deiner Eltern dem Begräbnis beiwohnen!« Einen Zweifel gab es nicht mehr. Nun aber, als der staunende Schreck überwunden war, mußte ich mit fernerem, heimlichem Staunen feststellen, daß meine nun folgende Erregung überwiegend freudig war. Mit heiterer und befreiter Seele, wie ein Vogel, der Flugwind unter den Flügeln hat, fuhr ich in meinem Abteil dritter Klasse der Heimat entgegen, in die Landschaft hinein. 
Es ist schwer, die Art der Gefühle, die mich bewegten, auch nur andeutungsweise wiederzugeben. Einerseits war es wieder das Große, Regelwidrige, dem menschlichen Schematismus Spottende, das ich trostreich empfunden habe; andrerseits das Aufspringen aller verschlossenen Quellen des Gefühls, daran ich teilhatte und das ich bei allen Verwandten voraussetzte. Ferner: ich lebte noch, und der kleine Georg war tot. Das Geschenk des Lebens an sich erhielt einen neuen, höheren Wert für mich, und diese Erkenntnis machte meine Schulsorgen geringfügig.
Schließlich, ich durfte heut die Schule im Rücken lassen und genoß in tiefen Zügen das Leben und den Augenblick. [...]
Auf dem Bahnhof Striegau erwartete uns eine mit Ackergäulen bespannte Kutsche. Im langsamen Trabe wurde der endlose Weg durch lange, langweilige Dörfer zurückgelegt. Die Stimmung wurde um so bedrückter, je mehr der Streitberg, der ein Kreuz auf der Spitze trägt, mit seinen Granitbrüchen hinter uns blieb und Rittergut Lohnig sich annäherte.

Es wuchs der Ernst. Und nicht nur meiner Mutter und meinen Tanten, die unter einem steigenden Drucke standen, sondern auch mir wurde es jetzt eine schwere Fahrt. Die Majestät der Trauer, die Majestät des Todes, die harte Unabwendbarkeit des Ereignisses schlugen nun auch mich in ihren düsteren, atembeklemmenden Bann. Bei der Einfahrt in den weiten Gutshof, die mich stets mit selig überschwenglicher Ungeduld erfüllt hatte, konnte ich es mir kaum erklären, wieso sich hier alles in eine wüstenhafte Öde und Leere verwandelt hatte. Denn an und für sich bestand eigentlich keine Veränderung. [...]
Der Gedanke an dieses Begräbnis mit seinem Um und An beanspruchte in der Übergangszeit meiner Jugend von der knabenhaften zur jünglingshaften Daseinsform einen großen Raum. Das ganze Erlebnis mit seinem unerwarteten Eintritt, seiner gleichsam explosiven Gewaltsamkeit hatte bei mir ein jähes Erwachen zur Folge. Ich fing nun an, schon in Lohnig während der Trauertage, mich in dem neuen Gebiet still und befremdet umzusehen und in ihm die ersten Schritte zu tun.
Alles begünstigte mein stilles Forschen und drängte mich gleichsam zu beobachten. Es waren noch ein oder zwei Jungens von ähnlichem Alter da, aber es gelang mir meistens, sie loszuwerden. So den kleinen, harmlosen Metzig-Karl, der ein Sohn von Onkel Gustavs Schwester war. Der Junge hatte Beziehungen zu dem kleinen Georg nicht gehabt, und ich mochte mit ihm nicht über ihn reden. Im übrigen ließ man mich allein. Die vielen Trauergäste, die unablässig meist in eigener Equipage von nahen und fernen Gütern eintrafen, kannten mich meistens nicht, und eigentlich niemand in diesem Gewirre hatte ein Auge für mich.

Wie der Siegellacktropfen auf der Herzgrube eines Scheintoten hatte mich die jähe Schicksalserfahrung zu einer neuen, stärkeren Form des Bewußtseins erweckt. An diesem Bewußtsein ließ ich nun in der aufgewühlten Stille dieser Tage, in der trauervoll belebten Einsamkeit mein ganzes bisheriges Leben und im besonderen den mit dem kleinen Georg verbrachten Teil vorüberziehn. Da war gewiß niemand außer Tante Julie und Onkel Gustav Schubert, der dem Toten eine so eigentümliche Andacht gewidmet hätte.

Achtunddreißigstes Kapitel

Im Tagebuch Leo Tolstois finde ich: »Die wahre Wissenschaft ist die Erforschung des Verhältnisses unseres geistigen Ich, das Sinnesorgane besitzt und sie gebraucht, zu den äußeren Sinneswahrnehmungen oder, was dasselbe ist, zu der Außenwelt.«
Dieses einfache Erinnerungsbuch verdankt seine Entstehung keiner solchen Anmaßung: aber handelt es sich auch um keine Wissenschaft, so doch um ein geistiges Ich, sein Wachstum und seine Entwicklung, soweit sich dies, wenn auch unzulänglich, meinem Bewußtsein darbietet.
Und da es sich eben nur darum handelt, so liegt es mir fern, eine andere Wirklichkeit zu erstreben und darzustellen. Weder Daten noch Dokumente ziehe ich an. Mir genügt und muß genügen der natürliche Fluß, die natürliche Kontinuität meiner Erinnerung.
Man könnte einwerfen, da ich für andere schriebe, hätte ich die Verpflichtung objektiver Zuverlässigkeit. Aber ich setze kaum voraus, daß die objektiven Mitteilungen eines gewöhnlichen Knabenlebens für andere den Wert besitzen können, den die Teilnahme an einer bloßen Selbstbesinnung zum mindesten haben kann. Ich denke und schreibe dies also im wesentlichen für mich selbst, sozusagen aus der Lauge meines Wesens eine Art Seelenkristall ausscheidend. Und wie Lotze im »Mikrokosmos« sagt: »Völlig verständlich ist uns doch nur das volle, bewußte, geistige Leben, das wir in uns selbst erfahren.«
 Mit der Schulkrankheit war es vorbei. Um so mehr litt ich zunächst unter der erstickenden Beengung und Banalisierung des Klassenzimmers. Die alten, fürchterlichen, von Federmessern zerkerbten Pultbänke mit ihren Reihen von Tintenfässern waren wieder da, die meiner ausgesprochenen Tintenscheu noch besondere Qualen verursachten. Das polternde und verrohte Leben der Klasse und das der Schulmaschinerie ging gleichgültig über mein Erlebnis hinweg, und ich würde auch nicht daran gedacht haben, mich jemandem mitzuteilen. Aber irgendwie waren die Wände des stickigen Schulzimmers undicht für mich geworden. Etwas, das sich fortan durch nichts mehr ausschließen ließ, drang herein. Ich hatte die über uns waltenden Mächte in ihrer unberührbaren Furchtbarkeit oder furchtbaren Unberührbarkeit kennengelernt und, seltsam genug, in meiner Begegnung mit ihnen Trost gefunden, Trost und eine vom engen Getriebe menschlicher, allzu menschlicher Dinge befreiende Sicherheit.
Die möglichen Schläge dieser Schicksalsmacht, der ich doch nun einmal fühlend und denkend nahegetreten war, erregten mir nicht die geringste Furcht. Ihren Entscheidungen gegenüber sind mir die des lieben Direktors Klettke, seiner Lehrer und seiner Schüler verhältnismäßig belanglos geworden. Je ungeheurer die Macht, die über uns waltet, je stärker der Mensch, der sich unter sie beugt, und je weniger erniedrigt. [...]
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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