24 Januar 2020

Gottfried Keller: Autobiographisches

Brief an die Mutter

München, den 9. September 1841.
Liebe Mutter!
Ich melde Dir hiermit den Empfang des Geldes sowohl, als Deines werten Briefes, und muß Dir gestehn, daß ich das Paket nur mit Angst eröffnete, weil ich wußte, daß nur durch liebevolle Aufopferung und Entbehrung von Deiner Seite die Sendung dieses Geldes möglich geworden war. Desto unerwarteter und befremdender mußten mich Deine Berichte von Herrn Vogel und Frau Schinz berühren, und wirklich sind solche Aussprüche von Leuten, die sonst mehr Kenntnis besitzen, hart zu verdauen. Daß Hr. Vogel ungern in die Sache einging, sie sogar ablehnte, mag daher kommen, daß Du zu ihm gegangen bist, ohne daß er etwas von mir gesehen hat. Er urteilte halt nur nach Steiger etc. und vermutet wahrscheinlich in mir einen der gewöhnlichen Koloristenlehrjungen, welche derselbe sonst zu halten pflegt. Daß er sich meiner nicht erinnerte, ist merkwürdig, indem er mich doch durch Kaspar Rordorf in seinem letzten Briefe grüßen ließ. Die Gründe und Ansichten des Herrn Vogel, das schwere Auskommen, die nötigen Talente usw. betreffend sind mir ebenso oft schon von Anfang an von allen Leuten vorgeleiert worden und werden jedem jungen Menschen gesagt, daß es eigentlich gar keine Künstler mehr gäbe, wenn jeder darauf horchen wollte. Es ist nur die Frage, welche auch Du mir stellst und welche ich deswegen jetzt frisch wieder reiflich überdenke, ob ich wirklich zum Maler geschaffen sei und die nötigen Talente habe oder nicht. Hier muß ich nun bemerken, daß mir von allen Leuten, Kennern und Nichtkennern, weder in Zürich noch hier gesagt worden ist, ich tauge nichts dazu. Frau Dekan Schinz selbst hat mich nur immer aufgemuntert und gelobt, wenn ich zu ihr kam; und worauf sie nun ihren jetzigen Ausspruch gründet, ist mir nicht recht klar. Wenn man in Zürich nun sagt, ich werde nichts, so kann ich wiederum die Stimme meiner jetzigen Umgebung, die eben nicht aus Mistfinken besteht, auch nicht verachten, und welche mich nur aufmuntert. Wenn ich nun meinen Eifer und die einzige Neigung zur Landschaftsmalerei dazu rechne, welche ich immer gehegt, und daß ich mir gar keinen Beruf denken kann, bei dem ich mich besser finden würde, so denke ich, die Frage ist nicht schwer zu entscheiden. Daß Herr Vogel sagt, er könnte mit seinem Verdienst seine Familie nicht ernähren, benimmt mir eben das Zutrauen an seine anderen Aussagen; denn, wenn er wollte, so konnte er sechs Familien, wie seine, ernähren. Daß er sich nicht nach anderen Leuten zu richten braucht und seine Gemälde selbst zu behalten vermag, ist kein Grund zu seinen Ansichten.
Dem sei nun, wie es will, ich werd in den nächsten Wochen zwei entworfene und leicht gemalte Landschaften heimschicken und dem Ausspruche unterwerfen; Herrn Vogel werde ich natürlich seinem Wunsche gemäß nicht schreiben; wenn Du meinst, er werde einige Augenblicke zum Ansehen der Bilder verwenden, so kannst Du ihn ja dazu noch bitten. Hingegen werde ich einen Brief an Herrn Ulrich mitschicken und ihn bitten, die Sachen anzusehen.
Indessen würde ich mich, selbst in dem Falle, daß man mir Talent nicht abspräche, nicht besinnen, etwas anderes zu ergreifen, wenn sich Gelegenheit zu einer schicklichen Stelle finden würde. Daß ich kein eigentliches Handwerk mehr erlernen könnte, oder etwa in einer Handlung als Postbub einstehen würde, wirst Du selbst begreifen; und es möchte daher schwer sein, irgend einen ordentlichen Platz zu kriegen, wo ich nicht zu lang umsonst schaffen müßte. Hätte ich Vermögen oder Unterstützung, so würde ich vielleicht nicht ungern die Rechte studieren; aber so wird es am besten sein, ich bleibe bei meinem Leisten, und werde in diesem Entschluß durch das Beispiel von tausend andern bestärkt, die nur durch Not und Erfahrungen aller Art auf einen grünen Zweig gekommen sind. Diese Beispiele sind etwa nicht aus alten Zeiten und Geschichten, sondern sie bewähren sich noch täglich. Daß ich einstweilen nicht zu kolorieren vermag, habe ich folgende Gründe: erstens will ich es so lange vermeiden, solange noch irgend ein anderer Ausweg ist; denn es ist doch gewiß besser, wenn man sich durch ein momentanes Opfer in kürzerer Zeit eine gute Existenz verschaffen kann, als durch solche langweilige Hülfsmittel sich Jahre lang durchzuschleppen. Denn während ich koloriere, lerne ich nicht nur nichts, sondern vergesse noch das Gelernte. Zweitens gibt es hier nicht so hübsche Kolorierarbeit, wie in der Schweiz, sondern nur Sachen, die jede Jungfer machen kann, und werden meistens auch nur von Jungfern gemacht. Fischer hat nun genug zu kolorieren, aber er denkt nicht weiter. Er hat auch Spinner und Kündig hieher zitiert, welche auch zu tun haben werden. Allein ich mag nun einmal nicht, denn ich bin zu gewiß, daß ich in weniger Zeit der Entsagung mehr verdienen kann, als diese Schmierhänse. Ich kenne hier zu Dutzenden junge Künstler von drei-, vier- bis fünfundzwanzig Jahren, welche alle im Anfang die gleiche Geschichte und Not hatten, wie ich, und die nun sehr gut stehen. Wir wollen es also einstweilen getrost darauf ankommen lassen; denn, wenn mir etwas anderes bestimmt wäre, so wären gewiß meine Gedanken etwa schon darauf gefallen, und ich habe bis jetzt keine Ursache, an der Vorsehung zu zweifeln.
Der Frau Dekan Schinz wirst Du schon das Nötige für mich sagen zur Danksagung; es ist mir nicht sehr lieb, etwas von Leuten annehmen zu müssen, welche doch glauben, es sei schlecht angewendet. Was meinen neuen Rock betrifft, so war derselbe schon notwendig; denn der andere war nur ein ganz geringer grüner Rock und wurde nun fast ein Jahr lang alle Tage, Sonn- und Werktag, getragen. Jedoch ist er noch gut, nur konnte ich ihn nicht mehr brauchen am Sonntag oder bei sonstigen Anlässen, denn ich gehe mit ordentlichen und gut gekleideten Leuten und kann einmal nicht den Kniffer spielen ... Herr Vogel mag wohl sechs Jahre lang in einem abgeschabten Rock umhergegangen sein. Es war wahrscheinlich unter den damaligen Künstlern so Mode. Hier geht es einmal nicht; denn München ist noch ziemlich kleinstädtisch, wo man auf dergleichen Sachen so gut sieht, wie in Zürich ...
Einstweilen kann ich nur in wenigen Worten für Deine Güte danken; jedoch versteht sich's, daß Du, im Falle Du meinem Plane entsprechen wirst, die vier Louisdor sogleich an dem Gelde, so Du für mich borgst, abziehen wirst, damit Du in Deiner häuslichen Rechnung nicht zu kurz kömmst; denn meine Sache muß getrennt sein von Euren Angelegenheiten, damit ich später alles richtig wieder in Ordnung bringen kann. - Bis dahin muß ich Dich nur wieder bitten, die Sache nicht so schwer aufzunehmen: die Not ist gar nicht so groß, und wenn ich denken muß, daß Du meinetwegen immer in Sorgen seist, so verbittert und verleidet mir dies alle Arbeit. Tausend Grüße an alle.
Dein Sohn.

Tagebuch 1843
»Ein Mann ohne Tagebuch (er habe es nun in den Kopf oder auf Papier geschrieben) ist, was ein Weib ohne Spiegel. Dieses hört auf Weib zu sein, wenn es nicht mehr zu gefallen strebt und seine Anmut vernachlässigt; es wird seiner Bestimmung gegenüber dem Manne untreu. Jener hört auf, ein Mann zu sein, wenn er sich selbst nicht mehr beobachtet und Erholung und Nahrung immer außer sich sucht. Er verliert seine Haltung, seine Festigkeit, seinen Charakter, und wenn er seine geistige Selbständigkeit dahin gibt, so wird er ein Tropf. Diese Selbständigkeit kann aber nur bewahrt werden durch stetes Nachdenken über sich selbst, und geschieht am besten durch ein Tagebuch. Auch gewährt die Unterhaltung desselben die genußvollsten Stunden.« Diese Worte habe ich vor fünf Jahren, im Heumonat 1838, in meinem neunzehnten Jahre, niedergeschrieben, ohne daß ich bis jetzt irgend einmal ein Tagebuch angefangen hätte. Ich denke aber, es geht mir nicht allein so, und ich habe schon oft geahnt und an mir selbst erfahren (ich müßte denn eine tüchtige Abnormität sein), ich habe schon oft bemerkt, sage ich, daß in der Welt sehr viel Schönes, Wahres, sehr gründlich und solid Scheinendes, dem, der es sagt, zur Ehre Gereichendes gesprochen, geschrieben und behauptet wird, ohne daß es dem Autor im mindesten in den Sinn käme, das mit so viel Energie Geäußerte auf sich selbst anzuwenden oder auszuüben. 
So ist es mir nun auch mit meinem Tagebuch gegangen, und ich habe die so lehrreiche Zeit meines ersten Ausfluges in die Welt, die drei Jahre, welche ich in München zubrachte, samt allen Eindrücken, die ich dort empfangen, das heitere, schöne Künstlerleben, die bangen sorgenvollen Tage, die ich erlebt, und sonst noch so vieles, was mein Gemüt lebhaft ergriffen; die Rückkehr und Flucht ins mütterliche Haus: das alles habe ich handelnd und leidend an mir vorbeiziehen lassen, ohne eine Silbe darüber niederzuschreiben. 
Ich habe mir zwar das ganze Bild in seinen Umrissen und mit seinen Lokalfarben ziemlich treu bewahrt, und wenn ich einst aus mir selbst heraustreten und, als ein zweites Ich, mein ursprüngliches eignes Ich in seinem Herzkämmerlein aufstören und betrachten, wenn ich meine Jugendgeschichte schreiben wollte, so würde mir dies, ungeachtet ich bis jetzt nie ein Tagebuch führte, und nur früher, vor bereits sechs Jahren, dann und wann, aber sehr selten, einzelne abgerissene Vorgänge der Außen- und Innenwelt aufzeichnete, dennoch ziemlich gelingen.
Aber wie viele, viele Gedanken und Ideen, wie sie Sonne und Mond uns bringen, gingen mir nicht verloren? Wie viele Erfahrungen und Erlebnisse hatten keinen oder nur wenigen Nutzen für mich, weil ich sie mir nicht genugsam einprägte? 

Wie viele poetische Motive und künstlerische Erscheinungen gingen wie Traumbilder, auf die man sich beim Erwachen nicht mehr besinnen kann, an mir vorüber? Und wie viel reizende und bedeutungsvolle Geschichten, Vorfälle und Anekdoten verweben sich dem sinnigen Menschen in sein tägliches Leben, aus denen er oft die schönsten Geistesblumen ziehen könnte, und die meistens spurlos verloren gehen, wenn er nicht einen gehaltvollen Briefwechsel oder ein Tagebuch führt! 
Der Hauptgrund aber, der mich zur Führung eines solchen trieb, liegt in der Beschäftigung an sich selber, die sie mir verleiht. Das Tagebuch wird mir ein Asyl sein für jene grauen, hoffnungslosen Tage, die mir oft in stumpfem Nichtstun vorübergehen und spurlos in die dämmernde Vergangenheit verschwinden. Es sind dies die Tage, welche man, gehemmt durch äußere, widerliche, oft miserabel kleinliche Umstände, oder durch innere Erschöpftheit, Rat- und Mutlosigkeit dahinbrütet, ohne einen frischen Entschluß zur Arbeit fassen zu können. Ich weiß wohl, es gibt Leute, welche diese Tage nicht kennen; sondern jahraus jahrein, vom Morgen bis Abend, arbeiten können; ich meine hier nicht die Handarbeiter, sondern die Geisteshandlanger, die glücklichen Wesen, welchen materiell kein Augenblick verloren geht, den sie nicht benutzen können, wie man Nadel und Zwirn, Waschwasser u. dgl. benutzt, welche mit der unerträglichsten, selbstzufriedenen Emsigkeit die Werkel- und Schmutztage hindurch fuseln und schlampen und am Sonntage mit fetter Behaglichkeit nichts tun, nichts denken, nichts sehen; sondern ihren Gänsebraten verzehren und mit Weib und Kind hinausschlendern, nicht um Wald und Au zu sehen, vielmehr um Basen und Gevattern anzutreffen, und den feinen, wohl konservierten Sonntagsrock zu lüften; welche nur sprechen: Heute ist Feiertag! und sich dann vor allem Denken so wohl verwahren können, wie man sich vor dem Sonnenscheine schützt, indem man nur in den Schatten tritt. Glücklich sind diese Leute, und ich bin geneigt zu glauben, daß diese Behaglichkeit, verbunden mit einem geregelten, ersprießlichen Fleiße, mit den spätern Jahren auch feurigern und kräftigen Naturen, wenn sie lange genug gelitten und gekämpft haben, zuteil werden könne. Denn jeder Mensch wird am Ende Philister, nur mit dem Unterschiede, daß es der eine innerlich, der andere äußerlich, der dritte aber traurigerweise total wird. 

Ich aber bin noch nicht, noch lange nicht so weit, daß alle meine Entwürfe, oder nur der kleinere Teil derselben, so gediegen, klar und unabänderlich wären, daß nicht Tage, ja Wochen und Monate der Unterbrechung und der Niedergeschlagenheit kämen, wo nichts ans Sonnenlicht dringen will in freudiger Klarheit. Es gibt Zeiten, wo man, geschweige einen warmen Menschen, nicht einmal ein warmes, lebendiges Buch zur Hand hat, an dem man sich bereichern und erquicken könnte. In diesen Zeiten soll das Tagebuch mein Trost sein! Wenn ich einen lieben langen Tag nichts Bleibendes getan habe, so will ich wenigstens dies hineinschreiben, und dann wird das Buch mir entweder einige Gedanken geben, oder einige entlocken, so daß doch etwas, daß doch einige Worte zurückbleiben von der luftigen Blase, der Zeit. Aber nicht bloß in Tagen der Mutlosigkeit – nein! auch in Tagen der festlichen, rauschenden Freude will ich stille Momente verweilen und ausruhen im traulichen Schmollwinkel meines Tagesbuches. Ich will die schönsten Blüten erlebter Freude hineinlegen, wie die Kinder Rosen- und Tulpenblätter in ihre Gebetbücher legen; und wie sie sich dann in späteren Jahren wehmütig erfreuen, wann ihnen so ein verblichnes Blumenblatt in einem alten Buche zufällig wieder in die Hände fällt: so will ich mich in meinen letzten Erdentagen erfreuen an den Bildern entschwundener Freuden. [...]
18.7.1843
Nach der Natur gezeichnet und mich dabei an einem Ameisenbau ergötzt, welcher in meiner Nähe war. Ich warf das ausgerauchte Endchen einer Zigarre hinein. Einige Polizeiinspektoren untersuchten es, machten sich aber spornstreichs wieder davon. Nachher legte ich ein kleines Stückchen von einem Pfannkuchen hin, welchen ich zum Mittagsmahle mitgenommen hatte; sogleich war es mit Ameisen bedeckt, und nun ging das possierlichste Treiben an. Das Stückchen bewegte sich bald fort, hinten und vorn zogen und schoben die Tierlein auf das lustigste. Ich sah ganz deutlich, wie einige im Wege liegende Hindernisse, Reiserchen und dergleichen erst auf die Seite schafften und dann nachher wieder anpackten, während andere solche vorragenden Ecken des fortzuschaffenden Gegenstandes, welche durch die Öffnung nicht hindurchpaßten, abbissen und so wegschleppten. In einer Weile darauf sah ich nichts mehr davon. Nach ungefähr zwei Stunden störte ich den Bau mit einem Rütchen vorsichtig auf, und siehe, das Omelettenfragment war zuunterst, etwa dreiviertel Fuß tief, wohl versorgt, obgleich schon tüchtig angenagt. Jetzt wimmelte aber alles auf, und die erste Sorge war, den Schatz wieder in Sicherheit zu bringen. Erst nachdem sie ihn wieder verborgen hatten, begannen sie die Renovation der Kolonie, welche am Abend beinahe zu Ende war. Das unglückselige Zigarrenendchen aber lag, wie eine verzauberte Prinzessin, immer an der selben Stelle. Die emsige Geschäftigkeit und die anscheinende Freudigkeit der Tierchen über den fremdartigen Fund des Pfannkuchenstücklein erinnerte mich an die Trojaner, als sie das rätselhafte Pferd in Ihrer Stadt führten.

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